Sheila Jeffreys' "Ketzerinnen": eine notwendige Buchbesprechung angesichts des sadomasochistischen Angriffs auf den Anarchismus in London
“Wer sich das offizielle Programm (von Anarchy in the UK; d.A.) durchblättert und dabei auf die Werbung für Tuppy Owens ‘Smut Fest’ stößt, auf welchem u.a. nekrophile Poetinnen, Stripperinnen, Exekutionsrituale, Fesselungen von Jungen, Peitschen, Stilette, Peep Show Stars; 8 Pfund Aufpreis für Kellnerinnen angekündigt werden, muß sich wohl fragen, was da eigentlich für eine Scheiße abgeht? Und was da eigentlich mit dem Anarchismus passiert? Oh natürlich, wir werden gleich zu Anfang der Ankündigung darüber aufgeklärt, daß ‘die Anarchie in deinen Unterhosen’ beginnt – und da ist sie offensichtlich auch geblieben. Wie revolutionär! Was für eine Bedrohung für den Staat! Die Regierung scheißt sich in die Hosen – wenn sie je aufhören würde, darüber zu lachen!” (“Fighting Times”, Newsletter of Cambridge Anarchists, 3/94, S. 2)
Die Diskussionen
Als Mann, dessen Sexualitätsverständnis und -praxis in jahrelanger Auseinandersetzung in gemischten und Männer-Gruppen entscheidend geprägt worden ist, haben mich die auch für Männer zugelassenen Veranstaltungen um Sadomasochismus des Londoner Festivals ebenso betroffen wie interessiert. Zu beobachten war eine komplette Spaltung: die gemischte Veranstaltung pro Sadomasochismus vom “Lesbian & Gay Freedom Movement” (LGFM) war ebenso gut besucht wie die Anti-Pornographie & S/M-Veranstaltung der anarchafeministischen Gruppe der “Cambridge Anarchists” (jeweils ca. 50-100 Leute) – doch überschnitten haben sich die Beteiligten kaum. Bei den einen waren die S/M-BefürworterInnen, bei den anderen die GegnerInnen deutlich in der Mehrheit. Noch nie war eine absolute Spaltung, eine absolute Kommunikationslosigkeit deutlicher spürbar.
Die LGFM definierte S/M in einem Flugblatt als “the use of pain for pleasure” (die Benutzung von Schmerz für Lustgewinn). Vorgetragen wurden Beispiele staatlicher Verfolgung gegen “konsensuale” S/M-Praktizierende, wobei allerdings schon anklang, dass die Gesetzeslage zwar hart ist, die realen Fälle von Verfolgung sich aber auf vergleichsweise wenige (von fünf, sechs Fällen pro Jahr war die Rede) beschränken. In der Diskussion gab es dann zum Beispiel schwule Redebeiträge, in welchen weitgehend unwidersprochen Pädophilie befürwortet oder gefordert wurde, Kindern so frühzeitig wie möglich Pornos zu zeigen, damit sich ihre Sexualität “frei” entwickeln könne. Pornographie wurde überhaupt als Teil der Utopie einer anarchistischen freien Gesellschaft angesehen. Meinem Argument, Pornographie sei patriarchale Propaganda hierarchischen Rollenverhaltens in der Sexualität, deren Ideologie von schwullesbischer S/M nur übernommen werde, wurde entgegnet, S/M sei ja nur ein Spiel.
Die Cambridge-Gruppe erwies sich dagegen als wirklich anarchistisch, weil sie einerseits Gesetzesvorhaben gegen Pornographie und S/M ablehnte und auf direkte Aktion gegen die Pornoindustrie und Überzeugungsarbeit gegenüber schwullesbischen S/Ms setzte, andererseits aber darauf bestand, dass das Private weiter politisch sei und Herrschaft und Gewalt nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch in sexuellen Beziehungen thematisiert werden müssen.
Ganz deutlich wurde in beiden Veranstaltungen auch, dass S/M-BefürworterInnen überhaupt keine analytische Vorstellung von Gewalt haben, dass ihnen Gewalt weder in der Sexualität noch als revolutionäres Konzept ein größeres Problem ist, während bei den S/M-GegnerInnen tendenziell auch die gewaltfreien AnarchistInnen zu finden waren.
