Anarchistisches Lesebuch

| Maurice Schuhmann

Olaf Briese (Hrsg.): Anarchistisches Lesebuch. Band I: Vormärz: 1822 bis 1847 / Band II: Revolution und Reaktion: 1848 bis 1853, 2 Bände, Edition AV, Bodenburg 2023, 281 Seiten (Band 1), 305 Seiten (Band 2); 24,50 Euro pro Band,ISBN 978-3868413007

„Ein anarchistisches Lesebuch? Eine Quellensammlung anarchistischer Texte der Jahre vor 1848? Es ist endlich an der Zeit“, schreibt Olaf Briese im Vorwort zum ersten Band des „Anarchiste[n] Lesebuch[es]“. Die Idee ist an sich gut. Bereits Max Nettlau, der „Herodot des Anarchismus“, forderte auf, nach weiteren anarchistischen Spuren in der Geschichte zu suchen und die von ihm erstellte „Geschichte der Anarchie“ zu erweitern und zu ergänzen. Briese tut dies ein Stück weit, indem er Textpassagen aus der Zeit des deutschen Vormärzes und der Revolution von 1848/49 zusammengetragen und thematisch sortiert hat, die er als „anarchistisch“ klassifiziert. Leider definiert er nicht klar, was er unter „anarchistisch“ versteht. Bei einzelnen Passagen ist der Bezug über Namensnennungen wie den von Godwin oder Stirner bzw. den Gebrauch des Wortes „Anarchie“ gegeben. Wobei auch hier schon das Problem auftaucht, dass der prejorative Gebrauch des Begriffs „Anarchie“, wie er bis zur Adaption des Begriffs durch Pierre-Joseph Proudhon vorherrschte, nicht weiter problematisiert wird. Es kann daher sicherlich bei der einen oder anderen Passage hinterfragt werden, ob es wirklich etwas mit „unserem“ Verständnis von Anarchie zu tun hat. Und die Tatsache, dass sich in frühsozialistischen Texten anarchophile Passagen finden, ist keine neue Erkenntnis. Schließlich ist der Anarchismus, wie auch sein „feindlicher Bruder“, der (marxistische) Kommunismus, aus dieser Strömung entstanden. Mit Proudhon haben wir zudem eine Figur, die eine Scharnierfunktion zwischen beiden Strömungen darstellt. Auch die Bedeutung Proudhons in der sozialistischen Bewegung in den 1840er Jahren in Deutschland ist weitgehend bekannt.
Der erste Band umfasst (vorrangig) Texte bis 1848 – unterteilt in zehn Kapitel plus ein knappes Vorwort; der zweite – unterteilt in achtzehn Kapitel und ebenfalls ein knappes Vorwort. Die ausgewählten Texte entstammen dem Umfeld des Junghegelianismus (Engels, Ruge), dem Jungen Deutschland (Börne), dem Frühsozialismus (Weitling, Heß) und dem Frühananarchismus (Stirner, Proudhon, Edgar Bauer). Hier taucht bereits die nächste Verwirrung auf – warum sind hier zu den deutschsprachigen Texten auch der französische Anarchist Proudhon sowie der russische Nihilist Alexander Herzen in einer Zusammenstellung zum deutschen Vormärz zu finden? Nur weil sie übersetzt vorlagen? Das wäre etwas dürftig als Begründung.

Vieles ist der sprichwörtliche kalte Kaffee – seien es die Passagen aus Stirner, Bauer, Weitling, Heß oder aus Engels’ „Triumph des Glaubens“ (bereits in den blauen Bänden der MEW erschienen) über Stirner. Große Teile des Lesebuches könnten jedem x-beliebigen Sammelband zu Frühsozialismus oder Junghegelianismus entstammen. Dabei gibt es aber auch ein paar interessante, weniger bekannte Texte – z. B. von Louise Aston oder Louise Otto oder aus der Berliner Abend-Post.

In den thematisch sortierten Kapiteln gibt es dann häppchenweise Textpassagen, wobei nicht direkt dabei steht, aus welchem Jahr oder von wem diese stammen. Man fühlt sich direkt an Nietzsches Aussage erinnert: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: Sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Übrige und lästern auf das Ganze.“
Eine nähere Einordnung in den Entstehungskontext würde hier gut tun. In der jetzigen Form könnte man es vielleicht nicht als ein „Lesebuch“, sondern eher als eine „Collage“ titulieren, was Briese hier vorlegt.
Insgesamt weiß mich dieses Lesebuch nicht zu überzeugen. Gerade von einem Autor und Forscher wie Olaf Briese hätte ich mehr erwartet, da er einer der besten Kenner der Materie aktuell im deutschsprachigen Raum sein dürfte. Es ist eine Fleißarbeit, die Textpassagen zusammenzustellen. Eine klare Definition von dem, was „Anarchismus“ als Grundlage hat, wäre gut gewesen, eine klare Kennzeichnung der Autor_innenschaft der einzelnen Passagen inkl. des Erscheinungsjahres (alleine schon vor/nach Proudhons „Ehrenrettung“ des Begriffs) direkt unter der zitierten Passage hätte der Sammlung gut getan.