die waffen nieder

„Es ist wichtig, die Kriegslogik zu durchbrechen“

Ein Gespräch mit Swetlana Nowoshenowa von den Palestinians and Jews for Peace

| Interview: Bernd Drücke und Nika Hackenreiter

Aktion der Palestinians and Jews for peace im März 2024 in Köln

Die deutsche Debatte um den Israel-Palästina-Krieg ist polarisiert und angespannt. „Pro-palästinensische“ und „pro-israelische“ Positionen scheinen einander unvereinbar gegenüberzustehen, anti-palästinensischer und anti-arabischer Rassismus und Antisemitismus werden gegeneinander ausgespielt. „Wie können wir mit Blick auf Israel und Palästina eine gemeinsame Perspektive und gegenseitige Solidarität entwickeln? Wie können wir die verhärteten Fronten in der deutschen Debatte einander annähern und gegenseitige Solidarität fördern?“ Das fragen sich Nadine Migesel und Swetlana Nowoshenowa. Auf Einladung u.a. der GWR-Redaktion sprachen die beiden Aktivistinnen der „Palestinians and Jews for Peace“ am 15. April 2024 in Münster über die Notwendigkeit und die Herausforderungen für Dialog zwischen palästinensischen, israelischen und jüdischen Menschen in Deutschland. (1) Die Initiative setzt sich aus palästinensischen, jüdischen und anderen solidarischen Freund*innen zusammen (2). Mit Demos und Veranstaltungen setzt sie sich gegen Antisemitismus, Rassismus, für eine friedliche und gerechte Lösung des Israel-Palästina-Krieges und eine kritische Reflexion der Nahost-Debatte in Deutschland ein. Wir veröffentlichen in einer redaktionell bearbeiteten Version Auszüge aus einem Radio-Graswurzelrevolution-Interview (3), das GWR-Praktikant*in Nika Hackenreiter und GWR-Redakteur Bernd Drücke am 16. April mit Swetlana Nowoshenowa führten. (GWR-Red.)

Bernd: Swetlana, wir haben gestern diese großartige Veranstaltung mit Nadine und dir machen dürfen, über eure Arbeit. Es war zum Thema Israel/Palästina eine der bewegendsten Veranstaltungen, die man bisher in Münster miterleben konnte. Vielleicht neben der Veranstaltung mit den Friedensaktivisten Rotem Levin und Osama Eliwat von der israelisch-palästinensischen Graswurzelgruppe Combatants for Peace (4), die im Februar stattfand. In den Medien war darüber nichts zu lesen. Das trifft leider auch auf Eure gestrige Veranstaltung zu. Deshalb möchte ich Dir die Gelegenheit geben, Dich und die Gruppe vorzustellen. Wie ist Eure Gruppe entstanden?