Sadomasochismus als heterosexuelle Ideologie
Wer die Londoner Auseinandersetzungen inhaltlich nachvollziehen will, der/dem sei hier das Buch “Ketzerinnen” von Sheila Jeffreys empfohlen. Diese radikalfeministische Lesbe hat in den 80er Jahren in der Londoner Gruppe “Lesbians Against Sadomasochism” gearbeitet, als SadomasochistInnen Anti-S/M-Lesben unter dem Vorwand der “Toleranz” aus dem Londoner “Lesbian and Gay Centre” drängten. Es ist für sie kein Zufall, dass sich Widerstand gegen die S/M-Offensive viel stärker unter Lesben als unter Schwulen artikuliert. Sie sieht die S/M-Offensive als sexualpolitischen Backlash patriarchaler Ideologie im Kontext eines zunehmenden Rassismus in der Gesamtgesellschaft.
Stück für Stück nimmt Jeffreys die Argumente, die gemeinhin in libertären Kreisen für eine Toleranz gegenüber S/M angeführt werden, auseinander. Da ist zunächst der wiederaufgetischte Mythos, sexuelles Rollenverhalten der Dominanz auf der einen und der Unterwerfung auf der anderen Seite sei angeboren. Jeffreys entlarvt dies als Teil herrschender heterosexueller und biologistischer Ideologie, welche männlich-dominantes und weiblich-unterwürfiges, immer verfügbares, immer wollendes Sexualverhalten in Wirklichkeit ansozialisiere. Dann ist da der Mythos, Sadomasochismus sei nur ein Spiel. Jeffreys zeigt, dass sadomasochistische Rituale vorher geplant werden müssen, dass die Rollen (Top/Bottom; Butch/Femme) festgelegt sind, dass sich gleichberechtigte Spontaneität so gerade nicht entwickle. Ganz zentral ist jedoch der Mythos, sexuelle Gewalt verwandle sich in Lust und die einzige Bedingung dafür sei, dass Gewalt “konsensual”, also mit Zustimmung der Beteiligten, angewandt werde. Jeffreys wendet ein, dass Schmerz zunächst immer erstmal Schmerz bleibt. Sie führt viele Beispiele an, bei denen konsensualer S/M zu realen Verletzungen führte.
“Solches ‘auf Übereinkunft beruhendes’ Schlagen nützt unserem Kampf als Frauen und Lesben um ein gewaltfreies Leben, um unser Recht, nicht als geeignetes Ziel für Gewalt betrachtet zu werden, überhaupt nicht. S/M ist viel mehr als nur eine sexuelle Praxis. Es ist eine Lebensweise und eine Weltsicht, die Gewalt verherrlicht und legitimiert.” (S. 229)
Außerdem beruhe Sadismus gerade auf der inhaltlichen Prämisse, sich an keine Abmachung zu halten, Grenzen zu überschreiten, andere gerade dadurch zu quälen, dass vorherige Abmachungen gebrochen werden. Auf diese Weise sind zum Beispiel Praktiken entstanden, in welchen eine Femme (Rolle der Unterworfenen) von einer Butch (Rolle der Dominanz) mit Benzin übergossen und angezündet wurde (dass nur ganz geringe Mengen Benzin darunter waren, erfuhr die Unterworfene erst nachher, als der Brand gelöscht war). Was etwa die Türkei betrifft, wird vorgetäuschte Tötung Folter genannt, hier gilt das als “Spiel”, bei dem die Zustimmung nachträglich eingeholt wird. Als “konsensualer Sex” gilt nämlich auch, wenn die Unterworfene der Grenzüberschreitung im Nachhinein zustimmt. Für Jeffreys gibt es aber keine “freie Zustimmung” zu Machtungleichgewicht, Herrschaft und Gewalt.
