Licht und Schatten im „Geist des Sozialismus“

Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik­

| Frederik Fuß

Kistenmacher, Olaf: „Gegen den Geist des Sozialismus“ Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, ça ira Verlag Freiburg/Wien, Dezember 2023, 156 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-86259-146-6

Mit dem Buch „Gegen den Geist des Sozialismus“ liefert Olaf Kistenmacher eine Art perspektivische Ergänzung zu seiner Dissertation ab, in der er antisemitische Aussagen in der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) „Rote Fahne“ untersuchte. (1)
Sein neues Buch stellt eine gelungene Einführung in die frühe Antisemitismuskritik und die dunklen Kapitel der KPD dar, sowie in damit zusammenhängende Themen wie (Anti-)Nationalismus und den Arbeitsbegriff.

Auch für diejenigen, die sich bereits mit der Thematik auseinandergesetzt haben, hat das Buch einiges zu bieten. Kistenmacher zeigt eine Kontinuität in der antisemitischen Agitation der KPD auf, die bereits vor dem „Schlageter-Kurs“ von 1923, der offiziellen Taktik der KPD um in völkisch und deutsch-nationalen Gefilden zu fischen, begann, und ihren höchsten Ausdruck in der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ von 1930 fand. Hierin wollte die KPD der NSDAP nachweisen, eben keine nationale Kraft zu sein, da einzig die KommunistInnen die nationale Befreiung bringen könnten. Clara Zetkin sah hierin „die Grenzen zwischen uns und den Nazis verwischt“. (2)
Die im Programm ausgegebene Losung der „Volksrevolution“, so Zetkin, versöhne Teile der ArbeiterInnenschaft und des KleinbürgerInnentums mit der faschistischen Ideologie. Konsequent folgerte der Rätekommunist Paul Mattick später, dass die Dritte Internationale die ArbeiterInnen selbst zu FaschistInnen erzogen habe, indem sie zehn Jahre mit Hitler um den wirklichen Nationalismus konkurrierte.

Diese Phase untersucht Kistenmacher und zeigt nebst altbekannten Szenarien, wie der Rede von Ruth Fischer, die sie vor völkischen StudentInnen hielt und in der sie den Kampf gegen ein „jüdisches Finanzkapital“ begrüßte, auch eher Unbekanntes. So wie die Rede des Münchner KPD-Funktionärs Otto Graf, der 1922 auf einer völkischen Kundgebung seine „völlige Übereinstimmung“ mit den politischen Ansichten des Publikums bekundete oder Heinz Neumann, führender Theoretiker der späten KPD, der wie viele Kader 1930 auf NSDAP-Veranstaltungen auftrat und dort erklärte, er wolle keinen „Bruderkampf“ mit den NationalsozialistInnen.
All diese Vorfälle blieben nicht unwidersprochen, zwar war es eine Minderheit, die sich gegen die antisemitischen und nationalistischen Äußerungen stellte, doch zeigen sie deutlich auf, wie Kistenmacher betont, was man damals bereits hätte wissen können, hätte man gewollt. So stellt das Buch besonders eine Würdigung für all jene, sowohl KommunistInnen inner- und außerhalb der KPD und AnarchistInnen dar, die sich gegen eben jene antisemitische Stimmungsmache erhoben.

Auf der Seite der KommunistInnen ist besonders die KPD-Opposition (KPO) um August Thalheimer und Heinrich Brandler und dem Theorieorgan „Gegen den Strom“ zu erwähnen, die deutliche Worte zum Nationalismus der KPD fanden und Kritik übten am antizionistischen Kurs der Partei. Während das antisemitische Pogrom im Spätsommer 1929 im britischen Mandatsgebiet Palästina, bei dem 133 Jüdinnen und Juden ermordet wurden, in der „Roten Fahne“ Begeisterung über den vermeintlich wachsenden „Araberaufstand“ auslöste, wurde in „Gegen den Strom“ klargestellt, dass die Partei sich mit der Unterstützung des arabischen Nationalismus vom Klassenkampf verabschiede. „Statt gesellschaftlicher Klassen würden sich laut der Roten Fahne ethnische Kollektive gegenüberstehen“, fasst es Kistenmacher zusammen. In „Gegen den Strom“ wurde zudem geschlussfolgert: Die „Rote Fahne“ lasse „jedes eingehen auf die sozialen Momente und Hintergründe des Palästinakonflikts völlig vermissen. Ohne den Versuch einer marxistischen Untersuchung des Klassencharakters auch dieses Kleinkrieges spricht die ‚Rote Fahne‘ unterschiedslos von den Juden, die sie natürlich alle als zionistische Faschisten bezeichnet und die sie den Arabern, die natürlich alle ‚Revolutionäre‘ sind, entgegenstellt.“