Swetlana: Also, das Ganze ist entstanden nach dem 7. Oktober, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. Kurz darauf hat auch das israelische Militär mit Angriffen auf Gaza reagiert. Das war so ein Moment, wo, glaube ich, alle palästinensischen und jüdischen Menschen, auch in Deutschland, wussten: Das ist etwas, was nicht nur in Nahost passiert, sondern was auch unser Leben hier beeinflusst. Wir waren alle in einer totalen Schockstarre, gerade in den ersten Tagen. Viele haben sich auch einsam gefühlt und hilflos. Es entbrannte gleich eine krasse, polarisierte, sehr gewaltvolle Debatte darüber, was jetzt gerade passiert und das Richtige ist. Es gab unterschiedliche Perspektiven, die versuchten, die Deutungshoheit an sich zu reißen.
Wir wollten einen Dialog schaffen und einen Raum für gegenseitige Solidarität. Kris und Zey waren die beiden ersten, die sich getroffen haben, weil sie schon vorher befreundet waren. Die haben sich getroffen und gemerkt, dass ihre Perspektiven und ihre Ansichten nicht in den Medien, nicht auf den Demos und auch sonst nicht vertreten waren. Dann haben sie beschlossen: Na ja, wenn es das noch nicht gibt, dann muss man das halt selber machen. Sie haben dann mithilfe von Allies und Freund*innen ein Statement verfasst, das sie auf Instagram gepostet haben. So bin ich auch auf sie gestoßen. Das war ganz am Anfang. Es war interessant zu sehen, dass der Zulauf erheblich und das Interesse sehr groß war, noch bevor wir uns das erste Mal getroffen haben. Dann haben wir innerhalb von ein paar Tagen, obwohl wir uns da das erste Mal erst kennengelernt haben, eine komplette Demo auf die Beine gestellt. Also, unsere erste Demo, die wir hatten, da hatten wir 500 Teilnehmende. Am Anfang waren nur 150 angemeldet. Bei der zweiten Demo, die wir dann gemacht haben, im November, haben wir 1.000 Leute angemeldet und wir waren dann schon 3.000 Menschen. Wir haben unzählige Anfragen für Interviews bekommen und haben auf Instagram inzwischen über 11.000 Follower. Wir haben gemerkt, dass unsere Perspektiven wichtig sind und gerade in dieser Zeit benötigt werden.

B: Ja, das war auch der Grund, warum wir euch eingeladen hatten. Wir haben über einen Kölner Graswurzelrevolutionär von Euren Aktionen erfahren und mitgekriegt, dass Ihr auf euren Demos bewegende Reden haltet und dass ihr dort durchsetzt, dass keine Nationalfahnen zu sehen sind, dass es keine nationalistische Positionierung gibt, sondern stattdessen die Menschen, die gegenseitige Empathie und Solidarität im Vordergrund stehen. Das finden wir großartig. Deshalb haben wir schon drei Redebeiträge von Euch in der Graswurzelrevolution veröffentlicht. (5) Gestern, bei der Veranstaltung in der ESG-Aula Münster waren über 100 Leute und auch „verfeindete“ Fraktionen, also sogenannte Antideutsche und Antiimps. Die Atmosphäre war trotzdem freundlich und respektvoll. Es ist nicht eskaliert, was angesichts der angespannten Situation ungewöhnlich ist. Dazu habt ihr durch euren bewegenden Vortrag beigetragen. Ich glaube, dass es Euch gelungen ist, Empathie zu wecken und bei den Menschen ein Wahrnehmen der anderen Realität entstanden ist. Kannst du sagen, wie du das empfunden hast und skizzieren, was ihr bei der Veranstaltung erzählt habt?

Nika, Bernd und Swetlana beim GWR-Interview im Studio des medienforum münster – Foto: Detlef Lorber

S: Wir haben über unsere eigenen Erfahrungen und aktivistische Arbeit berichtet, aber auch über die Emotionen, die dabei eine Rolle spielen, die Grundhaltung, die man dafür braucht, um diesen Dialog zu führen. Denn die Kriegsrhetorik, die es in Israel und Palästina gibt, diese extreme Spaltung und Dehumanisierung, beeinflusst natürlich auch die Debatten in Deutschland. Wir versuchen das aufzubrechen, zuzuhören und andere Menschen zu animieren, sich gegenseitig zuzuhören. Was schwer ist, weil die Leute durch die Polarisierung und Kriegsrhetorik in total unterschiedlichen Universen leben. Die konsumieren komplett andere Nachrichten, haben eine andere Lebensrealität, andere Erfahrungen, andere Wahrnehmungen. Das finde ich interessant, weil wir einen gewissen Spagat versuchen, um mit unterschiedlichen Menschen zu reden. Die Diskussionen im Internet sind teilweise so eskaliert, dass sie viel Kraft rauben, aber auch im persönlichen Austausch sind die Gespräche oft sehr kräftezehrend. Dieselben Ereignisse werden so dermaßen gegensätzlich bewertet. Trotzdem glauben wir, dass wir darauf angewiesen sind, einen friedlichen und diplomatischen Weg zu finden. Dazu müssen wir die Leute an einen Tisch bringen. Es ist wichtig, sich gegenseitig zuzuhören, selbst wenn jemand die Wörter verwendet, die man für problematisch hält, oder Ansichten hat, die man nicht teilt, selbst wenn man dann mit anderen Fakten oder mit einem anderen Framing von Nachrichten konfrontiert wird, bestimmte Nachrichten nicht hört, bestimmte Nachrichten auf eine ganz andere Art und Weise dargestellt werden. Es ist schwierig, das unter einen Hut zu bringen und zu sagen, wir reden jetzt trotzdem darüber.

