Wir verändern diese Welt nur gemeinsam

Vom Überleben zum guten Leben

| Peter Oehler

Georges Rettek: Das Überleben beenden, damit das Leben beginnen kann, epubli, Berlin 2023, 108 Seiten, 9,99 Euro, ISBN 978-3-7575-6645-6

Ein Aufbegehren ist die Motivation bzw. der Antrieb für Georges Rettek, das er dann schreibend auslebt. Denn „die Unzufriedenheit [hält] den Geist der Rebellion am Leben“ (S. 8). Und: „Die Rebellion ist der rote Faden in meinem Leben“ (S. 41). Und was dabei an Gedichten und Texten entstanden ist, hat er nun in einem zweiten Buch veröffentlicht. Sein erstes Buch „Und das nennt sich nun Leben …“ habe ich in den Libertären Buchseiten der GWR 472 vom März 2023 besprochen.

Das Motto des Buches bezieht sich auf das Gegensatz-Paar Leben versus Überleben. Es taucht in den Gedichten immer mal wieder auf. „Leider sind die meisten Menschen / mehr darum besorgt / das eigene Überleben zu sichern / als das eigene Leben zu schaffen.“ (S. 13) „Befreiung […] ein Ende der Zwänge / dieser Gesellschaft / ein Ende der Abhängigkeit / konkret / ein gutes Leben für alle / ein Ende der Profitwirtschaft […] ein Ende des Überlebens“ (S. 18).

Thematisiert wird auch immer wieder die Sprache selbst. Es geht Rettek darum, eigene Worte bzw. eine eigene Sprache zu finden. Und warum ist das so wichtig? Weil: „Benutze ihre Worte / und lande im / Irrgarten ihrer Welt […] Ihre Sprache nutzt ihnen / finde deine eigene Sprache […] finde und benutze / deine eigenen Worte / ein erster Schritt und Anfang“ (S. 45-46). Die Alternative: „In sich reinhören, Gedanken finden, um Worte und Begriffe ringen, sich zu Wort melden, Dinge auf den Punkt bringen, die eigene Stimme wiederfinden und erheben.“ (S. 6).

Auch fordert er in seinen Gedichten immer wieder eine herrschaftsfreie und hierarchielose Gesellschaft: „Die einen fordern / einen besseren Kapitän / die anderen sind / mit dem jetzigen zufrieden. / Wir wollen gar keinen Kapitän.“ (S. 24) „Kommunismus. Anarchie. / was kümmert mich das Wort / auf die Inhalte kommt es an / klassen- und staatenlose / Gesellschaft / auf den Menschen kommt es an / aus Liebe zum Leben / das trifft’s.“ (S. 82) „Aus einem leidenschaftlichen Interesse am Leben erwächst ein leidenschaftliches Interesse an der klassen- und staatenlosen Gesellschaft.“ (S. 102-103)

Interessant finde ich, wie Rettek einige Sprüche und Buchtitel in gekonnter Weise in seine Gedichte hineingewebt hat. Vier davon sind mir beim Lesen direkt aufgefallen:
„Fragile Verhältnisse / Suche nach den Rissen im Beton / der Lücke im Pflaster / liegt doch der Strand darunter / und die Welt in uns / ebenso wie die Phantasie“ (S. 22) „Unter dem Pflaster liegt der Strand“: Dieser legendäre Spruch bei den Pariser Unruhen im Mai 1968 sowie der Sponti-Szene der 1970er Jahre.
„Ich hoffe / Du hast / Deine Träume nicht begraben / an der Biegung des Flusses // Dir das Rückgrat nicht brechen lassen / durch die Knochenmühlen des Kapitals“ (S. 30) bezieht sich auf den deutschen Titel von Dee Browns Buch Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses. Denn der Originaltitel lautet anders: Bury My Heart at Wounded Knee.
„Fragend schreiten wir voran / auch seitwärts / aber niemals gegen uns / im besten Fall / gemeinsam“ (S. 55) bzw. „Fragend und kämpfend / schreiten wir voran / das Leben im Blick / unsere einzige Leidenschaft / unser größtes Interesse“ (S. 72). Dieser berühmte Ausspruch der aufständischen Zapatisten aus Chiapas in Mexiko seit 1994.
„Nicht jeder stirbt für sich allein / leidet, unterliegt, verliert allein / nein / wir kämpfen / leben, lieben, lachen / zusammen. / Wir brechen das Schweigen / die Isolation / die Vereinzelung auf. / Gemeinsam.“ (S. 90) Abgewandelte Verwendung von Jeder stirbt für sich allein, so der Titel eines Romans des deutschen Schriftstellers Hans Fallada aus dem Jahre 1947.

„Es werden andere folgen / um unser aller Werk fortzusetzen / die alte Ordnung zu stürzen / um die staaten- und klassenlose / Gesellschaft zu schaffen“ (S. 42).
Das hat mich doch stark an einen der sogenannten Seherbriefe von Arthur Rimbaud erinnert. Dort heißt es: „Der Dichter macht sich zum Seher durch eine langdauernde, unerhörte und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. […] Er kommt im Unbekannten an, und wenn er schließlich, gestörten Geistes, seine Visionen nicht mehr begreift, so hat er sie doch gesehen! Mag er in seinem Sprung zu den unerhörten und unnennbaren Dingen auch umkommen: Es wird neue schreckliche Arbeiter geben. Sie werden an jenen Horizonten beginnen, wo er hinsank!“ Und so, wie Rimbaud den Begriff des Sehens viel weiter und damit intensiver meint – nämlich ausgedehnt auf alle Sinne, bringt auch Rettek die Sache auf den Punkt: „Was du begriffen hast / kannst du auf den Punkt / auf den Begriff bringen“ (S. 78). Es sei ihm zu wünschen, dass sein Gedichtband viele LeserInnen findet, die damit etwas anfangen können und die seinen Ansatz, denkend und schreibend etwas zu verändern, aufnehmen und fortführen. Das passt auch gut zu der Betonung des Gemeinsamen, des „wir“, das Rettek in seinen Gedichten immer wieder beschwört.