Aus anarchistischer Perspektive sind Kistenmachers Ausführungen zur Kommunistischen Arbeiter Partei Deutschlands (KAPD) interessant, da diese heute vorwiegend als rätekommunistische Organisation wahrgenommen wird, mit der wir einige Gemeinsamkeiten teilen. Wenig beachtet ist jedoch, dass nach dem Ausschluss eines Teils des linken Flügels der KPD 1919 nicht nur RätekommunistInnen, nebst anderen LinkssozialistInnen und SyndikalistInnen, die KAPD 1920 begründeten und in sie strömten, sondern auch viele NationalbolschewistInnen – die u.a. in Hamburg phasenweise tonangebend waren. So kam es zu nicht wenigen antisemitischen Verbalattacken seitens der KAPD gegen den KPD-Vorsitzenden Paul Levi.

Auf der anarchistischen Seite behandelt Kistenmacher vor allem Rudolf Rocker, Emma Goldman und Alexander Berkman. Letztere insbesondere durch ihre Kritik am Antisemitismus in der jungen Sowjetunion. Teils wohl aus dem Bestreben heraus, antisemitischen Tendenzen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, waren die Bolschewiki darum bemüht, Jüdinnen und Juden nicht zu bevorzugen, was wiederum zu teils härterer Anwendung der Gesetze führte, den gewünschten Effekt jedoch verfehlte. In Teilen der Bevölkerung wurde Kommunismus und Bolschewismus mit dem Judentum gleichgesetzt und so kam es zu abstrusen Szenen, in denen revolutionäre ArbeiterInnen gegen Juden, Jüdinnen und KommunistInnen hetzten, bei gleichzeitigem Propagieren der Rätemacht. Goldman und Berkman schrieben ihre Erinnerungen an ihre Zeit in der Sowjetunion auf, sprachen mit vielen Jüdinnen und Juden und hielten deren Erleben der bolschewistischen Herrschaft fest. Dabei war der Antisemitismus für Goldman eher ein Nebeneffekt hiervon, wohingegen Berkman der KPdSU eine eindeutige Mitschuld am Erstarken antisemitischer Ressentiments attestierte.
Der deutsche Anarchosyndikalist Rudolf Rocker – von dem auch das titelgebende Zitat „Gegen den Geist des Sozialismus“ stammt – wird von Kistenmacher vor allem wegen seines Textes „Antisemitismus und Judenpogrom“, der 1923 in „Der Syndikalist“ erschien, behandelt. Er stellt eine Reaktion auf das Pogrom im Berliner Scheunenviertel dar, in der er den grassierenden Antisemitismus verurteilt und analysiert.
Vom 5. bis zum 7. November 1923 wurden Jüdinnen und Juden auf offener Straße im Berliner Scheunenviertel angegriffen; Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert. In dem Zusammenhang scheint es bedeutsam noch auf ein weiteres 2023 erschienenes Buch hinzuweisen: Karsten Krampitz hat in seinem Buch „Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923“ eine historische Darstellung des gesellschaftlich-politischen Klimas der Zeit wie auch eine Schilderung des Pogroms vorgenommen. (3) Besonders ist, dass er aufzeigt, wie die SPD zur Brutalisierung und Verrohung des gesellschaftlichen Klimas beigetragen hat, wie sie ebenfalls Nationalismus und Antisemitismus befeuerte und bereits 1919/1920 Internierungslager für ostjüdische MigrantInnen plante, welche schließlich 1921 durch die liberale Deutsche Demokratische Partei verwirklicht wurden. Verdienstvoll sind die Veröffentlichung der Dokumente aus dem Internierungslager und die Protokolle von Opfern des Pogroms.
Ein Manko von Krampitz Buch, auf welches Kistenmacher in seiner Rezension ebenfalls hinweist, ist seine Einordnung als einziges antisemitisches Pogrom jener Jahre. (4) Abgesehen von den antisemitischen Krawallen auf dem Kurfürstendamm 1931, Kistenmacher weist darauf hin, dass diese als die brutalsten antisemitischen Ausschreitungen der Weimarer Republik gelten, erwähnt er in „Gegen den Geist des Sozialismus“ noch mehrere antisemitische Pogrome aus dem Jahr 1923.
Aus anarchistischer Perspektive fällt die Auseinandersetzung mit der anarchistischen Kritik bzw. dem Anarchismus knapp aus. Das scheint weniger einem mangelndem Interesse des Autors als vielmehr dem eng gesteckten Rahmen, den das Buch behandelt, geschuldet zu sein. Dieser drückt sich ja bereits im Untertitel aus: „Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik“. Freilich hat es von AnarchistInnen mehr Kritik am Antisemitismus gegeben, aber wann mag diese Kritik wohl an die Adresse der KPD gerichtet gewesen sein? Vermutlich selten.

Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus in der anarchistischen Bewegung der Weimarer Republik, anarchistische Kritik aus dieser Zeit und der Umgang mit der NSDAP wäre sicher lohnenswert. Denn nicht nur kommunistische Kader haben öffentlich die Diskussion mit der NSDAP gesucht, auch Mitglieder der FAUD haben auf Nazi-Veranstaltungen gesprochen. So soll der Elberfelder Anarchosyndikalist Hans Schmitz mehrere Tage auf einer Veranstaltung der NSDAP mit Goebbels diskutiert haben. (5) 1931 verstarb er an den Verletzungen nach einem Nazi-Überfall. Auch über Rocker, der mit Milly Witkop bereits 1903 in London gegen ein antisemitisches Pogrom in Kiew demonstrierte, ließe sich mehr erzählen. So zum Beispiel, dass er mit anderen Anarchisten aus Protest gegen den antisemitischen Artikel „Der jüdische Nimbus“ von Paul Robien in der Zeitung „Der freie Arbeiter“, das Organ der Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD), aus der FKAD austrat. Rocker veröffentlichte eine Antwort auf den Artikel mit dem Titel „Der Nimbus des Blödsinns“ – allerdings im Organ der Freien Arbeiter Union Deutschland (FAUD) „Der Syndikalist“, die Redaktion des „freien Arbeiters“ lehnte den Text ab. Rocker war in seinem späteren Exil in den USA im von der International Ladies Garmet Workers Union mitfinanzierten Organ „Freie Arbeiter Stimme“ nebst zionistischen AutorInnen vertreten. Auch die anarchosyndikalistische FAUD wäre eine genauere Betrachtung wert. Andreas Müller beschrieb, wie FAUD-Mitglieder in Mengede (heute Teil von Dortmund) 1922 eine der ersten NSDAP-Ortsgruppen außerhalb Bayerns gründeten. (6) Wie hat die FAUD den Antisemitismus der NSDAP eingeordnet. 1933 ließ sie in ihrer letzten veröffentlichten Broschüre „Wohin? Was geschieht heute in Deutschland?“ verlautbaren, die Gefahren, die von der NSDAP ausgingen, seien völlig verkannt worden – damit meinte sie die Gefahr für das revolutionäre Proletariat, der Antisemitismus sei „ganz nebensächlich“. (7)
Die weitere Auseinandersetzung hiermit könnte möglicherweise noch Abgründe und hoffentlich einige Lichtblicke der anarchistischen Bewegung offenbaren. Kistenmachers Buch bietet genau dies – Licht und Schatten – für die kommunistische Bewegung, garniert mit einigen anarchistischen Einwürfen. Offen muss die Frage bleiben, mit der er sein Buch schließt: Warum die Mehrheit der Bewegung die Probleme nicht sah oder sehen wollte – die Rocker, Zetkin und einige andere durchaus sahen.

(1) Vgl.: Kistenmacher, Olaf: Arbeit und „jüdisches Kapital“ – antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne während der Weimarer Republik. Bremen 2016.
(2) Sofern nicht anders angegeben, sind alle Zitate aus Kistenmacher, Olaf: „Gegen den Geist des Sozialismus“, Freiburg/Wien 2023.
(3) Vgl.: Krampitz, Karsten: Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923, Berlin 2023
(4) Vgl.: Kistenmacher, Olaf: Karsten Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel. In: Sehepunkte. Rezensionsjournal für Geschichtswissenschaften. Ausgabe 23 (2023) Nr. 11. Online: https://www.sehepunkte.de/2023/11/38661.html
(5) Vgl.: Klan, Ulrich; Nelles, Dieter: „Es lebt noch eine Flamme“. Rheinische Anarcho-Syndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus. Grafenau-Döffingen 1986, S. 161.
(6) Vgl.: Müller, Andreas: Aufbruch in neue Zeiten. Anarchosyndikalisten und Nationalsozialisten in Mengede in der Frühphase der Weimarer Republik. Moers 2005.
(7) FAUD: Wohin? Was geschieht heute in Deutschland? [1933] In: Syfo – Forschung und Bewegung Nr. 10, 2020, S.109.