Nika: Ihr habt gestern ein Konzept vorgestellt, ohne das für euch die Kommunikation über den Nahostkonflikt schwer möglich scheint, nämlich das Konzept der radikalen Empathie. Magst Du uns das kurz vorstellen?

S: Ja, gerne. Empathie ist eine Fähigkeit, wie wir uns in andere Menschen hineinversetzen und ihre Perspektive übernehmen können, wie wir Mitgefühl entwickeln können und basierend darauf unsere soziale Interaktion aufbauen. Das ist etwas, ohne das ein soziales Zusammenleben weder persönlich noch in der Gesellschaft möglich ist. Unterschiedliche Diskriminierungsformen, wie Rassismus, wie Antisemitismus, auch Kriegspropaganda und Dehumanisierung führen oft dazu, dass wir die Menschlichkeit in anderen Menschen nicht sehen, dass wir ihnen ihre Gefühle absprechen oder weniger Empathie für sie empfinden, als es notwendig wäre. Das verstärkt sich in einer Situation, wo es einem selber schlecht geht und man nicht die Ressourcen und emotionalen Kapazitäten hat, um neben seinem eigenen Schmerz noch den Schmerz der anderen Person auszuhalten. Für uns ist das Empfinden von Empathie für andere Menschen zentral, auch wenn sie andere Meinungen und Lebenserfahrungen haben, auch wenn sie zur vermeintlich anderen Gruppe gehören. Und anzuerkennen, dass wir einen gemeinsamen Schmerz teilen, dass wir vielleicht auch gemeinsame Freude teilen und darauf dann unsere Kommunikation aufbauen. Das ist wichtig. In Deutschland können die meisten sich nicht vorstellen, wie die aktuelle Situation für Menschen ist, die in der Region Verwandte haben, Freund*innen, Bekannte. Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr das emotional mitnimmt. Dann wird das Ganze zu einer sehr intellektuellen Debatte. Wer hat jetzt recht? Wer benutzt die richtigen Wörter? Wer kennt welche geschichtlichen Fakten? Dann wird das zu einem Rhetorik-Debattierclub, wer die richtige Meinung hat. Dabei gerät der Schmerz, den Betroffene aushalten müssen, in den Hintergrund: Betroffene von Rassismus, von Antisemitismus, Menschen, die um Verwandte, Bekannte und Freund*innen Angst haben, die auch um ihre eigene Sicherheit fürchten müssen. Das wird nicht anerkannt, dabei ist das die Basis, die wir brauchen. Wenn wir diese Grundlage geschaffen haben, können wir vielleicht auch über die anderen Dinge reden. Aber erst mal brauchen wir dieses grundsätzliche Anerkennen, im Gegensatz zur selektiven Empathie, die sagt: Du gehörst der einen Gruppe an, für dich habe ich Empathie und du gehörst der anderen Gruppe an, für dich habe ich deswegen keine. Das ist für uns wichtig, sowohl in der Kommunikation untereinander als auch bei unseren politischen Forderungen, zu sagen: Wir möchten die Militärinitiative in Gaza und die Siedlergewalt beenden, wir möchten nicht, dass unschuldige palästinensische Menschen sterben. Aber wir möchten auch, dass die Geiseln wieder sicher zu ihren Familien zurückkehren können. Unsere Empathie gilt für alle Menschen, die unter diesem Krieg leiden.
N: Mich interessiert aus meiner persönlichen, nicht betroffenen Perspektive in dem Konflikt und auch aus Perspektive vieler anderer nicht betroffener Menschen: Was erhofft oder erwartet ihr euch für den Umgang mit der Situation? Was für eine Unterstützung können Leute bieten, die eben keinen persönlichen Bezug haben?

