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Feindbild Erwerbslose

Wie der „Bürgerblock“ gegen arme Menschen kämpft

| Peter Nowak

Foto: Jean Pierre Hintze, https://flic.kr/p/iSYBi, (CC BY-SA 2.0)

„Ich fühle mich im Stich gelassen, da die ARGE immer noch die für mich so wichtigen 200 Euro nicht überwiesen hat. Ich habe zwei Hunde, muss meine Haftpflicht und Futter usw. bezahlen und sitze auf dem Trockenen.“

Diese Klage stammt von einer wohnungslosen Person und ist Teil des Kunstprojekts „Still alive“, das bis 7. Januar 2023 in der PSM-Galerie in Berlin-Schöneberg zu sehen ist. Dort gibt die Künstlerin Almut Linde wohnungslosen Menschen in Berlin eine Stimme. Sie hat mit verschiedenen dieser Menschen gesprochen und sie gebeten, ihre Gedanken und Gefühle aufzuschreiben. Diese Notizen finden sich an den Wänden der Galerie. Sie erzählen von den alltäglichen Problemen beim Kampf ums Überleben, wenn man keinen Rückzugsort hat. Aber sie zeigen auch den Widerstandswillen der Menschen, die sich durch die widrigen Umstände nicht unterkriegen lassen wollen.
Wie in der zitierten Notiz sind die Arbeitsagenturen und Jobcenter immer ein Thema, denn sie bestimmen das Leben der armen Menschen, auch wenn sie nicht auf der Straße leben. Der Zwang, sich den durch das Hartz-IV-Regime durchgesetzten Zumutungen aussetzen zu müssen, die Angst, dass das Geld, das sowieso schon nicht zum Leben reicht, durch Sanktionen noch weiter minimiert wird, beherrschen das Leben der armen Menschen.
Der Begriff „arm“ ist hier nicht moralisch gemeint. Vielmehr sollen damit – dem Vorschlag des aktivistischen Sozialforschers Harald Rein folgend – Menschen bezeichnet werden, die unter dem Existenzminimum leben müssen. Viele von ihnen müssen trotz Lohnarbeit mit Hartz IV aufstocken, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht, andere sind in Teilzeitarbeit oder in informellen Beschäftigungen. Doch das Merkmal ist eben, dass sie auf staatliche Leistungen angewiesen sind.
Harald Rein hat in seinem im Verlag AG SPAK erschienenen Buch „Wenn arme Menschen sich nicht mehr fügen“ auf die historischen Kämpfe der armen Unterklassen hingewiesen, die durchaus wirkungsmächtig waren. So zeigt er auf, wie sich in der Früh- und der Endphase der Weimarer Republik die Erwerbslosenbewegung mit starken Protesten gegen die weiteren Verschlechterungen ihrer Lebensbedingungen wehrte. Die Aktivist*innen besetzten damals auch Büros der SPD-nahen Gewerkschaftsbewegung. Trotzdem ist über ihre Kämpfe heute wenig bekannt, weil sie sich autonom, das heißt unabhängig von Parteien und sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften, organisiert hatten. In der Weimarer Zeit wurden sie weder von der SPD noch vom ADGB, wie damals der DGB-Vorläufer hieß, unterstützt.
Daran hat sich bis heute wenig geändert, wie die Diskussion um das Bürgergeld zeigte, mit dem die gegenwärtige Regierungskoalition Hartz IV nicht etwa beerdigen, sondern modifizieren wollte. Es sollte einige Erleichterungen geben, die für Millionen Menschen reale Verbesserungen wären.

Kaum Proteste von links für ein Ende des Hartz-IV-Regimes

Nun hätte man erwarten können, dass eine Protestbewegung entsteht, die diese Ankündigungen zum Anlass nimmt für eine Kampagne, um das gesamte Sanktionsregime, in das arme Menschen gepresst werden, abzuschaffen. Die Gelegenheit dazu schien günstig, weil sich seit einigen Monaten verschiedene linke Gruppen angesichts von Inflation und Energiekrise auf einen heißen Herbst der Sozialproteste vorbereiten.
Dabei bildeten sich sehr unterschiedliche Zusammenschlüsse, wie am Beispiel Berlins gezeigt werden soll. Unter anderem gibt es das den Linkskonservativen um Sahra Wagenknecht nahestehende Bündnis „Heizung, Brot und Frieden“. Verschiedene linke Gruppen formierten sich zum Bündnis „Umverteilen jetzt“, das mit ca. 7.000 Menschen zu einer Demonstration am 12. November 2022 die meisten Menschen auf die Straße bringen konnte. Dort war auch eine weitere Kampagne unter dem Namen „Wer hat, der gibt“ vertreten, die schon seit Herbst 2020 die Umverteilen-Forderung bekannt machen will.

