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Homosexuelle: Vergessene Opfer des Nationalsozialismus

Interview mit der Historikerin Joanna Ostrowska

| Interview: moku

Joanna Ostrowska - Foto: Jakub Szafranski

Joanna Ostrowska ist eine polnische Historikerin und LGBTQIA-Aktivistin. In ihren Büchern veröffentlicht sie die Ergebnisse ihrer Forschungen zu sexueller Zwangsarbeit und zur Verfolgung psychosexueller Minderheiten bzw. homosexueller Männer während des Zweiten Weltkriegs. Im Interview mit der Graswurzelrevolution stellt sie einige Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus vor, deckt die Mechanismen der NS-Bürokratie auf und verweist auf das Fortwirken der Kriminalisierung und Ausgrenzung in der Nachkriegszeit. Der zweite Teil des Interviews erscheint in der GWR 472. Für ihr Buch „Sie. Homosexuelle während des Zweiten Weltkriegs“ wurde sie in der Kategorie Publikumspreis mit dem Nike-Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. (GWR-Red.)

Teil zwei des Interviews hier.

GWR: Dein erstes Buch „Przemilczane. Seksualna praca przymusowa w czasie II wojny światowej“ (dt. „Verschwiegen. Sexuelle Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs“) hast du zum Thema sexuelle Zwangsarbeit veröffentlicht. Dein zweites Buch „Oni. Homoseksualiści w czasie II wojny światowej“ (dt. „Sie. Homosexuelle während des Zweiten Weltkriegs“) behandelt homosexuelle bzw. nicht-binäre Menschen als Opfer des Nationalsozialismus bzw. während des Zweiten Weltkriegs. Warum hast du diese Themen gewählt?

Joanna Ostrowska: Mein Forschungsinteresse entspringt dem 
Bedürfnis, mich gegen den Prozess des Verschweigens bestimmter Phänomene in der polnischen Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis aufzulehnen. Als ich 2005 begann, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, ging es mir vor allem darum, die Geschichte der Opfer sexueller Gewalt in Kriegszeiten aufzuarbeiten.
Das Buch „Sie“ ist eine der nächsten Etappen in einem eher langfristig angelegten Projekt, das Themen im Zusammenhang mit der Geschichte der Nicht-Normativität auf dem Gebiet des heutigen Polen im 20. Jahrhundert rekonstruiert und offenlegt. Das durchzieht alle meine Texte und Bücher wie ein roter Faden. Mit jeder Veröffentlichung bereite ich mich automatisch auf die nächste vor. Bei meinen Recherchen über Bordelle, die es für die Wehrmacht, SS und Polizei, für Zwangsarbeiter und KZ-Gefangene während des Zweiten Weltkriegs gab, stieß ich auf andere Gruppen vergessener Opfer des Nationalsozialismus. Bei der Suche nach Biografien von nicht-heteronormativen Menschen während des Zweiten Weltkriegs fand ich persönliche Dokumente von Menschen, die zur Zwangssterilisation verurteilt wurden, und so weiter. Ich glaube, wenn man solche Unterlagen findet, kann man sie einfach nicht vergessen.
Zugleich sehe ich meine Arbeit von Anfang an im Kontext des LGBTQIA-Aktivismus. Dr. Klaus Müller vom Salzburg Global LGBT* Forum, den ich zum ersten Mal im Film „Paragraph 175“ von Rob Epstein und Jeffrey Friedman (2000) sah, machte mir klar, dass Menschen, die queere Geschichte schreiben, vor allem eine pädagogische Verantwortung haben. Ich versuche, dem gerecht zu werden.

Homosexualität wurde als „unnatürlich“ betrachtet. Auf welcher Rechtsgrundlage wurden Homosexuelle und nicht-binäre Menschen im NS-Staat verfolgt?

