Letzte Wege in die Freiheit

Gewaltfreier Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft im Elsass

| Henriette Keller

Thomas Seiterich: Letzte Wege in die Freiheit. Sechs Pfadfinderinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2023, 208 Seiten, ISBN 978-3777631912, 24 Euro

Am 22. Juni 1940 besiegelt der Waffenstillstand von Compiègne die faktische Kapitulation Frankreichs vor der nationalsozialistischen deutschen Wehrmacht. Ein Großteil Frankreichs ist nun deutsch besetzt; der unbesetzte Teil des Landes wird von dem mit den Deutschen kooperierenden Vichy-Regime unter Marschall Pétain verwaltet. Anders die Region Elsass-Lothringen: Sie wird von Deutschland umstandslos annektiert und einer brutalen Zwangsgermanisierung unterzogen. Alles Französische wird verboten. In der Öffentlichkeit Französisch zu sprechen oder auch nur eine Baskenmütze zu tragen ist strafbar. Über Nacht gelten die Elsässer*innen, ob sie das wollen oder nicht, als Deutsche; die jungen Männer werden zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen.
So wird das Elsass Aus- und Durchgangsregion massiver Fluchtbewegungen: Jüdinnen und Juden, Antifaschist*innen, Kriegsdienstverweigerer und der deutschen Kriegsgefangenschaft entflohene französische Soldaten versuchen sich verzweifelt in die relative Sicherheit Vichy-Frankreichs zu retten.
Für sein Buch „Letzte Wege in die Freiheit“ hat Thomas Seiterich die Geschichte einer außergewöhnlichen Gruppe von Résistantes recherchiert. Sechs junge Frauen im Alter von 17 bis 27 Jahren, Mitglieder der katholischen Pfadfinderinnenbewegung „Guides de France“, finden sich in Strasbourg zu einer Fluchthilfegruppe zusammen. Die Empörung über das Naziregime ist ihr Antrieb, das christliche Gebot tätiger Nächstenliebe die Richtschnur ihres Handelns. Da sie seit früher Jugend Wanderungen und Ausflüge in der Region unternommen haben, sind sie mit dem Terrain bestens vertraut und machen immer neue Schleichwege ausfindig. Ihrem Umfeld gelten sie als behütete Mädchen aus gut katholischen Elternhäusern, des politischen Aktivismus durchaus unverdächtig. So gelingt es ihnen, von Herbst 1940 bis zu ihrer Enttarnung im März 1942 Hunderte von Verfolgten über die grüne Grenze zu führen – unterstützt von einem Netz solidarischer Menschen, die den Fliehenden Unterkunft, Verpflegung und Hilfe bei der Weiterreise in die rettende Freiheit bieten.
Eine schwere bündnispolitische Fehleinschätzung und ein kleiner logistischer Fehler führen im Spätwinter 1942 zur Katastrophe: Die Pfadfinderin Lucie Welker fällt der Gestapo in die Hände. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung werden Hinweise auf die anderen Fluchthelfer*innen gefunden. Nur die Jüngste der Gruppe kann sich retten, indem sie nach Vichy-Frankreich flieht. Die anderen werden nacheinander verhaftet; ebenso einige Unterstützer*innen. Nach zermürbenden Verhören und qualvollen Monaten der Haft im Lager Schirmeck wird die Gruppe in einem Schauprozess des eigens nach Strasbourg angereisten Volksgerichtshofs unter dem Vorsitz des berüchtigten NS-Richters Roland Freisler verurteilt. Lucienne Welschinger, die älteste der Pfadfinderinnen, versucht die anderen zu schützen, indem sie alle Verantwortung für das Fluchthilfeunternehmen auf sich nimmt. Zusammen mit vier Menschen aus dem Unterstützernetzwerk wird sie wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, die anderen Angeklagten zu langen Haftstrafen.
Wie die Fluchthelfer*innen die schrecklichen Jahre bis zur Befreiung 1945 er- und überleben, schildert der letzte Teil des Buches.
Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass er nicht nur Historiker, sondern auch Theologe und kritischer Christ ist. So finden sich immer wieder kirchengeschichtliche Einsprengsel und Zeugnisse katholischer Spiritualität, die anarchistische Leser*innen irritieren oder nerven mögen. Kämpferische Atheist*innen: Keine Panik! Es steht euch ja frei, die betreffenden Passagen zu überspringen. Die Taten der mutigen antifaschistischen Pfadfinderinnen sprechen für sich und verdienen erinnert und weitererzählt zu werden.