Man hätte erwarten können, dass eine Protestbewegung entsteht, die die Bürgergelddebatte zum Anlass nimmt für eine Kampagne, um das gesamte Sanktionsregime, in das arme Menschen gepresst werden, abzuschaffen.

Daneben gibt es noch das Bündnis „Genug ist Genug“, das betriebliche Kämpfe und den Protest gegen Inflation und Energiekrise zusammenbringen will. Bei deren Auftaktveranstaltung in Berlin war positiv zu vermerken, dass dort Beschäftigte der Berliner Stadtreinigung, aus Krankenhäusern und Schulen, aber auch von der Initiative #IchBinArmutsbetroffen über ihre Situation sprachen.
Doch diesen Bündnissen ist es bisher nicht gelungen, größere Massen zu mobilisieren. Wie so oft, wenn die Phrase vom heißen Herbst bemüht wird, bleibt dann vor allem heiße Luft.

Reaktionärer Angriff auf die Armen

Dabei haben all diese Bündnisse den massiven Angriff des Bürgerblocks verpasst, der von der AfD über die Unionsparteien bis zur FDP reichte. Ziel war, selbst die minimalen Verbesserungen, die die Regierungskoalition mit dem Bürgergeld plante, zu verhindern. Die Regierungsparteien waren schnell bereit, darauf einzugehen. Es handelt sich um drei entscheidende Punkte:

  • Die so genannte Karenzzeit, in der Bürgergeldbeziehende weder Rücklagen aufbrauchen noch umziehen oder einen Teil der Miete zahlen müssen, wurde halbiert. Für Menschen, die neu Bürgergeld beantragen, übernehmen die Jobcenter ein Jahr lang Miete oder Wohnungsrate in unbegrenzter Höhe. Die Regierung wollte den Menschen ursprünglich zwei Jahre Zeit geben, ohne Druck einen neuen Job zu finden.
  • Ein Schonvermögen von 40.000 Euro plus 15.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied muss in dieser Zeit nicht aufgebraucht werden. Die Ampel hatte die geltende Regel verlängern wollen, wonach Vermögen in Höhe von 60.000 Euro plus 30.000 Euro pro Mitbewohner*in geschützt ist.
  • Sanktionen, also eine Kürzung des Bürgergeldes, wenn Termine versäumt oder Maßnahmen geschmissen werden, können von Anfang an verhängt werden. Die Regierungsparteien wollten eine sechsmonatige Vertrauenszeit einführen, in der man kaum Sanktionen zu fürchten brauchte.
Leistungsloser Müßiggang

AfD-Politiker*innen schwadronierten darüber, dass leistungsloser Müßiggang verhindert werden müsse, und garnierten ihren Kampf gegen die Armen mit Rassismus, indem sie die angebliche „Einwanderung von Fremden in die deutschen Sozialsysteme“ anprangerten. Damit unterschieden sie sich höchstens graduell von der Unionskampagne und der FDP.
Nur die außerparlamentarische Linke war kaum präsent. Dabei hätte sich hier die Gelegenheit ergeben, unter dem Motto „Gegen deutschen Arbeitszwang“ vor die Jobcenter zu ziehen und sich mit den armen Menschen, seien es Roma, Geflüchtete aus Afrika oder Hartz-IV-Bezieher*innen mit deutschem Pass, zu solidarisieren.
Das wäre auch ein Beitrag zum Antifaschismus gewesen, wenn man diesen Bürgerblock angegriffen und die AfD als Partei markiert hätte, die den Klassenkampf von oben am vehementesten führt. Ihre nationalistischen Aufmärsche haben nichts mit Sozialprotest zu tun, sondern sind das komplette Gegenteil: Sie verhindern ihn.

Peter Nowak (peter-nowak-journalist.de) gibt im nächsten Jahr gemeinsam mit Anne Seeck, Gerhard Hanloser und Harald Rein das Buch „Wenn es zum Leben nicht mehr reicht … Widerstand gegen Hartz IV und die aktuellen Teuerungsproteste: Analyse, Vergleich und Perspektive“ heraus.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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