Im Deutschen Reich war der § 175 in Kraft, der 1935 um den § 175a erweitert und ergänzt wurde (1). Dies war die Rechtsgrundlage für die Verfolgung von Männern, die als homosexuell galten. Nach Beginn des Krieges fielen – entgegen der bisherigen Festlegungen – auch Menschen anderer Nationalitäten unter diesen Paragraphen, nicht nur Reichsdeutsche und Volksdeutsche. Und ich spreche nicht nur von mutmaßlich intimen Beziehungen zwischen z. B. einem Polen und einem Deutschen, sondern auch von Beziehungen zwischen Landsleuten in den eroberten Gebieten. Sowohl im Generalgouvernement (2) als auch in den so genannten [in das Deutsche Reich – Anm. M. K.] eingegliederten Gebieten wurden Personen, die einer intimen Beziehung verdächtigt wurden, strafrechtlich verfolgt.
An ehemaligen Treffpunkten von nicht-heteronormativen Menschen wurden Razzien organisiert, die sich nur gegen diese richteten. Uns liegen Dokumente vor, die bestätigen, dass solche Aktionen der Kriminalpolizei ein regelmäßiger Kontrollmechanismus waren. Während der Aktionen wurden Menschen unterschiedlicher Nationalität und Geschlechtsidentität festgenommen. Dies widerspricht der These, dass sich die Besatzungsmacht nicht für das Sexualleben der Bevölkerung der eroberten Länder interessierte, es sei denn, es stellte eine Bedrohung für die deutschen Bürger:innen dar.
Bei den Prozessen im Wartheland (3) wurde nicht nur auf die Paragraphen 175 und 175a, sondern auch auf die „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten“ (RGBl. 1941 I 759 ff) – Punkte II und III – Bezug genommen. Die Gerichte im Generalgouvernement verwiesen auf Artikel 207 des polnischen Strafgesetzbuchs (4). Das so genannte Makarewicz-Gesetz von 1932 entkriminalisierte sexuelle Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts, allerdings mit einer Ausnahme: Die „gewerbsmäßige Unzucht“ mit einer Person des gleichen Geschlechts (sowohl bei Männern als auch bei Frauen) wurde weiterhin bestraft. Bei nachgewiesenem Gewinn konnte der:die Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt werden. Gleichzeitig wurde der Begriff „Gewinn“ sehr weit gefasst – es konnte sich um eine Geldzahlung handeln, aber auch um einen Theaterbesuch, ein Abendessen oder ein Geschenk. Auf jeden Fall war der Wortlaut von Artikel 207 dem von Paragraph 175a Absatz 4 sehr ähnlich: „Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei milderen Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft: ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.“

Mit welchen Repressionen mussten sie rechnen?

Die meisten der Protagonist-:innen in meinem Buch wurden mehrmals in Strafanstalten eingewiesen. Einige von ihnen hatten Prozesse aus der Vorkriegszeit hinter sich, was sich stark auf die Länge ihrer Strafe ausgewirkt hat. Die so genannten Wiederholungstäter wurden unmittelbar nach Beendigung ihrer Haftstrafe im Rahmen der „Sicherungsverwahrung“ in Konzentrationslager eingewiesen.
Die nach den Paragraphen 175 und 175a verurteilten Polen wurden ebenfalls als „Schutzhäftlinge“ in die Lager gebracht. Dort erhielten sie einen roten Winkel (politischer Häftling) und die Kategorie „Schutzhäftling“, genau wie andere Landsleute, die zum Beispiel wegen des Kampfes gegen die Besatzungsmacht inhaftiert waren. Auf dieser Grundlage wurde jahrelang die These vertreten, dass die Nazis nicht-heteronormative Menschen aus den eroberten Gebieten nicht verfolgten, weil schließlich nur Menschen deutscher Herkunft im Lager Rosa Winkel (5) trugen.
Übrigens funktioniert der Ausdruck „deutsche Homosexuelle“ im öffentlichen Diskurs [in Polen – Anm. M. K.] immer noch, sogar in polnischen Gedenkstätten. Es war allerdings nicht so schwierig, Polen zu finden, die aufgrund der Paragraphen verurteilt worden waren. Es genügte zu sehen, dass auf einigen Transportlisten beispielsweise die Häftlingskategorie „175 Pole“ angegeben war.

Warum wurden auch solche brutalen Methoden wie z. B. Sterilisierung angewendet?