S: Das wichtigste ist: Zuhören und viel Verständnis gegenüber allen Menschen, die betroffen sind. Mit Verständnis meine ich auch, dass man mal ein Auge zudrückt, wenn die Emotionen verrückt spielen. Viele können sich nicht vorstellen, wie angespannt sich die Situation in Deutschland gerade anfühlt. Da kommen viele Sachen zusammen und diese Art und Weise, wie die Debatte hier geführt wird und auch der Rechtsruck führen dazu, dass die meisten Betroffenen sich alleine, unverstanden, nicht gesehen, nicht gehört fühlen. Das gilt es zu durchbrechen. Statt irgendwie jetzt superintellektuelle Analysen darüber, wer jetzt was machen sollte, von sich zu geben, wäre es wichtig, auf einer persönlichen Ebene Verständnis zu zeigen, Empathie zu zeigen und eine Haltung für Menschenrechte zu entwickeln. Gegensätze auch mal zuzulassen, selbst wenn man nicht einverstanden ist mit dem, was die andere Person sagt. Weiterhin in Kontakt bleiben und Unterstützung anbieten. Aber sich gleichzeitig auch nicht dahinter zu verstecken, dass das alles so kompliziert ist und ich mich deshalb da jetzt lieber heraushalte, nichts dazu sage. Dadurch überlässt man die schwierige Arbeit den Menschen, die so oder so schon durch ihre persönliche Betroffenheit, durch Rassismuserfahrungen, durch Antisemitismuserfahrungen an die Grenzen ihrer emotionalen Kapazität gebracht werden. Stattdessen kann man sich ja auch dafür einsetzen, dass in Deutschland Menschen geschützt werden, die marginalisiert sind, die Diskriminierung erfahren. Und gleichzeitig dafür, dass die deutsche Außenpolitik diese Werte vertritt und für Menschenrechte einsteht, auch bei den Bündnispartnern. Konsequent, egal, von wem das kommt.

B: Ihr seid vernetzt mit Graswurzelbewegungen, die es in Israel gibt, die aber hier in den Medien kaum vorkommen. Es gibt da zum Beispiel die Combatants for Peace, die im Februar auch in Münster waren, eine Graswurzelgruppe, die aus jüdischen und palästinensischen Aktivist*innen besteht, die versuchen, den Konflikt egalitär zu lösen und eine gemeinsame solidarische Gesellschaft zu organisieren, im Sinne von allen Menschen, mit gleichen Rechten, ohne Nationalismus und autoritäre Strukturen. Wie seid ihr als Gruppe vernetzt, welche emanzipatorischen Gruppen gibt es in Israel und Palästina, die wir unterstützen können, die nicht nationalistisch sind? Welche Perspektiven siehst du bei diesen Gruppen und in der Vernetzung?

