Buchbesprechung

Unbedingte Solidarität

Ein brandaktueller Sammelband zu einem links-emanzipatorischen Grundbegriff

| Jonathan Eibisch

Lea Susemichel / Jens Kastner (Hg.): Unbedingte Solidarität, Unrast Verlag, Münster 2021, 312 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-89771-291-1

Solidarität – wer blieb von ihrer Anrufung durch das von Regierungskreisen hervorgerufene Propagandafeuer verschont? Dabei ist es durchaus befremdlich und sollte Anlass zum kritischen Nachfragen bieten, wenn dieser Begriff in Krisensituationen von politischen Eliten genutzt und damit auch den emanzipatorischen sozialen Bewegungen enteignet wird. Doch auch die Verwendung des Solidaritätsbegriffs innerhalb der gesellschaftlichen Linken selbst ist nicht unproblematisch. Durch seinen teils inflationären Gebrauch wird der Begriff schnell zur sinnentleerten Phrase und symbolisiert damit vor allem die Suche nach Orientierung, eigenen Standpunkten und Beständigkeit in unsicheren Zeiten. Dies ist legitim und verständlich, sollte allerdings reflektiert geschehen. Denn insbesondere wenn bestimmte Konzepte auf der Straße, in Twitterposts oder Gesprächen vehement propagiert und eingefordert werden, lässt sich die Frage aufwerfen, ob emanzipatorische Linke das selbst überhaupt gut können: solidarisch sein. Denn was verstehen wir überhaupt unter „Solidarität“?

Lea Susemichel und Jens Kastner versammeln 15 unterschiedliche Beiträge im aktuellen Band „Unbedingte Solidarität“. Aktuell ist das Buch dabei nicht vorrangig aufgrund seines Erscheinungsdatums, sondern weil Kastner, Susemichel und die von ihnen eingeladenen Autor*innen sich mit ihren Beiträgen auf Augenhöhe und am Puls der Zeit bewegen. Den Begriff der „unbedingten Solidarität“ verwenden die beiden Herausgeber*innen dabei in Anschluss an die feministische Theoretikerin Diane Elam („groundless solidarity“), welche betont, dass sich Solidarität gerade anhand von Differenzen herausbildet. Sie besteht also weder im Geklüngel unter Menschen in gleichen oder zumindest ähnlichen Situationen und Positionen noch in paternalistischer Wohltätigkeit oder sozialstaatlicher Verwaltung von Armen, Schwachen, Ausgegrenzten. Stattdessen ist es die Anerkennung der Unterschiede, welche erst ihre Überwindung ermöglicht, ohne die Anderen in die eigene soziale Gruppe integrieren zu müssen, sondern sie anders sein lässt.

Da ich dieser Perspektive persönlich vollkommen zustimme, finde ich keine bessere Formulierung, um sie zu beschreiben, als Susemichel und Kastner es selbst tun. Mit dem von ihnen herausgebrachten Sammelband wollen sie zeigen, dass „Kämpfe und Konflikte innerhalb solidarischer Allianzen nicht das Scheitern von Solidarität bedeuten. Ganz im Gegenteil: Nicht selten sind diese Kämpfe erst die Bedingung der Möglichkeit von Solidarität. Denn um Solidarität muss gerungen werden, sie konstituiert sich zumeist konfliktiv. Erst in diesem Prozess formiert sich auch das solidarische Kollektiv, das sich nicht zwangsläufig aufgrund geteilter Erfahrung (oder gar einer wie auch immer gearteten ‚Wesensverbindung‘) herausbildet. Unbedingte Solidarität beruht also auf Differenzen (und nicht auf Gleichheit), sie bedarf der Konflikte (und nicht der Konformität), sie hat mit Gefühlen zu tun (und nicht nur mit rationalen Entscheidungen). Unbedingte Solidarität ist eine ‚Kampfsolidarität‘, nicht nur im Sinne einer ‚solidarity against‘, die sich nach außen geschlossen gegen Unmenschlichkeit und Ungleichheit richtet, sondern die auch innerhalb der eigenen Reihen für mehr Gerechtigkeit kämpft, wo nötig. Unbedingte Solidarität ist ein reziproker Prozess des Aufbaus neuer Beziehungen, eine solidarische Praxis, die zugleich institutionalisierte Formen annehmen kann (und sollte), um gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die Solidarität zu verstetigen.“ (S. 14) Wenn unbedingte Solidarität auf Differenzen beruht, bedeutet dies ferner, „[…] dass es gerade keinen gemeinsamen Erfahrungshorizont gibt und dass Trennendes überwunden werden kann. Unbedingte Solidarität besteht nicht in der Parteinahme für meinesgleichen, sondern darin, mit Menschen in solidarische Beziehungen zu treten, mit denen man gerade nicht die Fabrik und das Milieu, die sexuelle Orientierung, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt. […] Endlos und kontingent – das macht Solidarität zu einer ständig aufs Neue zu erkämpfenden Beziehung zwischen Menschen, die vor allem praktisch zu verwirklichen ist und deren Institutionalisierungen immer neu zu verhandeln sind.“ (S. 15) Darüber hinaus verstehen die Herausgeber*innen unter der Bedingungslosigkeit von Solidarität, dass diese kein „Tauschgeschäft von Rechten und Pflichten oder Kosten und Nutzen“ ist und keine Gegenleistungen erwarten kann.

Schließlich fassen sie das „Unbedingte“ des von ihnen dargestellten Verständnisses von Solidarität so auf, dass es in der heutigen Zeit unbedingt und dringend notwendig erscheint, sie zu praktizieren. Worauf sich dies bezieht, dafür bleibt ein weiter Spielraum. Er kann sich auf ausgeschlossene Migrant*innen beziehen, auf kommende Generationen, Menschen in postkolonial unterdrückten Ländern, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihres sexuellen Begehrens marginalisierte Gruppen oder auf prekarisierte Lohnabhängige. Solidarität wird möglich, wo diese Grenzen – die zum Teil auch durch die Herrschaftsordnung gezogen werden – überwunden werden können, ohne deswegen eine Gleichmacherei zu bewirken.

Über Solidarität nachzudenken, geriet in der sozialistischen Bewegung im Unterschied zu den Begriffen der Freiheit und Gleichheit meistens zu kurz. Entweder nahm man an, sie bestünde mehr oder weniger vorab in den kämpfenden Gemeinschaften oder aber, sie könnte erst umfassend verwirklicht werden, wenn die sozialistische Gesellschaftsform erkämpft worden sei. Dass sie aber Voraussetzung für soziale Kämpfe und deren emanzipatorische Ausrichtung ist, dass sie zu Erfahrungen inspiriert, motiviert und verbindet, wird erst in jüngerer Zeit wieder stärker thematisiert. Dies tun im Sammelband unter anderem Rahel Jaeggi als Vertreterin einer zeitgenössischen Kritischen Theorie, Bini Adamczak mit ihrer besonderen beziehungstheoretischen und ge
schichtsphilosophischen Perspektive, Silke van Dyk mit ihrem Fokus auf die soziale Frage, Friederike Habermann, die in der feministischen Ökonomie bekannt ist, sowie Torsten Bewernitz, welcher sich einer Aktualisierung der gewerkschaftlichen Solidarität widmet. Insgesamt liefern sie damit wichtiges Handwerkszeug für die soziale Revolution.