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das so genannte Sterilisationsgesetz, trat in Nazi-Deutschland im Januar 1934 in Kraft. Es bezog sich nicht auf Männer, die als homosexuell galten, aber auf seiner Grundlage wurden Menschen herausgegriffen, die angeblich Ballast für eine „gesunde“ Reichsgesellschaft darstellten – sie sollten niemals selbst über Nachkommen entscheiden. Die Zwangssterilisation betraf Menschen, die vom Staat als „erbkrank“ eingestuft wurden (angeborene geistige Behinderung, Schizophrenie, manisch-depressive Psychose, erbliche Epilepsie, Chorea Huntington, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere Missbildungen und schwerer Alkoholismus). Gleich
zeitig bot das Gesetz ein Einfallstor für die Kontrolle aller als „asozial“ eingestuften Personen. Schritt für Schritt wurden weitere als „marginal“ definierte soziale Gruppen katalogisiert und im biopolitischen Sinne kontrolliert.
Im Juni 1935 wurde das Sterilisationsgesetz dahingehend geändert, dass Personen, die nach § 175 rechtskräftig verurteilt wurden, zur Zwangssterilisation überwiesen werden konnten. Die verurteilte Person musste eine Einverständniserklärung unterschreiben. Auf jeden Fall war die „freiwillige Entscheidung“ ein Schlüsselelement dieser Politik. Von Beginn des Krieges an wurde die Kastration als eine Möglichkeit dargestellt, einer weiteren Bestrafung zu entgehen – eine Option für die Entlassung aus einem Konzentrationslager. Im Allgemeinen wurde diese Art der medizinischen „Behandlung“ einerseits als Instrument zur Kontrolle „unwürdiger“ Bürger:innen und andererseits als Verfahren für so genannte Sexualstraftäter, d. h. damals auch für Männer, die als homosexuell galten, betrachtet.

Hat der Paragraph 175 die Vorstellungen, den Diskurs und die Mythen bzw. Stereotypen über homosexuelle Menschen in Polen verstärkt bzw. beeinflusst? Wenn ja, in welcher Weise?

Ja, natürlich. Im polnischen Nachkriegsdiskurs wurde der Paragraph 175 zum Beispiel dazu benutzt, um zu zeigen, wie tolerant Polen gegenüber nicht-heteronormativen Menschen war und immer noch ist. Das zuvor erwähnte Gesetzbuch von Makarewicz war bis Ende der 1960er-Jahre in Kraft, aber niemand schenkte dem Artikel 207 Beachtung. Es war bequemer, die These von der Entkriminalisierung von Homosexualität in Polen zu wiederholen und als Gegenpol auf die deutsche, später nationalsozialistische Gesetzgebung zu verweisen, die den Krieg überstanden hatte und zunächst unverändert in die BRD übernommen wurde: Der Paragraph 175a wurde erst am 1. September 1969 gestrichen. (6)

Mein Forschungsinteresse entspringt dem Bedürfnis, mich gegen den Prozess des Verschweigens bestimmter Phänomene in der polnischen Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis aufzulehnen.

Gleichzeitig beherrschte seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Mythos von der „deutschen Krankheit“ in Bezug auf Homosexualität die polnische Gesellschaft. Schon in der Zeit der polnischen Teilungen (7) schrieb die polnische Presse über den „Wundbrand des deutschen Organismus“.
Dieses Phantasma war auch in der Zwischenkriegszeit präsent und überlebte den Krieg. Wir finden es leicht in den Berichten von Überlebenden der Konzentrationslager, vor allem bei denen polnischer Herkunft. Einer der ehemaligen Häftlinge schrieb nach dem Krieg ausdrücklich: „Das sind keine Belanglosigkeiten, […] denn es geht um unsere Zukunft. Wenn diese jungen Menschen, diese Zukunft der polnischen Nation, die nach uns die Last des Wiederaufbaus tragen werden, der noch Jahrzehnte dauern wird, wenn das Menschen mit einem gebrochenen moralischen Rückgrat sind, dann ist das System schuld, das Berlin den Konzentrationslagern auferlegt hat. Jeder, der seinen Sohn gesehen hätte – einen Jungen, der aus dem Lager zurückkehrte, seinen Lebensunterhalt mit seinem Körper verdiente oder ‚organisierte‘ […] – würde zusammenbrechen. Ich denke, dass dies eine der größten Wunden ist, die dieses System, seine Vollstrecker […] Europa zufügen und damit den größten Schaden anrichten können.“

Wie verhielten sich die Familien und Angehörigen der Opfer?

