fluchtwege

Kafkaeskes europäisches Grenzregime

Unerträgliche Bedingungen für Geflüchtete in Griechenland

| Wasil Schauseil

Foto: Wasil Schauseil

In den letzten Ausgaben hat die Graswurzelrevolution über die Pushbacks an der polnisch-weißrussischen Grenze und die dortige katastrophale Situation der Geflüchteten berichtet. An den südlichen Grenzen der EU sieht es nicht besser aus. Über die erschütternde humanitäre Lage der Geflüchteten in Griechenland, die rassistische Migrationspolitik der Athener Regierung und den Pushback-Mechanismus des EU-Grenzregimes berichtet für die Graswurzelrevolution Wasil Schauseil. (GWR-Red.)

Ein gutes Jahr nachdem der Brand des Lagers Moria auf Lesvos die Aufmerksamkeit auf die katastrophale Situation in den griechisch-europäischen Hotspots lenkte, haben sich die Bedingungen für Geflüchtete und solidarische Arbeit im Land weiter verschärft. Während die brutalen Vorgänge an der polnisch-belarussischen Grenze oder die jüngsten Todesfälle im Ärmelkanal den traurigen Alltag des europäischen Grenzregimes ins mediale Bewusstsein rückten, blieb es um Griechenland relativ ruhig. Dabei müssen wir auch dort beobachten, dass die Politik der Abschreckung, Abschottung und Vernachlässigung mit vollem Engagement der Behörden verfolgt wird.

Schlaglichter auf verschiedene Bereiche und Schauplätze der Grenz- und Asylpolitik in Griechenland verdeutlichen, wie systematisch diese Politik verfolgt wird und wie eng sie mit dem Interesse der europäischen Regierungen verbunden ist, das eigene Grenzregime zu festigen.

Verschärfung des Rechts auf Asyl und „Entlastung der Inseln“

Vor dem Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Athen befindet sich Anwar Nillufary Mitte September in den ersten Tagen seines mittlerweile dritten Hungerstreiks. Nach seiner Ankunft in Griechenland 2014 war er nach Schweden weitergereist und wurde von dort zurück abgeschoben. Ohne Aussicht auf Asyl kämpft er nun seit Jahren für einen Platz im UN-Resettlement-Programm, um der Unsicherheit auf den Straßen Athens zu entkommen.

Derweil erklärt mir Stella Nanou im Büro des UNHCR, dass die humanitäre Krise für Geflüchtete in Griechenland – verglichen mit 2015/16, wie sie betont – vorbei sei und die Agentur daher seit 2017 ihre Programme zunehmend an die griechische Regierung übertrage. Seit dem Machtantritt der rechtskonservativen Regierung von Nea Dimokratia Ende 2019 arbeitet diese daran, ihre Kontrolle über alle Lebensbereiche Geflüchteter zu festigen und über die dafür gedachten internationalen Gelder zu bestimmen.

Zudem führten weitreichende Gesetzesveränderungen zu einer drastischen Verschärfung des Asylrechts, der Ausweitung von „Verwaltungshaft“ für Migrant*innen, der Einschränkung der Kriterien für „Vulnerabilität“ sowie zunehmend restriktiven Bedingungen für Nichtregierungsorganisationen. Die Regierung nutzte auch die Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze im März 2020, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den EU-Türkei-Deal aufkündigte, um das Recht auf Asyl zeitweilig völlig auszusetzen.

Des Weiteren wurde im Juni 2021 die Türkei zum „sicheren Drittland“ für Asylsuchende aus Afghanistan, Somalia, Syrien, Pakistan und Bangladesch erklärt, womit die meisten befürchten müssen, dass bereits ihr Antrag auf Asyl für „unzulässig“ erklärt wird und sie in einem rechtlichen Schwebezustand gefangen bleiben.

Laut den Statistiken des UNHCR sind die Zahlen von neuen Asylsuchenden seit 2019 erheblich gesunken. Ein zentrales Wahlversprechen von Nea Dimokratia gegenüber ihrer Wähler*innenschaft war, die maßlose Überfüllung der Auffanglager in der Ägäis durch die „Entlastung“ der Inseln voranzutreiben und die „Kontrolllosigkeit“ der vorherigen Jahre zu beenden.

In der Tat sind seit Anfang des Jahres tausende Menschen von den Inseln Samos, Lesvos, Kos, Leros und Chios aufs Festland gekommen. Offiziell waren dies vor allem jene mit anerkanntem Asylstatus oder abgelehnte Asylsuchende, deren gesetzliche Bewegungseinschränkung kurzzeitig aufgehoben wurde mit der Aufforderung, das Land innerhalb einer Frist zu verlassen. Inoffiziell versuchten auch viele andere, die Inseln zu verlassen; manche wurden von der Polizei aufgehalten, bei anderen schaute sie weg. Die Kriterien bleiben unklar, wie so oft in der Willkür der griechischen Asylpolitik.

