Martin Birkner (Hg.): Emanzipatorische Wissenschaftskritik in Zeiten von Klimakrise & Pandemie; Mandelbaum Verlag, Wien 2022, 328 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-85476-914-9
Sammelbände zu besprechen ist immer so eine Sache. Schon der Herausgeber vermerkt die Brutalität, die darin besteht, die komplexe Thematik einzelner Beiträge auf zwei oder drei Sätze einzudampfen (S.16). Dieser undankbaren Aufgabe möchte ich hier ausweichen, indem ich nur auf ein paar Texte kurz eingehe. Wohl aber ist es mir ein Anliegen, die Essenz des Buches herauszustellen. Was ist Wissenschaftskritik, und warum ist sie gerade heute so bedeutsam?
Wissenschaftskritik, kritisch sein, kritisch bleiben. Der Impuls dazu: eine unbefangene, ja kindliche – in späterer Verschulungszeit in der Regel weitgehend ausgetriebene – Neugier, ein immerwährendes Fragestellen („frag nicht so dumm“ – in der Formulierung lauert bereits die Gleichsetzung von Fragen = Nichtakzeptanz von Herrschaftswissen = Dummheit), eben auch: ein Erkenntnisinteresse.
Die Automatisierung der Alltagswelt, inklusive intelligenter Kühlschränke, smart cities, und die totale Überwachung sind Auswüchse einer Wissenschaft, die eine in den Dienst von Staat und Kapital genommene Wissenschaft ist: Herrschafts-Wissenschaft, die im Verhältnis zu den Beleidigten und Unterdrückten der Erde nicht minder kolonial agiert wie zu Hoch-Zeiten des Kolonialismus. Nicht mehr utopisch, wohl aber dystopisch erscheint der Transhumanismus, die Verschmelzung des Menschen mit der Maschine. Warum ist das Ende der Welt – samt Klima-GAU – denkbarer als eine Welt, in der Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung leben können?
Selten war so wenig Widerstand wie heute.
Wo also bleibt die Wissenschaftskritik, die mehr ist als eine „kritische Wissenschaft“, die einzelne Wissenschaftsdisziplinen bloß kritisch begleitet? Denn Wissenschaftskritik unterzieht die Ideologien um Wissenschaft, die Wissensproduktion und ihre Folgen selbst einer Bestandsaufnahme, setzt also im Kern an: es geht ums Ganze. Emanzipatorische Wissenschaftskritik ist Institutionen- wie Ideologiekritik und nicht nur Begleitakkord zu einigen Auswüchsen von Wissensmacht und riskantem Forschungseifer.
Der Blick in die Gegenwart erweist die Bedeutung einer solchen grundsätzlichen Kritik von Wissenschaft, die alles ist – nur nicht unwissenschaftlich. Denn sowohl ist das Fragestellen aus der Mode gekommen wie auch der umfassende bio-technologische Angriff auf die Menschheit nie zuvor gekannte, zerstörerische Ausmaße angenommen hat. Eine Wissenschaftskritik, die den Namen verdient, würde mehr gebraucht denn je.
Bereits der erste Artikel des Buches, von Franz Schandl, ist ein Extrakt bester kritischer Theorie. Er entzaubert den Glauben an die reinen Zahlen, das Blendwerk von „Faktenchecks“, die doch nur das Bestreben haben, kritische Positionen wahlweise lächerlich zu machen und so abzuspalten aus der Gemeinschaft oder in den hegemonialen Konsens wieder einzuhegen. Schandl tut dies nicht auf die oberflächliche Weise eher esoterischen „Wissens“, sondern mit Bezug auf Marx, Adorno & Co. Dieser Essay, in wenigen Sätzen heruntergebrochen, ist ein Aufruf zur Wiederaneignung substantieller Kritik, formuliert in Zeiten, da Kritik als gefährliche „Abweichung“ diffamiert wird.
Nach diesem beeindruckenden Auftakt haben die folgenden Beiträge einen schweren Stand. Mona Singer versucht sich an einer technikphilosophischen Kritik von Technologieentwicklung, wobei der Text fundiert, doch auch voraussetzungsvoll ist. Die Autorin kann die große Thematik nur anreißen, es ist tatsächlich eher der Stoff für ein ganzes Buch – bzw. hätte eine stärkere Pointierung auf einen beispielhaften Aspekt dem Text eine größere Verständlichkeit gegeben.
Maria Wölflingseder hat sich zwar nicht auf ein Themenfeld konzentriert, sondern auf die zwei Themen Impfungen (und hier speziell Totimpfstoffe) und 5G, kann aber recht überzeugend nachweisen, dass gesundheitliche Gefährdungen, gar eine sozusagen ganzheitliche Technologiefolgenabschätzung nicht im Fokus stehen bei der Durchsetzung dieser Technologien. Im Gegenteil: Es geht ums Geschäft, und wer dieses stören will, wird – primär verbal – kaltgestellt. „Die Erkenntnisse einst vielbeachteter kritischer Wissenschaftler wie Günther Anders, Erwin Chargaff, Robert Jungk, Ivan Illich oder Paulo Freire würden heute wohl als Fake News in Abrede gestellt“ (S. 106), mutmaßt sie. Unter diesen Vorzeichen sind selbst vordergründig zum Wohl der Menschen eingerichtete Disziplinen wie die Arbeitsmedizin lediglich Herrschaftstechniken zur optimierten Verwertung der Menschen, d.h. der Profitmaximierung.
„Wo bleibt der heilige Zorn?“, fragte Maria Wölflingseder einmal in einem Zeitungsartikel angesichts dieser Entwicklung in Bezug auf den Wissenschaftskritiker Erwin Chargaff. Die Faktenlage ihres Buchbeitrages – und der anderen Beiträge – vermögen den Zorn aus einem unsortierten, oft verquasten „alternativen Denken“ in Ansatzpunkte radikaler Kritik zu überführen. Wenigstens für jene, die sich dieser Lektüre annehmen.
Ein solches Buch kann nur ein Anfang sein auf dem Weg der Reaktivierung von Wissenschaftskritik. Vieles fehlt, etwa ein Update der besonders in den 1980er Jahren für einige Zeit engagiert vorgebrachten Kritik an den Gen- und Reproduktionstechnologien sowie der Bevölkerungspolitik. Auch die Ökonomisierung von Sozialer Arbeit sowie Kranken- und Altenpflege verdiente einen Beitrag. Aufgrund der Zahlenfixierung und dem Druck, „Erfolge“ vorzeigen zu können, um sich zu legitimieren, wird die wissenschaftliche Qualifizierung vernachlässigt – von der fehlenden Orientierung an den Bedürfnissen der diesen Disziplinen ausgesetzten Menschen einmal ganz abgesehen. Der Fokus dieses Buches liegt auf marxistischen Theorien, weshalb anarchistische Positionen – wie von Paul Feyerabend – fehlen. Dennoch: Dieses Buch ist ein illustrativer Kommentar zum Klimawandel, und zugleich ein Impulsgeber, in dem Diskurse, die die Essenz der Herausbildung von Wissenschaft bilden sollten, tabuisiert werden.