Das oben angeführte Zitat beantwortet diese Frage teilweise. Nach dem Krieg gab es in der polnischen Gesellschaft keinen Platz für Geschichten über nicht-heteronormative Menschen. Zunächst war da die Angst, erneut stigmatisiert oder auch kriminalisiert zu werden – die ersten Strafverfahren nach Artikel 207 vor polnischen Nachkriegsgerichten, die ich gefunden habe, stammen aus dem Jahr 1947. In Krakau genügte es, das eine:r der Zeug:innen in einem ganz anderen Strafverfahren jemanden denunzierte, und innerhalb weniger Tage wurde ein Ermittlungsverfahren gegen die Männer eingeleitet, die sich in den öffentlichen Toiletten an der Ecke Starowiślna- und Dietla-Straße getroffen hatten.
Zweitens birgt das Sprechen über die eigenen Kriegserfahrungen im Falle von queeren Menschen die Möglichkeit der Ablehnung auch in den Kreisen von Freund:innen und Familie. Eine der schockierendsten persönlichen Quellen, die ich bei meinen Recherchen fand, war ein Brief einer Schwester an ihren jugendlichen Bruder im Gefängnis. Nach Ansicht der Familie wurde Dionizy zu Recht in die Strafvollzugsanstalt eingewiesen, schließlich war er vom Teufel besessen. Er sollte seine Strafe verbüßen. Es ist nicht bekannt, ob der Teenager überlebt hat.
Die meisten der Protagonist:innen in meinem Buch haben nach dem Krieg nicht über ihre Erfahrungen gesprochen. Oder sie gaben ganz andere Gründe für ihre Inhaftierung an. Auch Teofil Kosiński, der Anfang der 1990er-Jahre Lutz van Dijk seine Geschichte erzählte („Verdammt starke Liebe“, 1991), hat sich seinen Verwandten gegenüber nie offenbart. Er vertraute niemandem in Polen.

Die Opfer haben zum Selbstschutz ihre Aussagen gegenüber den NS-Gerichten angepasst, um eine möglichst niedrige Strafe zu bekommen. Was konnte die Strafe beeinflussen?

In den von mir untersuchten Prozessakten dominierte die Version der „gegenseitigen Selbstbefriedigung“. Die Beschuldigten behaupteten, dass es zwischen ihnen nie zu analem, oralem und interkruralem Sex gekommen sei. Es war klar, dass das Gericht während des Prozesses den „Verführer“ und den „Verführten“ identifizieren würde. Im Falle des Verführers war die Strafe immer höher. Jegliche „Gewinne“ (Geschenke, Geld, Einladungen ins Kino oder Theater usw.) wurden verheimlicht, um nicht der „gewerbsmäßigen Unzucht“ bezichtigt zu werden (§ 175a Abs. 4).
Die polnischen Angeklagten beriefen sich auf Unwissenheit und behaupteten, das polnische Gesetzbuch stelle gleichgeschlechtliche Intimbeziehungen nicht unter Strafe. Einige der Angeklagten retteten ihre Partner, indem sie die „Schuld“ auf sich nahmen. Eine der dramatischsten Geschichten, auf die ich gestoßen bin, ist das Verhältnis zwischen dem polnischen Zwangsarbeiter Józef und dem Deutschen Erich in Tübingen. Erich schickte während seiner gesamten Haftzeit Briefe an den Staatsanwalt, in denen er die Freilassung von Józef forderte und schrieb, dass er derjenige sei, der seinen jüngeren Partner verführt habe. Er war bereit, sich kastrieren zu lassen, nur um den Polen vor einer schweren Strafe zu bewahren.
Die „Zeit der Maskierung“ (wie Claudia Schoppmann es nannte) überdauerte den Krieg. Nicht nur in Deutschland war es in der Nachkriegszeit sicherer, sich zu verstecken. In Polen fanden die ersten Prozesse gegen nicht-heteronormative Menschen wie gesagt bereits 1947 statt. Während der Verhöre versuchten die Verhafteten, die gleichen Ausflüchte zu benutzen wie einige Jahre zuvor unter der Besatzung.