Welcome to Ritsona“

Ein Besuch in Ritsona, dem größten Lager im Großraum Athen, offenbart, dass die „Entlastung der Inseln zwar für viele einen Ausweg aus der dortigen Isolation erlaubte, zugleich aber kein Plan besteht, um Perspektiven für ein selbstbestimmteres Leben auf dem Festland zu schaffen. Außerdem führt die „Entlastung“ der Inseln auch zu einer wachsenden Belastung der Kapazitäten in den Lagern auf dem Festland („open reception facilities“). Ritsona hat seine offizielle Kapazität von 2.950 Menschen erreicht. Im Dezember 2020 war der Großteil der Lager auf dem Festland bereits am Rande ihrer Kapazitäten oder überbelegt.

Bilder der Kinder aus Ritsona – Foto: Wasil Schauseil

Ohne Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel liegt Ritsona weit entfernt vom urbanen Leben zwischen Fabriken und einem Krematorium. Das Lager mit seinen vielen Bäumen, vereinzelten Geschäften und weniger starker Überwachung galt im Vergleich mit anderen Lagern als besser. Allerdings ist die Regierung seit Anfang 2021 landesweit damit beschäftigt, die Lager mit Mauern und Zäunen zu befestigen und strengere Ein- und Ausgangsbeschränkungen durchzusetzen. Vielerorts organisiert die Internationale Organisation für Migration, eine Partnerorganisation der UN, mit EU-Geldern diese Befestigung der Lager.

Pepi Papadimitriou, die für Bildungsangelegenheiten in Ritsona verantwortlich ist, kämpft mit Mitstreiter*innen seit dem ersten Lockdown dafür, dass Kinder und Jugendliche ihren rechtlich zugesicherten Zugang zu öffentlichen Schulen erhalten. „Die Regierung hat kein System zur Integration von Geflüchteten. Sie will nur ihre Abreise. Sie wollen sicher sein, dass sie gehen und nicht hier bleiben“, erklärt sie mir.

Der Bürgermeister der nächsten Stadt Chalkida hatte die Kinder des Lagers über Monate unter dem Vorwand von Covid-19-Schutzmaßnahmen von den Schulen ferngehalten – auch dann, als die Maßnahmen im Sommer 2020 landesweit gelockert wurden. Nach einer erfolgreichen Klage gegen diese offensichtlich rassistische Diskriminierung hat sich die Verwaltung eine neue Hürde ausgedacht: Es kann kein Schulbus aufgetrieben werden, denn die Straßen der Stadt seien für große Busse zu schmal, und ein Kleinbus-Unternehmen ließe sich nicht finden.

Die Kinder und Jugendlichen Ritsonas sind mit dieser Situation nicht alleine: Landesweit sind mehr als 20.000 Kinder vom Bildungssystem ausgeschlossen, und weniger als 15 Prozent der Kinder aus den Lagern konnten Kurse besuchen. Dies ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass die griechische Regierung an der Schaffung von Lebensperspektiven für Geflüchtete kein Interesse hat.

Parwana Amiri, Autorin und „revolutionary refugee“, wie sie sich selbst bezeichnet, bestätigt mir, dass sie und ihre Kamerad*innen im Zeitraum von über eineinhalb Jahren nur einen Monat die Schule besuchen konnten: „Es war der beste Teil für uns, nicht im Lager zu sein. Du kannst nach Chalkida gehen, du kannst wie ein normaler Schüler leben, du kannst etwas Neues lernen.“

Parwana ist 2019 mit ihrer Familie aus Afghanistan zunächst nach Lesvos und dann kurz vor dem Feuer in Moria nach Ritsona gekommen. Parwana berichtet auch von der alltäglichen Gewalt, die sie sowohl in Moria als auch in Ritsona erlebte. Die Bedingungen in den überfüllten Lagern, die allgemeine Angst und Unsicherheit sowie das Fehlen von Perspektiven führten zu Gewalt und Misstrauen zwischen Bewohner*innen.