S: Israel ist ein kleines Land, auch im Vergleich zu Deutschland. Dadurch, dass dort in den letzten Jahrzehnten so ein krasser Rechtsruck stattgefunden hat, sowohl in der Politik als auch in der Zivilgesellschaft, ist eine linke israelisch-jüdische Perspektive eine sehr, sehr einsame Position. Die Menschen sind großen Repressalien ausgesetzt, sowohl im persönlichen Leben als auch im Berufsleben. Das Ganze hat sich durch den Krieg verschärft. Es gibt Menschen, die nach dem 7. Oktober gesagt haben: „Nein, jetzt, wo so etwas passiert ist, können wir das nicht mehr, können wir mit diesen Menschen keinen Frieden schließen.“ Das ist tragisch. Aber auf der anderen Seite gibt es die Leute, die sagen: „Jetzt erst recht.“ Die sagen: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer mehr Militarisierung, immer mehr militärische Gewalt eingesetzt, das funktioniert nicht, wir müssen etwas anders machen. Jetzt zeigt sich erst recht, dass wir eine gewaltfreie Lösung brauchen, die darauf basiert, dass Menschen gleiche Rechte haben, erst dann kann es überhaupt Frieden geben.“ Diese Menschen müssen sich gegen eine krasse politische Landschaft durchsetzen und gegen Gewalt. Bei Demos gibt es immer wieder herzzerreißende Bilder von extremer Polizeigewalt oder von rechten Israelis, die Aktivist*innen die Transparente aus den Händen reißen, sie zusammenschlagen und persönlich bedrohen. Einige Menschen bekommen berufliche Nachteile. Es gab auch Inhaftierungen. Dabei ist wichtig anzumerken, dass jüdisch-israelische Aktivist*innen vielleicht für ein paar Tage inhaftiert, dann aber wieder freigelassen werden. Palästinensische Aktivist*innen haben deutlich stärkere Repressalien zu befürchten und werden oft über Monate festgehalten. Auch an Unis gibt es gerade ein Klima, dass Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, die sogenannten „Arab Israelis“, stark unter Druck setzt. Die müssen aufpassen, kein falsches Wort zu sagen und sich bloß nicht mit der palästinensischen Zivilbevölkerung in irgendeiner Weise zu solidarisieren, sonst werden sie aus der Uni gemobbt. Aber es gibt immer wieder auch Online-Veranstaltungen, beispielsweise auch von der Initiative Standing Together (6), die tolle Arbeit macht und eine gemeinsame Perspektive für jüdische und palästinensische Zusammenarbeit bietet. Es gibt auch viele kleinere Gruppen, aber Standing Together ist die, die jetzt am stärksten gewachsen ist. Seit dem 7. Oktober veranstaltet die Gruppe immer wieder Antikriegsdemos. Außerdem gibt es auch die Demos der Angehörigen der Geiseln, die teilweise immer noch in Gaza festgehalten werden und bei denen ungewiss ist, wie viele noch am Leben sind. Diese Angehörigen sind extrem verzweifelt und viele haben das Gefühl, dass die Regierung nicht genug macht, um die Geiseln freizubekommen. Dass die israelische Regierung stattdessen damit beschäftigt ist, gegen die palästinensische Bevölkerung vorzugehen und um jeden Preis die Hamas auslöschen will, wobei da sehr fraglich ist, ob genug zwischen Hamas-Terroristen und der Zivilbevölkerung differenziert wird, wofür es auch viel Kritik gibt. Und dass die israelische Regierung nicht genug Einsatz zeigt, einen Geiseldeal durchzusetzen, der möglich gewesen wäre!

Wir möchten die Militärinitiative in Gaza und die Siedlergewalt beenden, wir möchten nicht, dass unschuldige palästinensische Menschen sterben. Aber wir möchten auch, dass die Geiseln wieder sicher zu ihren Familien zurückkehren können. Unsere Empathie gilt für alle Menschen, die unter diesem Krieg leiden.

Dafür hätte man sich eben auf einen Waffenstillstand einigen müssen. Was neben all den schlimmen Nachrichten Hoffnung gegeben hat, ist, dass sich die Proteste der Geiselangehörigen jetzt mit der Antikriegsbewegung zusammengeschlossen haben. Dadurch sind sie deutlich größer geworden und bilden jetzt eine größere Gruppe von Menschen, die verstanden haben, dass es nur über einen Geiseldeal und einen Waffenstillstand geht, und die erkannt haben, dass diese Regierung weder Palästinenser*innen in Ruhe und Frieden leben lässt, aber auch nicht im Interesse der Israelis handelt.

