18 Jahre Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit

Die Vertuschung des Mordes an Oury Jalloh

| Initiative in Gedenken an Oury Jalloh

Am 7. Januar 2005 wurde Oury Jalloh im Dessauer Polizeigewahrsam von Polizeibeamten körperlich misshandelt, an Händen und Füßen auf eine Matratze in der Zelle 5 fixiert und verbrannt. Seitdem kämpfen wir als Initiative in Gedenken an Oury Jalloh an der Seite der Familie für die lückenlose Aufklärung der Brand- und Todesursache. Mittlerweile sind die Beweise eindeutig: Das war Mord! Doch die deutsche Justiz weigert sich nach wie vor, das zuzugeben. Stattdessen verstricken sich die Staatsanwaltschaften auf Kosten des Opfers in immer abstrusere Lügen und Widersprüche.

Während Polizei und Justiz von Anfang an die Welt glauben machen wollten, dass Oury das Feuer selbst gelegt habe, konnten seine in Dessau-Roßlau lebenden Freund:innen das nicht glauben. Die alltäglichen rassistischen Schikanen und körperlichen Übergriffe, welchen sich insbesondere die afrikanische Community seitens der Polizei ausgesetzt sah, begründeten das sofortige Misstrauen in die offizielle Version der „Selbstentzündung“. Diese stand bereits am ersten Tag fest und wurde durch die ermittelnden Behörden schnell in der Öffentlichkeit verbreitet.

Stigmatisierung des Opfers zum Schutze der Täter

Oury wurde in den Medien als asylsuchender Drogendealer stigmatisiert, der in stark alkoholisiertem Zustand „deutsche“ Frauen auf Dessaus Straßen belästigt haben soll. Tatsächlich hatte Oury die Frauen angesprochen, weil er telefonieren wollte.
In den Ermittlungsakten finden sich die Aussagen der Polizeibeamten, die ihn festgenommen haben. Sie behaupteten, dass er immer wieder versucht habe, seinen Kopf gegen die Tischplatte und gegen die Wand im Arztzimmer des Polizeireviers zu schlagen. Deshalb hätten die Beamten ihn zu seinem eigenen Schutz in der Zelle vierpunktfixieren müssen. Dieses wichtige Detail, die Fixierung, wurde allerdings erst Wochen später bekannt, nachdem die Anwält:innen der Familie Akteneinsicht bekommen hatten.
Seitdem steht die große Frage im Raum, wie sich ein Mensch, der an Händen und Füßen auf einer schwer entflammbaren Matratze festgekettet ist, selbst anzünden und bis zur Unkenntlichkeit verbrennen kann?

Kein Feuerzeug, dafür reichlich Brandbeschleuniger!

Am Tatort war nicht nach Brandbeschleunigern gesucht worden. Es war nicht einmal ein:e 
Brandsachverständige:r hinzugezogen worden. Kein:e Staats-anwält:in hat den Tatort an diesem Tag betreten. Gerade mal die Hälfte der Brandreste wurde von der Tatortgruppe des LKA Sachsen-Anhalt asserviert und erst drei Tage später ins Labor gegeben. Dort tauchte dann plötzlich ein verschmorter Feuerzeugrest auf. Mit diesem, so die bis heute offizielle Version der Staatsanwaltschaften, habe Oury die Matratze entzündet.
Ganze sieben Jahre später wurde dieser Feuerzeugrest im Rahmen des Revisionsverfahrens am Landgericht Magdeburg auf Antrag der Nebenklage erstmals genauer untersucht. Es gibt keine Spur von Ourys Kleidung, seiner DNA oder der Matratze an diesem so wichtigen „Beweismittel“. Stattdessen sind unzählige tatortfremde Faserreste gefunden worden, die heute aber angeblich nicht mehr zugeordnet werden können. Fakt ist, dass es physikalisch unmöglich ist, dass es im Brandschutt der Zelle 5 gelegen hat. Es ist ein manipuliertes Beweismittel und steht als Symbol für die dreiste Lüge von der „Selbstentzündung“.
Bereits im Jahr 2013 haben wir ein erstes unabhängiges Brandgutachten eines britischen Sachverständigen vorgestellt. Es belegt, dass Brandbeschleuniger zur Brandlegung benutzt worden sein müssen. Wir haben Anzeige wegen Mordes beim Generalbundesanwalt (GBA) gestellt und ihn gebeten, die Ermittlungen zu übernehmen, weil die Justiz in Sachsen-Anhalt die Aufklärung verweigert. Der GBA sah seine Zuständigkeit nicht gegeben und verwies die Anzeige nach Sachsen-Anhalt zurück.
Weil die Staatsanwaltschaft Dessau die Ermittlungen weiter verschleppte, haben wir weitere Gutachten in London in Auftrag gegeben. Verschiedene Expert:innen aus den Bereichen Brandforensik, Toxikologie und Gerichtsmedizin kamen zu der Feststellung, dass die Ermittlungen im Fall von Oury Jalloh systematisch fehlerhaft geführt worden waren.
Daraufhin sah sich die Staatsanwaltschaft Dessau dazu veranlasst, im August 2016 einen weiteren Brandversuch zu organisieren. Dieser hatte zum Ergebnis, dass selbst die behördlich bestellten Sachverständigen einräumen mussten, dass sich das Brandbild ohne die Verwendung von Brandbeschleunigern nicht erklären lässt.