Damals wie heute wurde aus einem Homosexuellen eine Figur des Fremden geschaffen. Ist das der Grund, warum die Opfer des Paragraphen 175 bis heute auf Anerkennung warten müssen und im kollektiven Gedächtnis nicht als Opfer anerkannt werden? Oder gab es auch andere Gründe?

Meines Erachtens geht es hier vor allem um den Prozess der Ausgrenzung und Diskriminierung nicht-heteronormativer Menschen im historischen Diskurs. Natürlich spreche ich in erster Linie von der Erfahrung des polnischen kollektiven Gedächtnisses, in dem auch in den Berichten von Zeug:innen – ehemaligen KZ-Häftlingen – 
eine nicht-heteronormative Person als fremd, brutal, an der „deutschen Krankheit“ erkrankt, als Mitverschwörer, als sexuelles Raubtier dargestellt wurde, das sich an den Unschuldigen in der Lagergemeinschaft vergreift. Diese homophoben Zeug:innen-Aussagen von Überlebenden wurden nie kritisiert.
Der Prozess der Anerkennung, der in Deutschland Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre begann, hat in Polen nie stattgefunden. Es genügt ein Blick auf die in Polen erschienenen historischen Veröffentlichungen. Zurzeit gibt es keine wissenschaftlichen Artikel und Studien über Menschen, die als „asozial“ und „kriminell“ eingestuft wurden. Ganz zu schweigen von den „Rosa Winkeln“, der Geschichte der Transgender- und der intergeschlechtlichen Menschen. Es gibt keine Übersetzungen der Grundlagenwerke, die in englischer und deutscher Sprache zum Thema der vergessenen Opfer des Nationalsozialismus und der Zeug:innen-Aussagen veröffentlicht wurden. Um ein paar Namen zu nennen: Die polnischen Leser:innen haben keinen Zugang zu Büchern von Gisella Perl, Olga Lengyel, Esther Bejarano, Margareta Glas-Larsson. Heinz Hegers Buch [„Die Männer mit dem Rosa Winkel“ – Anm. M. K.] wurde 2016 in polnischer Sprache veröffentlicht – fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Erstveröffentlichung, und es war das erste Buch zu diesem Thema auf Polnisch.

Alles, was wir über die Opfer erfahren, stammt aus der Dokumentation der Täter:innen. Warum ist das so?

Stimmt. Die meisten der von mir verwendeten Materialien waren Gerichts-, Gefängnis-, Lager- und Polizeiakten. Tatsächlich war in der Regel der Vorwurf nach § 175 der Ausgangspunkt für weitere Nachforschungen. Das hängt natürlich mit dem Prozess der Kriminalisierung zusammen, aber es verkompliziert die Forschung auch symbolisch – wir bewegen uns die ganze Zeit in einer Erzählung über „Kriminelle“. Leider ist es im Fall meiner Protagonist:innen selten, dass man Selbstzeugnisse findet. Wenn sie überlebten, schwiegen sie oder erzählten eine „andere Version“ ihrer Kriegsvergangenheit, die auch ein hervorragendes Zeugnis für die Realität ist, in der sie nach dem Krieg leben mussten. Deshalb ist es so schwierig, ihre Biografien nur auf die Nazizeit oder vielleicht auf die Kriegszeit zu beschränken.
Mein Ziel war es, Quellen vor allem aus der Vor- und Nachkriegszeit zu finden, die in irgendeiner Weise der Dokumentation von Täter:innen entgegenwirken können. Ich habe jedoch das Gefühl, dass ich selbst bei dem Versuch, Biografien wiederherzustellen, eher die Welt nachbilde, in der meine Protagonist:innen agierten.

