100 Jahre Ungleichheit

Die WTO veröffentlicht ihren jährlichen Welthandelsbericht

| Manuel Förderer

Kurt Tucholsky hat 1922 festgestellt: „Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.“ Medientheoretisch umgeformt ließe sich sagen: Nicht immer ist die Nachricht das eigentlich Aufregende, sondern die Art, wie sie wahrgenommen wird. Oder eben auch nicht wahrgenommen wird. So wie im Fall des jährlich a(WTO). Dabei verbirgt sich in dem umfangreichen Dokument ein hellsichtiger Passus.

Allzu progressiver oder linker Umtriebe unverdächtig, hat die WTO in ihrem Bericht festgestellt, dass sich mit Blick auf die ökonomische Ungleichheit zwischen den Ländern im Verlauf der vergangenen 100 Jahre nichts verändert hat. Die globale Einkommensungleichheit im Jahr 2020, so stellt der Bericht fest, sei mit jener zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichbar. Noch immer besitzt das reichste ein Prozent der Menschheit etwa 30,6 Prozent des globalen Vermögens. (1) Diesen etwa 80 Millionen Menschen – die in sich durch Ungleichheiten geprägt sind – entsprechen 712 Millionen Menschen, die weiterhin in extremer Armut leben. Auch wenn also, wie der Bericht festhält, die globale Mittelschicht vor allem in den letzten 30 Jahren gewachsen ist und mit ihr die Zahl jener Menschen, die es aus absoluter Armut heraus geschafft haben, bleibt im Verhältnis der Länder zueinander weitestgehend alles gleich. Hier die Reichen, dort die Armen.
Dass der WTO-Bericht insgesamt so wenig Aufmerksamkeit erhält, mag auch daran liegen, dass uns diese Separierung der Welt so vertraut ist und ein Großteil der Menschen des Globalen Nordens diese Einteilung, wo nicht offen akzeptiert, so doch hingenommen hat. Dass nun auch die 1994 in der Schweiz gegründete Organisation, die durch ihre Priorisierung von Freihandel und Privatisierung oft als Triebfeder dieser Entwicklung wahrgenommen wird, ihrerseits eingestehen muss, dass sich an der „great divergence“ trotz aller Hoffnungen in einen ‚funktionalen‘ Kapitalismus wenig geändert hat, spricht für sich. Wo der Welthandelsbericht in den Medien Erwähnung fand, war es dann vor allem dieser Passus, dem größere Aufmerksamkeit zuteil wurde.    Wer dieses 160 Seiten starke Dokument liest, dem begegnet eine Mischung aus Kapitalismus-Lob, Markt-Hurra und inklusionszentrierter Kuschel-Rhetorik. Business as usual. Für die WTO gilt weiterhin, dass mehr Markt für die globalen Verteilungsprobleme die Lösung ist, wobei damit dezidiert nicht jene in den letzten Jahren immer populärer gewordenen bilateralen Verträge gemeint sind. Nur: Der globale Welthandel hat auch dazu beigetragen, dass sich ein unglaublicher Reichtum und mit ihm eine immense, immer wieder durchschlagende politische Macht in den Händen einiger weniger Menschen konzentrieren konnte. Mitunter absurd anmutende Steuerregelungen, die dazu führen, dass international agierende Konzerne wie IKEA, Apple, Google oder Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp) eine in keiner Relation zu den jeweiligen Gewinnen stehende Steuerlast tragen müssen, befeuern die wachsende Ungleichheit. Das jüngst erfolgte Urteil gegen Apple vor dem Europäischen Gerichtshof, das den US-amerikanischen Konzern zu Steuernachzahlungen in Höhe von gut 13 Milliarden Euro verurteilte, mag in Sachen Steuergerechtigkeit ein Erfolg sein. Es bleibt hingegen abzuwarten, ob das Urteil tatsächlich die Signalwirkung hat, die man sich davon verspricht. (2)
Wie gering die Skrupel sind, sich nicht nur Steuererleichterungen zu verschaffen, sondern die privaten wie geschäftlichen Milliarden durch Steuervermeidung, Steuerhinterziehung, der Gründung von Briefkastenfirmen oder schlichter Geldwäsche vor dem fiskalischen Zugriff zu schützen (und zu mehren), haben die 2017 veröffentlichten Paradise Papers gezeigt. Die dort dokumentierte, geradezu obszön selbstverständliche Praxis der Gemeinwohlschädigung verdeutlicht, wie gezielt die globale Vermögenselite in dieser Hinsicht zu agieren weiß. Sie zeigt auch, dass die Globalisierung ihr eigenes Schattenreich kennt, das an der Zementierung der weltweiten Ungleichheit mitwirkt. Diese Netzwerke, derer sich die Superreichen und Konzerne bedienen, sind ihrerseits Teil dieser globalen ökonomischen Infrastruktur und davon kaum noch zu trennen. Dass der WTO-Bericht nun in einem zum Rest des Dokuments eher marginal wirkenden Passus anmerkt, dass der Markt augenscheinlich ohne ihn flankierende Steuerungsinstrumente durch den Staat keine gerechte Verteilung des globalen Reichtums bewerkstelligen kann, mag für Linke nichts Neues sein – und die neoliberalen Apologeten kaum berühren. Aber dass diese Nachricht niemanden wirklich aufregt, lässt den Schluss zu, dass eines der drängendsten Probleme unserer Zeit zur Fußnote der Gegenwartsbewältigung degradiert wird: die soziale Ungleichheit.