Vorher dachte ich, dass die Menschen alle vereint sind, aber allmählich begriff ich, dass das nicht wirklich so ist. Also begann ich, Wege zu finden, um die Menschen zusammenzubringen, ihnen Gründe zu geben, warum sie zusammen sein sollten. Langsam, ganz langsam, durch Bildung, durch Aktionen, durch die Weitergabe von Wissen, durch die Einbeziehung in Projekte helfen wir uns dabei, für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten.“

Abschrecken lassen sich die junge Afghanin und ihre Kamerad*innen also nicht. In einem selbstgebauten Raum organisiert sie die gegenseitige Bildung der Mädchen aus den verschiedenen Teilen der Welt, die in Ritsona zusammenkommen. Am Abend meines Besuches in Ritsona begleite ich Parwana nach Athen, wo sie eine Protestkundgebung für die Rechte afghanischer Geflüchteter anführt.

Zentralisierte Kontrolle, Segregation und systematische Vernachlässigung

Wesentliches Element der Migrationspolitik der Regierung ist es, die Bedingungen für Migrant*innen, die es ins Land geschafft haben, so unerträglich wie möglich zu machen. So hat sie die so genannten ESTIA-Programme des UNHCR für die finanzielle Unterstützung und die Unterbringung „vulnerabler“ Asylsuchender außerhalb der Lager an sich gezogen und die Bedingungen ihres Zugangs verschärft. Zum einen wurden posttraumatische Belastungsstörungen als Qualifizierungsmerkmal für „Vulnerabilität“ gestrichen. Zum anderen müssen Menschen innerhalb eines Monats nach einem positiven oder negativen Asylbescheid das Wohnprogramm verlassen. Auf den Inseln wurde diese einzige Alternative zum belastenden Lagerleben gleich ganz abgeschafft.

Die Mischung aus Abschreckung und Vernachlässigung funktioniert. Das zeigt sich darin, dass sowohl Abgelehnte als auch Anerkannte versuchen, das Land schnellstmöglich Richtung Mittel- und Nordeuropa zu verlassen

Weiterhin wird die Segregation von Asylsuchenden und der Gesellschaft dadurch vorangetrieben, dass Geflüchtete seit Neuestem ihre finanzielle Unterstützung nur noch erhalten, wenn sie innerhalb der immer stärker kontrollierten Lager leben. Dieses finanzielle Unterstützungsprogramm des UNHCR lief Ende September aus, aber noch Ende November hatte die Regierung keine Ersatzleistungen gezahlt. Zugleich wurden auch Essensrationen für Menschen außerhalb des Asylverfahrens (also für Abgelehnte oder Anerkannte) eingestellt. Die Folge ist Hunger. In einem Offenen Brief von 27 Nichtregierungsorganisationen heißt es, dass um die 60 Prozent der Menschen in den Lagern auf dem Festland keine Nahrung erhalten und vom Staat in akute Ernährungsunsicherheit, wenn nicht sogar Nahrungsentzug gezwungen werden.

Wer Asyl erhält ist, auf sich gestellt. Für anerkannte Flüchtlinge bieten die feindselige Haltung der Behörden, die bürokratischen und materiellen Hürden von Unterstützungsprogrammen sowie die angespannte wirtschaftliche Lage infolge der Austerität und Covid-Pandemie kaum Bleibeperspektiven.

Wer einen negativen Asylbescheid erhält oder wegen „Unzulässigkeit“ erst gar keinen stellen kann – und das ist die Mehrheit –, verliert den Zugang zu jeglichen Unterstützungsleistungen. Veränderungen im Asylgesetz von 2020 machen Berufungsverfahren kostspielig und langwierig. In einer solchen Situation drohen Abschiebehaft oder ein Leben ohne Aufenthaltsgenehmigung auf der Straße unter ständiger Furcht vor der Polizei. Wohnungslosigkeit ist ein zunehmend akutes Problem für Migrant*innen und griechische Staatsbürger*innen gleichermaßen, wie mir Athener Streetworker*innen von „HumanRights360“ und „Steps“ berichten. Die Behörden ignorieren jedoch diese Entwicklung: Offizielle Zahlen zu Wohnungslosigkeit werden nicht erhoben, Unterkünfte existieren kaum, und jene, die es gibt, werden nicht ausgelastet.

Die Mischung aus Abschreckung und Vernachlässigung funktioniert. Das zeigt sich darin, dass sowohl Abgelehnte als auch Anerkannte versuchen, das Land schnellstmöglich Richtung Mittel- und Nordeuropa zu verlassen.