Wie bist du mit den Quellen umgegangen?

Jozef Niemczyk, Opfer der Verfolgung – Foto: AIPN, Sign, GK 42/22, k. 4., Instytut Pamieci Narodowej

Claudia Schoppmann schreibt in der Einleitung ihres Buches „Verbotene Verhältnisse: Frauenliebe 1938–1945“ über die Gerichtsakten von nicht-heteronormativen Frauen:
„Keine der Frauen, die in diesen Fallgeschichten zu Wort kommen, habe ich persönlich kennengelernt. Dies macht es sehr schwierig, die Perspektive der Justizopfer angemessen zu rekonstruieren. Ich weiß von ihnen nur aus staubigen Akten, kenne nur das, was sie vor der Polizei oder dem Gericht aussagten. Die Vernehmung dürfte von den meisten als einschüchternd, wenn nicht als bedrohlich erlebt worden sein. Abgesehen von ganz wenigen in Akten enthaltenen Selbstzeugnissen (z. B. beschlagnahmte Briefe), die als authentisch gelten können, sind die Aussagen der Beschuldigten also zum einen durch die Verhörsituation geprägt, zum anderen tragen die Protokollaussagen die Handschrift des Polizei- und Justizapparates. Das zeigt sich auch an dem Voyeurismus, der in allen Akten ganz offen zutage tritt, an der fast genüsslichen Wiedergabe pikanter Details aus dem Intimleben. Und es erwies sich als schwierig, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne diesen Voyeurismus zu reproduzieren“. (8)
In meinen Büchern versuche ich zu vermeiden, die Sprache der Täter:innen zu reproduzieren. Andererseits bin ich mir aber durchaus bewusst, dass de facto jedes Zitat eine Geste der Reproduktion ist. Jedes Mal, wenn ich Strafverfahren rekonstruiere, ist dies ein gefährlicher Schritt in Richtung einer erneuten Kriminalisierung. In „Sie“ wollte ich jedoch die Sprache der Täter:innen problematisieren – um zu zeigen, wie viele der Stigmatisierungsmechanismen aus der Zeit der Besatzung auch in der Nachkriegszeit überlebt haben. Bei mehreren Gelegenheiten habe ich mir längere Zitate erlaubt, um meinen Leser:innen zu verdeutlichen, dass dies kein gewöhnliches Verhör war. Da ich mich nun auf die deutsche Übersetzung des Buches vorbereite, weiß ich, dass ich einige Passagen umschreiben werde. Jedenfalls ist es mir seit Erscheinen des Buchs im April 2021 gelungen, mehrere Rätsel um die Protagonist:innen zu lösen, Familien zu finden und ganz neue Quellen zu erschließen.

In diesem Buch rekonstruierst du einige Biografien. Warum hast du diese Fälle gewählt?

Beim Schreiben von „Sie“ habe ich Jack Halberstams Werk im Hinterkopf gehabt, insbesondere „Die queere Kunst des Scheiterns“ [engl. „The Queer Art of Failure“ – Anm. M. K.]. Mein Ansatz war es, einen Weg zu finden, so viele verschiedene Lebensgeschichten wie möglich zu zeigen. Manchmal sind es solche, die sich in einem einzigen Absatz zusammenfassen lassen. Ich habe jedes Kapitel mit einem Namen betitelt, aber ich habe versucht, eine Art Mosaik von Leben zu schaffen. Ich versuchte, Verbindungen zwischen den Protagonist:innen zu zeigen – ich schreibe über Menschen, die aus der gleichen Stadt stammen, die zu ähnlichen Zeiten in Gefängnissen und Lagern waren, deren Namen auf der gleichen Transportliste stehen oder die eine ähnliche Art von Verfolgung erlebt haben. Natürlich wird dies immer „meine Auswahl“ sein.
Unter anderem aus diesem Grund betrachte ich „Sie“ als den ersten Teil eines größeren Ganzen. Zu einem späteren Zeitpunkt möchte ich mich mehr auf die queere Geschichte konzentrieren, und zwar in einem regionalen Rahmen. Dieser Prozess der „Queerisierung“ des Diskurses wird transnationaler werden.
Gemeinsam mit Mathias Foit (FU Berlin) und Alina Szeptycka (Kultura Równości/Wrocław) planen wir derzeit einen großen queerhistorischen Sammelband über Niederschlesien zwischen 1871 und 1969, der in Zusammenarbeit mit deutschen und polnischen Wissenschaftler:innen entstehen wird.