N: Was ich in meinem persönlichen, tendenziell nicht betroffenen Bekanntenkreis wahrnehme, ist, dass viele Menschen in Bezug auf aktuelle Kriege und Konfliktsituationen, das starke Bedürfnis haben, sich eine Seite auszusuchen, der sie dann die Daumen drücken können, für die sie sein können, die sie anfeuern können, die sie in sozialen Medien verteidigen können etc. Inwiefern kannst Du solche Gedanken nachvollziehen und was würdest du denen entgegnen?

S: Ich kann diese Gedanken gut nachvollziehen, weil unser Gehirn so funktioniert. Wir arbeiten mit Vereinfachungen und das fühlt sich oft toll an: Ja, ich habe die richtige Meinung und ich rede mit Leuten, die auch meine Meinung vertreten und dann kriege ich dafür soziale Bestätigung. Das ist wichtig für Gruppenzugehörigkeit. Aber ich glaube, gerade in dieser Situation ist es wichtig, die Kriegslogik zu durchbrechen. Es ist eben kein „Wir gegen die“ und „Wir haben die richtige Meinung, ihr habt die falsche“, sondern es gibt deutlich mehr als zwei Seiten, auch in diesem Krieg. Das merkt man, sobald man sich näher mit der Thematik auseinandersetzt. Wir reden beispielsweise die ganze Zeit von jüdischen und palästinensischen Menschen. Es gibt aber auch in Israel noch einige andere Menschen und ethnische Gruppen, über die wir kaum etwas hören, beispielsweise die Drusen und Beduinen. Neben der mehrheitlich muslimischen palästinensischen Community gibt es auch christliche Palästinenser*innen. Alleine unter Palästinenser*innen gibt es total unterschiedliche Lebensrealitäten, je nachdem was für einen Pass sie haben und wo und ob sie in Israel, in der Westbank oder in Gaza leben. Ich stelle immer wieder fest, dass, wenn ich mich als Jüdin mit anderen jüdischen Menschen treffe, das oft mit einer Selbstvorstellung beginnt, von wegen: „Was ist dein Background?“ Dann hört man erst mal so fünf Minuten Biographie-Erzählungen, wer wo seine familiären Wurzeln hat, weil diese durch Vertreibung und Migration so unterschiedlich sind. Ob jetzt jemand aus dem arabischen Raum kommt, ob jemand aschkenasische Wurzeln hat, aus der Sowjetunion kommt, oder oder oder, einfach internationale Biografien. Dasselbe gilt auch für Palästinenser*innen, die durch unterschiedliche Fluchtbiografien und Familiengeschichten ebenfalls eine diverse Gruppe darstellen. In Deutschland und auch in anderen Ländern gibt es einen starken Wunsch, diese Komplexität herunterzubrechen, wodurch die komplett unterschiedlichen und diversen Ansichten in diesen Communities vernachlässigt werden. Dieses Herunterbrechen übersieht auch beispielsweise die Diversität in der jüdischen Community, also dass es da linke, rechte, religiöse, säkulare Strömungen gibt und sie unfassbar vielfältig ist. Das Ganze gibt es in jeder Community. Ich verstehe die Tendenz, das vereinfachen zu wollen. Aber es ist nicht einfach. Außerdem sind Menschen, die nicht in dieses Schema von zwei Seiten, von „Wir gegen die“ hineingepresst werden können, häufig diejenigen, die am meisten unter dem Krieg leiden. Beispielsweise sind israelisch-jüdische Menschen, die sich gegen den Krieg einsetzen und solidarisch mit Palästinenser*innen sind, teils krasser militärischer, polizeilicher, juristischer und persönlicher Repression ausgesetzt. Oder die arab Israelis, also die Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, die in einem Loyalitätskonflikt stehen, weil sie einerseits Teil der israelischen Gesellschaft, andererseits aber auch palästinensisch sind. Da sind 1.000 Identitätskrisen, die in so einer Kriegszeit extrem heftige Implikationen haben. Ich glaube, es wäre wichtig, diese Gegensätze auszuhalten, zuzuhören und zu verstehen, dass das Ganze sehr komplex ist. Gleichzeitig nicht zu vergessen und darauf zu bestehen, dass Menschenrechte für alle gelten.

