Vom 26. Oktober bis 1. November 2021 fand das erste Albert- Camus-Festival statt, das von der „Deutschen Camus-Gesellschaft“ ausgerichtet wurde, die ihren Sitz in Aachen hat. Im Mittelpunkt standen dabei die politischen Schriften des anarchistisch inspirierten französischen Schriftstellers und Philosophen, vor allem aber ihre Bedeutung für heutige Diskurse und Bewegungen. GWR-Autor Lou Marin berichtet für die Graswurzelrevolution von diesem Literaturfestival. (GWR-Red.)
In täglichen Abendveranstaltungen, einem Jugendwettbewerb zur Auseinandersetzung mit Albert Camus und einem gesamten Wochenende mit aufeinanderfolgenden Vorträgen in der Aachener Kultur-Burg Frankenberg wurde im 70. Jahr des Erscheinens seines Hauptwerks „Der Mensch in der Revolte“ ein sehr politischer Camus präsentiert.
Nicht nur Stücke wie „Die Pest“, „Caligula“ und „Die Gerechten“ wurden thematisiert, ob in Filmen, musikalischen Improvisationen oder auch einer Multimedia-Inszenierung, sondern es gelang ein selten anzutreffender generationenübergreifender Dialog zwischen Autor*innen von Camus-Büchern mit einer jungen Generation von Aktivist*innen, die versuchen, Revolte heute in sozialen Bewegungen umzusetzen. Dafür stand etwa die Podiumsdiskussion vom Freitagabend, 29. Oktober 2021, als Lina Gobbelé von „Fridays for Future“, Niklas Schinerl von „Greenpeace“ und der Anti-Braunkohle-Aktivist Florian Özcan, der eben mal von den Aktionen in Lützerath rüberkam, bezeugten, dass Revolte nach Camus für sie bedeutet, der „Gegenwart alles zu geben“ – und die Klimakrise nicht etwa abwartend zu begleiten oder sogar zu vertiefen, wie es die Politik tagtäglich beweist. In Camus’ Sinne fehlten dann auch bei solchen Diskussionen jegliche Parteienvertreter*innen.
„Das freie Wort“ – in der bürgerlichen Presse nicht ganz so frei!
Allerdings befand sich unter den Diskutierenden der Podiumsdiskussion am Samstag, 30. Oktober, unter dem Titel „Der Kampf um das freie Wort“, neben der Forscherin zum Verhältnis der Pressefreiheit in Frankreich und in der BRD, Anna Gvelesiani, und mir als dem Vertreter der Bewegungszeitung „Graswurzelrevolution“ auch ein Redakteur der bürgerlichen „Aachener Zeitung“, die sich zusammen mit den „Aachener Nachrichten“, vom selben Verlag und mit 95 % identischem Inhalt, um das Meinungsmonopol in der Stadt bemüht. Er verstieg sich zur Behauptung, die zuvor vorgestellten Prinzipien zum freien und unabhängigen Journalismus, die Camus 1939 kurz vor der Besetzung Frankreichs durch die Nazis formuliert hatte, würden heute von der Aachener bürgerlichen Presse umgesetzt. Nicht nur von mir, sondern auch aus dem Publikum, zum Teil mit Klimagerechtigkeitsaktivist*innen und Mitgliedern der örtlichen Hambacher-Forst-Solidaritätsgruppe bestückt, kam hier heftiger Widerspruch, denn die Aachener Zeitung ist weithin bekannt dafür, regelmäßig mit ganzseitigen Anzeigen der RWE zu werben. Sie berichtete bisher nicht oder kaum – und dann sehr ablehnend – über die örtlichen Aktivitäten und Mobilisierungen zum Hambacher und Dannenröder Forst oder zu Lützerath, während sie regelmäßig Polizeicommuniqués zu den dortigen direkten Aktionen kommentarlos abdruckt. Als die Redaktion einmal durch Vorsprache von Aktivist*innen dafür kritisiert wurde, hieß es sogar, die Polizei sei schließlich „per Gesetz zur Objektivität verpflichtet“ – man fasst es kaum. So sieht sie also aus, die Pressefreiheit der „Aachener Zeitung“ – und so vieler bürgerlicher Tageszeitungen vor allem in kleineren Städten, die für sich in Anspruch nehmen, „die Mitte der Gesellschaft“ abbilden zu „müssen“. Immerhin konnte solch ein Verständnis in dieser Veranstaltung unter Verweis auf Camus skandalisiert werden. Die bürgerliche Presse orientiert sich an der materiellen Stärke herrschender Gewalt und erinnert damit an Camus’ Kritik reiner Wirksamkeit und Effizienz der Herrschaft, die er in seiner Auseinandersetzung mit dem Philosophen und Schriftsteller Jean-Paul Sartre dessen Verteidigung der Sowjetunion entgegenschleuderte: „dass es keine dritte Lösung gibt und dass wir keinen anderen Ausweg als den Status Quo oder den cäsarischen Sozialismus haben; er [Sartres Mitarbeiter Francis Jeanson in „Temps modernes“, Anm. d. V.] drängt einem den Schluss auf, womit er das Schlimmste an unserer Zeit rechtfertigt, dass die Wahrheit in der Geschichte mit dem Erfolg gleichzusetzen ist. Kurz, nur der Marxismus wird revolutionär sein, weil nur er heute in der revolutionären Bewegung über eine Armee und eine Polizei verfügt.“ (1) Darüber verfügen ja auch der bürgerliche Staat und seine Presse – gerade deshalb hat Camus diese falsche Dichotomie der Herrschaft im Kalten Krieg abgelehnt.
An diese Auseinandersetzung um das Erbe von „Der Mensch in der Revolte“ knüpfte am Sonntag, 31. Oktober, auch mein Vortrag „Der Bruch zwischen Camus und Breton“ an, der Camus’ Revolte-Verständnis mitsamt einer Grenze (limite, mésure) für Gegengewalt als graswurzelrevolutionäres Erbe der Camus-Rezeption seit den Siebzigerjahren im Gegensatz zu einem von Camus so bezeichneten „nihilistischen“ Verständnis der Revolte sah. Eben dieses schlug beim Dichter André Breton und dem von ihm geprägten Surrealismus nicht zufällig um in eine Apologie schlimmster Herrschaftsgewalt, nämlich des Stalinismus in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts. (2)
(1) Albert Camus (1952): „Brief an den Herausgeber der ‚Temps modernes’“, in: Sartre, Jean-Paul: „Krieg im Frieden 2. Reden, Polemiken, Stellungnahmen. 1952-56“, Reinbek 1982, S. 17f.
(2) Dieser Vortrag ist soeben erschienen in dem von Susanne Gramatzki im Wissenschaftsverlag Frank & Timme herausgegebenen Band „Anarchie und Ästhetik“, in dem sich auch ein Beitrag von GWR-Autor Jens Kastner über „Kunst und Anarchismus“ findet. Achtung: Der Band ist leider für unsere Geldbörsen viel zu teuer (48 Euro). Also bitte für die nächstgelegene Uni-Bibliothek bestellen und so ans Lesen kommen; Lou Marin.