Interview, Übersetzung und Anmerkungen: moku

Der zweite Teil des Interviews erscheint in GWR 472.

(1) Der § 175 in der Fassung von 1935 drohte Männern bei „Unzucht“ mit einem anderen Mann mit Gefängnis. § 175a beschreibt die „Unzucht“ unter Machtmissbrauch, mit Gewalt oder Drohung, aber auch „gewerbsmäßige Unzucht“. Die Haftstrafen konnten bis zu zehn Jahre, aber mindestens drei Monate betragen. Quelle: https://www.
2mecs.de/wp/2010/06/1935-verschaerfung-paragraph-175/; mehr zum Thema: https://
lexetius.com/StGB/175/ und https://lexetius.com/StGB/175a
(2) „Der Begriff Generalgouvernement [...] bezeichnete […] die Gebiete der früheren Zweiten Polnischen Republik, die 1939–1945 vom Deutschen Reich militärisch besetzt und nicht unmittelbar durch Annexion in das Reichsgebiet eingegliedert wurden.“ Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Generalgouvernement
(3) Der Reichsgau Wartheland, benannt nach dem Fluss Warthe, kam nach der deutschen Besetzung Polens infolge einer völkerrechtswidrigen Annexion zum Deutschen Reich (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wartheland).
(4) Siehe: https://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU19320600571/O/D19320571.pdf
(5) Mit dem Roten Winkel wurden üblicherweise Menschen gekennzeichnet, die aus politischen Gründen in Haft waren; Häftlinge, die wegen § 175 verfolgt wurden, mussten in der Regel den Rosa Winkel tragen.
(6) Faktisch handelte es sich bei der Gesetzesänderung von 1969 um eine Streichung des bisherigen § 175. Weite Passagen des § 175a wurden nun unter § 175 gefasst, wenn auch in etwas abgemilderter Form. Die „gewerbsmäßige Unzucht“ wurde noch bis zur Reform 1973 kriminalisiert. Erst 1994 wurde der § 175 ersatzlos gestrichen; vgl. https://lexetius.com/StGB/175/
(7) In den Jahren 1772, 1793 und 1795 teilten die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich Polen-Litauen unter sich auf, sodass von 1795 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 mehr als 120 Jahre lang weder ein souveräner polnischer und noch ein souveräner litauischer Staat existierte. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Teilungen_Polens
(8) Claudia Schoppmann, „Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938–1945“, Querverlag, Berlin 1999, S. 14–15.

Joanna Ostrowska (geb. 1983) promovierte in Geschichte (Fakultät für Geschichtswissenschaften der Jagiellonen-Universität Krakau) und studierte außerdem am Institut für Audiovisuelle Künste der Jagiellonen-Universität, an der Fakultät für Judaistik der Jagiellonen-Universität, Geschlechterstudien (Gender Studies) an der Universität Warschau, am Institut für Hebräische Studien der Universität Warschau und an der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź. Akademische Dozentin, Filmkritikerin, Dramaturgin. Sie befasst sich mit Fragen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt während des Zweiten Weltkriegs und den vergessenen Opfern des Nationalsozialismus. Autorin des hochgelobten Buches „Verschwiegen. Sexuelle Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs“ (2018), für das sie mit dem renommierten Mauthausen-Memorial-Forschungspreis ausgezeichnet wurde. Für ihr Buch „Sie. Homosexuelle während des Zweiten Weltkriegs“ wurde sie in den Kategorie Publikumspreis mit dem Nike-Literaturpreis 2022 ausgezeichnet.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.