Einstellung der Ermittlungen

Trotz der nun vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung des Feuers in Zelle 5 weichen die staatsanwaltlichen Erklärungsmuster weiterhin nicht von ihrer Täter-Opfer-Umkehr ab. Exemplarisch dafür steht der mehr als 200 Seiten umfassende Prüfvermerk der Generalstaatsanwaltschaft von Sachsen-Anhalt vom Oktober 2018, in welchem die endgültige Einstellung aller Ermittlungen im Fall von Oury Jalloh begründet wurde. (1) Dieser Prüfvermerk basiert allerdings nicht auf den Fakten, sondern auf reinen Fantasiegebilden und Unterstellungen. Die zuständigen Oberstaatsanwälte erklären darin, dass Oury die Matratze in Brand gesetzt haben „muss“, weil er auf diese Weise einen Brandalarm auslösen wollte, „um die Beendigung der Fesselung zu erzwingen.“ (S. 20)
Tatsächlich kann ausgeschlossen werden, dass Oury überhaupt um Hilfe geschrien hat, denn niemand hatte ihn schreien hören. Das wurde sogar anhand akustischer Versuche im Polizeirevier Dessau bereits im Jahr 2011 gerichtlich nachgewiesen. Deshalb unterstellen die Oberstaatsanwälte dem Opfer eine absolute „Schmerzunempfindlichkeit“ und sehen in dieser auch gleich einen weiteren Beleg für das „auch sonst nicht nachvollziehbare Verhalten“ (S. 43) von Oury Jalloh.
Dass auch Ourys toxikologische Werte (keine Stresshormone im Urin und kein Kohlenmonoxid im Herzblut) eindeutige Indizien dafür sind, dass er entweder bewusstlos oder bereits tot war, als er angezündet wurde, wird dabei völlig ignoriert. Die staatsanwaltliche Argumentation ist bereits an diesem Punkt nicht nachvollziehbar, steigert sich aber noch weiter und hat ihren Höhepunkt in der Behauptung: „Dass Ouri Jallow im Besitz eines roten Kunststofffeuerzeugs in der Zelle gewesen sein muss, ergibt sich als Schlussfolgerung daraus, dass nur er selbst als Brandverursacher im Ausschlussweg verbleibt.“ (S. 44f)