B: „Erkämpft das Menschenrecht“, da steckt auch ein Stück Utopie drin. Als Redaktion einer gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitschrift versuchen wir immer auch die Gruppen zu unterstützen, die sich für eine gewaltfreie, herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzen. Habt ihr oder hast du eine Utopie, die du skizzieren möchtest?

S: Ich habe letztens erst länger darüber nachgedacht, was ich mir wünsche, was meine Utopie sein könnte und wie es, irgendwann hoffentlich, aussehen könnte. Und ich habe gedacht: Wenn in Israel die Wehrpflicht abgeschafft wird, weil sie nicht mehr benötigt wird. Und dass alle Menschen in Israel und Palästina in Freiheit, Frieden, Sicherheit und gleichen Rechten gemeinsam leben können. Ich habe dadurch, wie ich aufgewachsen bin, in sehr diversen migrantischen Communities, immer so eine kleine Utopie gehabt. Einfach dadurch, dass ich viele Menschen mit total unterschiedlichen Hintergründen, Religionen, Familien- und Migrationsgeschichten kennengelernt habe. Ich habe palästinensische Freund*innen, iranische, russische,… Leute, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, deren Regierungen teilweise verfeindet sind und Kriege gegeneinander führen. Wir, weit weg davon, waren trotzdem in der Lage, auf einer persönlichen Ebene Beziehungen aufzubauen und zu sehen, dass wir mehr sind als die Staaten, aus denen wir kommen, und deren Regierungen. Wir haben Dinge, die uns verbinden und gemeinsame Werte. Wir haben unterschiedliche Geschichten und ich weiß aus meinem Privatleben, dass diese Utopie möglich ist. Ich hoffe, dass diese Art der Utopie und des Lebens nicht nur in unserem kleinen, geschützten Raum stattfinden kann, sondern auch auf einer großen gesellschaftlichen Ebene.

N & B: Vielen Dank für das Gespräch!

(1) Veranstalter waren neben der GWR auch die Antimilitaristische Aktion Münster, die VVN-BdA Münster & NRW, der Freundeskreis Paul Wulf und die Gruppe B.A.S.T.A.
(2) Siehe https://
palestiniansandjewsforpeace.wordpress.com
(3) Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung wurde im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt und kann in der NRWision-Mediathek nachgehört werden: https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/radio-graswurzelrevolution/
(4) Auf Feindschaft eingeschworen – jetzt Partner für den Frieden. Die israelisch-palästinensische Graswurzelbewegung „Combatants for Peace“, Artikel von Rana Salman, in: GWR 485, Januar 2024, https://www.graswurzel.net/gwr/2024/01/auf-feindschaft-eingeschworen-jetzt-partner-fuer-den-frieden/
(5) Siehe „Wir müssen keine Feinde sein“ - Rede von Swetlana Nowoshenowa (Palestinians and Jews for Peace), gehalten auf der „Arsch Huh“-Demo in Köln, in: GWR 485, Januar 2024, https://www.graswurzel.net/gwr/2024/01/wir-muessen-keine-feinde-sein/ ; Wir glauben an unser Zusammenleben „Die Freiheit der Palästinenser*innen braucht die Sicherheit der Israelis“ – Redebeitrag von Zey (Palestinians and Jews for Peace), gehalten auf der Antifa-Demo am 3. Februar 2024 in Köln, in: GWR 487, März 2024, https://www.graswurzel.net/gwr/2024/03/wir-glauben-an-unser-
zusammenleben/
(6) https://www.standing-together.org/en

Kontakt:
palestiniansandjewsforpeace@riseup.net

 

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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