Anarchie oder Chaos?

Der Anarchist Acharya und der indische Freiheitskampf

| Dieter Nelles

Ole Birk Laursen: Anarchy or Chaos: M. P. T. Acharya and the Indian Struggle for Freedom. ‎C Hurst & Co Publishers Ltd, London 2023, 352 Seiten, 56 Euro, ISBN 978-1787389489

In seinen unveröffentlichten Memoiren schrieb Rudolf Rocker über seine Beziehungen zu einem Kreis indischer Student*innen und Exilant*innen in Berlin. „Fast alle waren ausgesprochene indische Nationalisten, doch gab es unter ihnen auch einige, die für freiheitliche Ideen ein reges Interesse bekundeten“. Namentlich erwähnt Rocker den bekannten indischen Nationalisten Virendranath Chattopadhyaya (Chatto), den der Anarchosyndikalist durch Emma Goldman kennengelernt hatte, und den „jungen Kamerad Acharya“, der einige Jahre in Berlin gelebt habe und dann nach Indien zurückgekehrt sei (S. 128).
Als Rocker 1922 M. P. T. Acharya in Berlin kennenlernte, hatte dieser schon ein bewegtes politisches Leben hinter sich. Er wurde 1887 in Madras geboren. Als Herausgeber einer Zeitung floh er vor einer drohenden Verfolgung 1908 nach Paris und kurze Zeit später nach London, wo er sich in indischen nationalistischen Kreisen bewegte. 1909 misslang sein Versuch, sich in Marokko der bewaffneten Rebellion gegen den spanischen Kolonialismus anzuschließen, um die Taktiken des Guerilla-Kriegs kennenzulernen. In den nächsten Jahren besuchte er Berlin, München. Im November 1911 war er in Konstantinopel, um muslimische Unterstützung im Kampf gegen die Briten zu gewinnen. 1912 zog er nach New York und 1914 nach San Francisco, wo er die tamilische Ausgabe der hinduistischen Ghadar Bewegung herausgab, die 1913 von seinem Freund Har Dayal gegründet wurde, der Mitglied der IWW war und Kontakte zur Anarchistin Emma Goldman hatte.
Zu einem überzeugten Sozialisten und Anarchisten wurde Acharya aber erst einige Jahre später. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges suchten die indischen Antikolonialisten zunächst das Bündnis mit dem kaiserlichen Deutschland. Er gehörte mit seinem Freund Chatto zu den Gründern des „Berliner Komitees“, das mit Unterstützung „der Nachrichtenstelle für den Orient“ den Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft organisieren wollte. Er verbrachte die nächsten beiden Jahre in Konstantinopel und im Nahen Osten, mit dem Ziel, ein indisches Freiwilligenkorps zu bilden. Im September 1917 nahmen Acharya und Chatto an der internationalen sozialistischen Konferenz in Stockholm teil. Jedoch zeigten die sozialistischen Parteien der Kolonialländer kein Interesse für die Interessen der Inder. Dies war anders bei den Bolschewiki, die zur Unterstützung der Kolonien gegen den Imperialismus aufriefen.
Im Dezember 1918 reiste Acharya mit einer Gruppe indischer Nationalisten nach Moskau und war Mitglied einer Delegation, die im Mai 1919 mit Lenin zusammentraf. In den nächsten beiden Jahren pendelte er zwischen Kabul und Taschkent, wo er im Oktober 1920 zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Indiens gehörte. Aber schon wenige Monate wurde er ausgeschlossen, weil er die Befreiung Indiens nicht den Interessen der Komintern unterordnen wollte. Er ging nach Moskau, wo er seine Frau, die Malerin Magda Nachmann, kennenlernte und enge Kontakte zu AnarchistInnen unterhielt. Da die politische Situation in der Sowjetunion zunehmend schwieriger wurde, flohen Acharya und seine Frau Ende November 1922 nach Berlin.
Dort nahm Acharya mit einer Gruppe von Indern am Gründungskongress der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) teil, auf dem eine Gruppe gebildet wurde, die anarchistische Literatur nach Indien senden sollte. Dieses Vorhaben wurde aber schnell von der indischen Regierung verboten und auch die Versuche, indische Arbeiterorganisationen mit der IAA zu verbinden, scheiterten. In Berlin wurde Acharya zum bewussten Anarchisten. Er schrieb und übersetzte Artikel für die Theoriezeitschrift der IAA, Die Internationale und den Pressedienst der IAA. Zudem hatte er enge Kontakte zur Internationalen Antimilitaristischen Kommission und seine Artikel erschienen weltweit in der anarchistischen Presse.
Seinem Freund Chatto assistierte er auf dem Gründungskongress der Liga gegen den Imperialismus in Brüssel 1927. Aber aufgrund seiner ausgeprägten antibolschewistischen Haltung kam es bald zum Bruch mit Chatto.
Acharya setzte sich lebenslang intensiv mit Gandhi auseinander, blieb aber ambivalent gegenüber seinen Ideen und Praktiken. Anlässlich des Salzmarsches 1930 schrieb er: „Ohne ein Anhänger Gandhis zu sein, bin ich ein Bewunderer des Gandhismus, wie er heute in Indien praktiziert wird“. Gandhi „überholte und verunsicherte die Regierung und ihre Bereitschaft, ihre errungene Vorherrschaft über alle zu nutzen und zu rechtfertigen. Als solcher agierte er als anarchistischer Taktiker ersten Ranges“ (S. 153).
Nach der Machtübernahme der Nazis wurde das Leben für Acharya und seine „halbjüdische“ Frau zu gefährlich in Berlin. Sie reisten im Februar 1934 nach Zürich und wenige Monate später nach Paris. Im April 1935 kehrte Acharya nach Indien zurück. In Bombay war er politisch weitgehend isoliert und seine Versuche, den Anarchismus in Indien zu verbreitern, fanden nur ein geringes Echo. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er wieder Kontakte zur anarchistischen Bewegung in Europa, den USA und Japan auf. Nach dem Tod seiner Frau, von deren Einnahmen als Malerin das Ehepaar hauptsächlich lebte, starb er völlig verarmt 1954 in Bombay.
Acharya wurde nicht nur in der Geschichtsschreibung des indischen Unabhängigkeitskampfes, sondern auch in der des Anarchismus übersehen. Seine Biografie, so Laursen mache deutlich, dass er nicht „am Rande der internationalen anarchistischen Bewegung“ agierte, sondern eine „weltweit bekannte Persönlichkeit“ war (S. 11.). Bei dem Buch von Laursen handelt es sich um eine bedeutende wissenschaftliche Arbeit, die das Resultat zehnjähriger Forschung in fast 30 Archiven weltweit ist. Man kann nur hoffen, dass es trotz der englischen Sprache und des hohen Preises auch in Deutschland zur Kenntnis genommen wird. Wer sich näher mit dem Thema beschäftigen will, empfehle ich den ausführlichen Rezensionsaufsatz von Melitta Waligora über „Anarchismus in Südasien“. (1)

(1) https://www.iaaw.hu-berlin.de/de/region/suedasien/publikationen/sachronik/13-forschungsbericht-waligora-melitta-nachdenken-uber-anarchismus-in-sudasien.pdf