“Im westlichen demokratischen Denken stimmen alle Gruppen der Bevölkerung dem Regierungssystem zu. Darüber herrscht Konsens. Aber es stimmt nicht. Nur weiße vermögende Männer stimmen in jeder Beziehung mit einem politischen System überein, das alle anderen erniedrigt, ausbeutet und beherrscht. S/M nutzt dieses politisch manipulierte Verständnis von Konsens, um S/M zu rechtfertigen.” (S. 230)
In anarchistischen Begriffen gesagt, würde ich daher auch immer von “freiwilliger Knechtschaft” (de la Boetie) sprechen. Jeffreys fordert demgegenüber eine egalitäre Sexualität, in der nicht Machtausübung und Abhängigkeit, sondern Gleichwertigkeit und Gewaltlosigkeit als erotisch empfunden werden, eine Sexualität, die mit Liebe und Zärtlichkeit untrennbar verbunden ist. Gerade die Aufspaltung von Liebe und Sexualität schaffe die Bedingung patriarchaler Objektivierung in der Sexualität. Daß entgegen den Behauptungen vieler S/M-BefürworterInnen herrschaftliches Rollenspiel nicht auf die Sexualität beschränkt bleibt, beweist Jeffreys anhand der Schriften von Pat Califia, einer führenden S/M-Theoretikerin aus den USA, die 1982 eine Negativpublizität erlangte, weil sie einer Frau gegen deren Willen ein Hakenkreuz ins Fleisch ritzte. Califia schreibt:
“Eine S/M-Szene kann sich zwischen Wärter und Gefangenem, Polizist und Verdächtigem, Nazi und Juden (!; d.A.), Weißem und Schwarzem, Hetero- und Homomann, Elternteil und Kind, Priester und Büßer, Lehrer und Schüler, Hure und Kunden usw. abspielen.” (zit. nach Jeffreys, S. 213)
Es ist die Erotisierung von Herrschaft, die Jeffreys am Beispiel Califias als faschistoid denunziert. Auch die S/M-Ästhetik, vor allem die Vorliebe für schwarzes, glänzendes Leder, Latex, Fesseln, Peitschen, Uniformen usw. laufe mit faschistischer Ästhetik konform.
Wie im angloamerikanischen Raum, wenngleich verspätet, hat sich auch in der bundesdeutschen Schwulen- und Lesbenszene S/M in den letzten Jahren ausgebreitet. Bis jetzt haben wir Libertäre sie in Ruhe gelassen, zuweilen nur die heterosexuelle Pornoindustrie angegriffen. Jetzt ist für mich die Schonzeit vorbei. In London drängten S/Ms unter dem Vorwand, wie alle AnarchistInnen auch gegen Zensur zu sein, in die anarchistische Szene rein. Doch auch in der BRD wird das kommen: in der “direkten aktion” Nr. 105 wurde bereits ein ganzseitiger Artikel “Latex & Anarchie” veröffentlicht, in welchem der ganze patriarchale Müll von “freier Vereinbarung” bei S/M heruntergebetet wird und er deshalb in eine natürliche Verwandtschaft zum Anarchismus gestellt wird, weil es dort ja auch eine freie Vereinbarung gebe.
Das Schlimme dabei ist: Radikalfeministinnen, denen der Anarchismus schon immer zu männerdominiert und patriarchal war, werden durch solche Tendenzen für immer vom Anarchismus kuriert. Noch Sheila Jeffreys, die Lesbischsein u.a. mit “anti-hierarchisch” identifiziert, bezeichnet S/Ms mit der von ihnen selbst gewählten Begrifflichkeit als “libertär”. Nicht einmal das sollten wir ihnen zugestehen, denn sonst treiben wir die letzten Radikalfeministinnen aus dem Anarchismus raus und dem Staat via Antidiskriminierungsgesetzen in die Arme. Mir jedenfalls haben an London interessierte bundesdeutsche Anarchafeministinnen gesagt, dass sie wegen der dort angekündigten S/M-Offensive lieber gar nicht erst hinfahren. Ich kann’s ihnen nicht verdenken. Sadomasochismus ist nur die liberale Ergänzung zur puritanischen, viktorianischen, auf Verdrängung basierenden bürgerlichen Sexualmoral, ganz so, wie auch der Neoliberalismus nur die Ergänzung zum keynesianischen, staatsmonopolistischen Kapitalismus ist. Mit Anarchismus hat in beiden Fällen weder das eine noch das andere auch nur irgendwas zu tun!
Anmerkung
Sheila Jeffreys: Ketzerinnen. Verlag frauenoffensive, München 1994, 242 S., 34 DM.