Das wiederum stößt in den dortigen Innenministerien auf großen Unmut, der in einem Beschwerdebrief von sechs EU-Mitgliedsstaaten an die EU-Kommission und die griechische Regierung im Juli zum Ausdruck kommt. Eine „illegale Industrie“ und das Ausnutzen der Bewegungsfreiheit für anerkannte Flüchtlinge führe zu nicht akzeptablen „sekundären Bewegungen“ aus Griechenland, die unverzüglich beendet werden müssten. Da Abschiebungen von deutschen Gerichten wegen der schlechten Situation in Griechenland bisher verhindert werden, müsse die griechische Regierung die „unterdurchschnittlichen“ Lebensbedingungen im Land verbessern. Wieder einmal wurde dafür großzügige finanzielle Hilfe angeboten. Die griechische Regierung will sich solche Vorwürfe nicht gefallen lassen und konzentriert sich darauf, der „illegalen Migration“ allgemein Einhalt zu gebieten: Sekundäre Bewegungen sollen durch die Beendigung „primärer Ströme“ beendet werden.

Die neuen Hotspots: Retraumatisierung im Freiluftgefängnis

Auf der griechischen Insel Samos lässt sich beobachten, wie sich die griechische Regierung und europäische Geldgeber solche besseren Lebensbedingungen vorstellen und wie die Behörden „primäre Ströme“ begrenzen.

Als einer der „Hotspots“ liegt Samos in Sichtweite der griechischen Küste. Am 18. September stehe ich mit freiwilligen Helfer*innen und Journalist*innen vor dem neuen „Closed Controlled Access Center“, welches das alte Lager am Rande der Inselhauptstadt ersetzt. Gute zwei Stunden Fußmarsch von der einzigen größeren Stadt entfernt erstrecken sich hier in Zervou 150.000 Quadratmeter aus weißem Beton, weißen Containern, Kameras, Lautsprecheranlagen, Stacheldraht und eisernen Drehtüren. 48 Millionen Euro hat die EU in das „geschlossene kontrollierte“ Lager gesteckt. Es ist das Pilotprojekt für vier weitere, die mit weiteren 228 Millionen Euro derzeit auf den Inseln Lesvos, Leros, Chios und Kos gebaut werden oder in Planung sind. Wie Zervou liegen sie alle weit abgelegen von urbanen Zentren (in Lesvos werden es gute 50 Kilometer zur Inselhauptstadt sein). Die lokale Lagerverwaltung, der Migrationsminister und seine europäischen Gäste – darunter der französische Innenminister Gérald Darmanin – schwärmen von guten Lebensbedingungen in Zervou.

Jene, die nicht in Wunschdenken oder in Schönfärbereien leben, sehen im Pilotprojekt Zervou eine neue Generation von Freiluftgefängnis für die Hotspots. Dementsprechend ist die Stimmung in den Tagen vor dem erzwungenem Umzug in das „geschlossene kontrollierte“ Lager extrem angespannt. Daniela Steuermann, medizinische Koordinatorin von „Ärzte ohne Grenzen“ auf Samos, berichtet von einer enormen Verschlechterung der psychischen Verfassung ihrer Patient*innen, von selbstverletzendem Verhalten und einer bedrohlichen Hoffnungslosigkeit, die Menschen erleben.

Touré aus Mali, der vor zwei Jahren Samos erreichte, erzählt: „Ich lebe unter miserablen Bedingungen. Ich weiß nicht einmal, wie ich es erklären soll. Kürzlich haben sie uns gesagt, dass sie uns in das neue Lager bringen werden. Sie wollen uns dort ermorden. Ich will das nicht länger hinnehmen. Dieser Ort ist ein Gefängnis. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

In der Nacht vor dem Transport nach Zervou bricht im alten Lager ein Feuer aus. Es ist als Zeichen der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu verstehen, und nicht ohne Verwunderung stelle ich fest, dass niemand überrascht erscheint.

Die „Begrenzung primärer Ströme“: Entführungen und Misshandlungen an den europäischen Außengrenzen

Es spricht Bände über die Situation an Europas Außengrenzen, wie in den Tagen der feierlichen Eröffnung des neuen Vorzeigelagers in Samos zeitgleich die alltägliche Brutalität gegenüber Schutzsuchenden ungestört ihren Lauf nimmt: Alleine während der vier Tage meines Aufenthalts auf Samos erfahre ich von der gewaltsamen Rückführung von mehreren Dutzend Menschen. Zwei tote Körper werden kurze Zeit später an der türkischen Grenze angeschwemmt. Wie so oft können die genauen Umstände und die Zahl der Opfer nicht abschließend geklärt werden.