Kriminalisierung des Opfers zum Schutze der Täter

Die Oberstaatsanwälte entlarven sich in ihren Begründungen immer wieder darin, dass sie durchaus in der Lage sind, ihre Fantasie bis in absurde Abgründe anzustrengen, wenn es darum geht, aus dem Opfer einen monströsen Täter werden zu lassen: Ein betrunkener und unter Drogen stehender, „schmerzunempfindlicher“ Asylbewerber mit Drang zu einem „stark selbstschädigenden Verhalten“ (S. 43) zündet eine Matratze an und verbrennt dabei unbeabsichtigt selbst, wobei er „nach dem Abbrennen des Matratzenkerns das Feuerzeug in seiner Kleidung oder unter seinem Körper verbarg, um seine Verantwortung für den Brandausbruch zu verschleiern zu versuchen.“ (S. 20)
In Hinblick auf Ourys Charakter und sein Verhalten setzen die Oberstaatsanwälte ihrer Fantasie also keine Grenzen. Wenn es aber um den Charakter und das Verhalten der Polizeibeamt:innen geht, dann wird dieses unhinterfragt an ihren eigenen Zeug:innenaussagen festgemacht. Die Oberstaatsanwälte geben vor, dass die Zeug:innen-aussagen vom 7. Januar 2005 im Kernbereich in sich schlüssig wären und sich zu einem „nachvollziehbaren Lebenssachverhalt zusammenführen“ (S. 37) lassen könnten. Zudem würden sie auch nicht „in unauflösbarem Widerspruch zu sonstigen Beweismitteln“ (ebd.) stehen. Für den von unserer Initiative vorgetragenen institutionellen Rassismus im Polizeirevier Dessau „fehlen jegliche Beweisanknüpfungstatsachen“ (S. 66), behauptet der Prüfvermerk. Ein polizeiliches „Mordkomplott“ (S. 44) ist für die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg angeblich nicht vorstellbar.

Oury Jalloh – rassistischer Mord durch die Polizei von der Justiz vertuscht

Wir werten den gesamten Vermerk zur Einstellung der Ermittlungen im Fall von Oury als bösartiges Täuschungsmanöver, um die von uns in jahrelanger Arbeit medienwirksam vorgetragene Beweislage zu delegitimieren. Polizeibeamt:innen haben Oury Jalloh ermordet, und die Justiz vertuscht es. Seit nunmehr 18 Jahren sind wir Zeug:innen verschiedener staatlicher Vertuschungsstrategien geworden, und wir haben diese durch unsere eigene Aufklärungsarbeit weitestgehend aufgedeckt: systematisch fehlerhafte Ermittlungsarbeit, manipulierte Beweismittel, Verschleppung und Repression gegen die Familie und unsere Initiative.
Die Täter-Opfer-Umkehr ist der perfide Kern der Vertuschung, das Grundgerüst, auf welchem alle staatsanwaltlichen Argumentationsmuster basieren. Sie dienen zum Schutze der Täter:innen in Uniform und legitimieren dadurch deren Taten. Im Fall von Oury Jalloh geht es nicht um Polizeiversagen, Justizversagen oder Staatsversagen. Es handelte sich von Anfang an um eine vorsätzliche Vertuschung eines rassistischen Verbrechens durch die jeweils zuständigen Behörden.

Weitere Verschleppung durch das Bundesverfassungsgericht

Gegen die Einstellung der Ermittlungen hatte Ourys Bruder Mamadou Saliou Diallo bereits im November 2019 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Eine Entscheidung darüber gibt es bis heute, auch drei Jahre später, noch nicht. In der Stellungnahme der Bundesanwaltschaft vom Februar 2022 heißt es erneut, dass es keinen institutionellen Rassismus im Polizeirevier gäbe; sie stellt klar, dass „selbst das Vorliegen eines solchen Rassismus noch kein Mordmotiv begründen würde.“
Im November 2021 haben wir erneut ein Brandgutachten vorgelegt. Diesmal konnte unter Anleitung des britischen Experten Iain Peck in einem originalgetreuen Nachbau der Zelle  5 
das Brandbild mit Hilfe von zwei Litern Benzin nahezu perfekt rekonstruiert werden. Das Gutachten wurde dem Generalbundesanwalt vorgelegt. In seinem Antwortschreiben an die Rechtsanwältin der Familie vom Dezember 2021 erklärt er sich für weiterhin nicht zuständig.
Je mehr Zeit vergeht, je mehr Beweise durch unsere unabhängige Aufklärungsarbeit an die Öffentlichkeit gekommen sind, umso unverschämter und offenkundiger werden ihre Lügen. Deshalb werden wir weiter für Gerechtigkeit kämpfen, für Oury und für seine Familie und alle anderen Opfer von Polizeigewalt!
Oury Jalloh – das war Mord!