Wenn die Regierung also von der Begrenzung primärer Ströme spricht, dann meint sie das: Die systematische Praxis gewaltsamer Rückführungen von Schutzsuchenden auf Land und See. Entgegen einer weitläufigen Vorstellung bedeuten Pushbacks nicht „nur“ die erzwungene Umkehr von Booten durch die Küstenwache. Wie mir Amelia Cooper vom „Legal Centre Lesvos“ und Hope Barker vom „Border Violence Monitoring Network“ eindrücklich beschreiben, hat die griechische Regierung seit März 2020 ihre Praxis wesentlich erweitert: Zum einen werden täglich Menschen nach ihrer Ankunft auf griechischem Territorium – zum Teil vor aller Augen – entführt, in geheimen Orten oder Polizeistationen auf den Inseln oder an der Landesgrenze in der Evros-Region gesammelt inhaftiert, misshandelt, entkleidet, beraubt und schließlich an der Grenze ausgesetzt. Im Mittelmeer werden die Menschen auf aufblasbaren „Rettungs“-Inseln in türkischen Gewässern ausgesetzt, in Evros werden sie in Schlauchbooten über den Grenzfluss gebracht oder auf kleinen Inseln ausgesetzt. Regelmäßig kommen Menschen dabei zu Tode; dokumentiert wird nur die Spitze des Eisbergs.

Mauern des verlassenen Lagers Moria auf Lesvos – Foto: Wasil Schauseil

Amelia Cooper gibt das Beispiel einer Operation, in deren Zuge 200 Menschen von sieben Schiffen der griechischen Küstenwache und paramilitärischen Einheiten ohne Abzeichen von Kreta bis in türkische Gewässer zurückgebracht und auf dem Wasser ausgesetzt wurden. Das zeigt nicht nur das Ausmaß der Operationen, sondern auch die Absurdität, wenn Frontex und NATO, beide in der Ägäis präsent und mit hochmoderner Überwachungstechnologie ausgerüstet, noch immer so tun, als würden sie davon nichts mitbekommen. Amelia Cooper fügt hinzu: „Es ist sehr wichtig zu betonen, dass es sich hierbei nicht um einmalige Ereignisse handelt, weder als Politik noch als individuelle Erfahrung. Für die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, ist es ganz normal, acht-, neun-, zehnmal zurückgeschoben zu werden, auf See und an Land.

Dementsprechend haben offizielle Statistiken des UNHCR über Ankünfte schon lange ihre Bedeutung verloren. Nur Organisationen wie „Aegean Boat Report“, „Josoor“ oder „Mare Liberum“ und Netzwerke wie das „Border Violence Monitoring Network“ geben eine realistische Einschätzung der Lage und werden dadurch zur Zielscheibe. Während die griechischen Behörden Ermittlungen gegen zwei der genannten Organisationen ankündigten, verbietet eine Gesetzesänderung vom September nichtstaatlichen Organisationen, sich ohne offizielle Genehmigung in Rettungsmissionen zu engagieren. Jegliches internationales Seerecht, das keine Zweifel über die bedingungslose Rettung von Menschen in Gefahr lässt, wird hier ad absurdum geführt.

Trotz überwältigender Beweise, Videoaufnahmen und unzählbaren Zeug*innenaussagen bleiben die griechischen Behörden und Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, bei ihrer offiziellen Linie, dass es für gewaltsame Rückführungen keine Beweise gäbe. Ferner handele es sich um völlig reguläre Maßnahmen des Grenzschutzes oder „Missverständnisse“, wie Frontex-Chef Fabrice Leggeri es ausdrückt. Die kafkaeske Qualität des europäischen Grenzregimes zeigt sich hier in vollem Maße: Auf der einen Seite werden zivilgesellschaftliche Organisationen, Anwält*innen und Journalist*innen für das Verbreiten von „Fake News“ über Pushbacks diffamiert und kriminalisiert. Auf der anderen Seite nimmt der griechische Schifffahrtsminister Ioannis Plakiotakisverantwortlich für die Küstenwache – kein Blatt vor den Mund, wenn er 2020 erklärt: „Seit Anfang des Jahres wurde die Einreise von mehr als 10.000 Personen verhindert.“ Alleine im August sei es „uns gelungen, dass 3.000 Menschen nicht in unser Land eingereist sind.“

In Anspielung auf Schrödingers quantenphysikalische Katze, die zu jeder Zeit tot, lebendig oder beides zugleich sein kann, spricht „Josoor“-Gründerin Natalie Gruber treffend von „Schrödingers Pushbacks“: Die gewaltsamen und illegalen Rückführungen sind Alltag geworden, egal wie die Behörden sie nennen wollen. Die „tiefe Besorgnis“ der EU-Kommission oder Aufrufe zu weiteren ergebnislosen Untersuchungen durch die griechischen Behörden werden daran nichts ändern.

Dies ist die ungekürzte Version des in etwas gekürzter Fassung in Druckausgabe der GWR  erschienen Textes mit dem gleichen Titel. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.