Soziale Ungleichheit als notwendige Triebkraft der Marktgesellschaft?

Dabei gibt es gute Gründe, sich diesem Problem zuzuwenden. Denn ausgerechnet die letzten drei Jahrzehnte, die der WTO als jene Jahre gelten, in denen sich die globale Einkommensschere zugunsten der Ärmsten etwas geschlossen habe, sind auch die Zeit, in der das neoliberale Projekt zur vollen Endfaltung gekommen ist. Die umfangreiche Kommodifizierung zuvor dem Markt entzogener Lebensbereiche, die Schwächung der Gewerkschaften, die Erosion tarifgebundener Arbeit und die gezielte Minderbesteuerung von Vermögen (etwa Senkung der Kapitalerwerbssteuer oder Aussetzung der Vermögenssteuer in Deutschland) haben in diesem Zeitraum dazu beigetragen, dass sich die Einkommens- und Vermögensschere immer weiter geöffnet hat. Trotzdem wird das Problem heruntergespielt oder sogar zum notwendigen Bestandteil einer funktionierenden Marktwirtschaft erhoben.
Christoph Butterwege stellte mit Blick auf die etablierte Ökonomie fest: „Der ökonomische Mainstream legitimiert die zunehmende Ungleichheit, indem er sie zur notwendigen Voraussetzung eines produktiven Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bzw. zu einer Triebkraft des wissenschaftlich-technischen Erkenntnisfortschritts emporstilisiert.“ (3) Ohne Ungleichheit keine Leistungsbereitschaft. Nur wenn sich die unteren Klassen nach oben orientieren und ihre sehnsuchtsvollen Blicke auf das Reich der Reichen richten können, kommt es auch zu Anstrengungen, sich aus eigener Kraft aus der womöglich sogar als selbstverschuldet wahrgenommenen Armut zu befreien. Dass dieses Ammenmärchen mit der sozioökonomischen Realität nichts zu tun hat, bekümmert die herrschende Politik nicht. Vielmehr gilt Härte gegen Arme als das Gebot der Stunde, Sanktionsverschärfungen im Kontext von Bürgergeldbezug werden mittlerweile sogar von jenen propagiert, die einst angetreten sind, das menschenunwürdige Hartz-IV-System zu überwinden. Der Sozialneid nach unten ist in Deutschland ungebrochen, die Sozialfigur des verschlagenen und zumeist aus migrantischen Milieus stammenden Hängemattenbewohners dominiert die vergiftete Debatte. Es sind also nicht schlechte Arbeitsbedingungen, ein ausufernder Niedriglohnsektor, ungleiche Bildungsbedingungen oder der absurde Miet- und Immobilienmarkt, die dazu beitragen, dass die Lebensbedingungen am unteren sozialen Rand schlecht bleiben und zunehmend schlechter werden. Nein, es sei die Lust an der Faulheit, die Armut zementiert. Nichts an dieser Art, auf ökonomische wie soziale Ungleichheiten zu blicken, ist neu. Vielmehr erinnert alles an die frühen 2000er Jahre, als die Unterschichten-Debatte im Zuge der rot-grünen Sozialgesetzgebung Hochkonjunktur hatte und rechte Publizisten wie Thilo Sarrazin oder Paul Nolte ihre klassistischen, bürgerlich bemäntelten Pamphlete unters Volk brachten. Soziale Ungleichheit zu leugnen oder sie als das Resultat individueller Verfehlungen zu verklären, ist der Versuch, eine dringend benötigte Umverteilung von oben nach unten zu delegitimieren und mögliche Steuern, die auf große Vermögen abzielen, im Vorhinein vom Tisch zu wischen.

Schlechtere Gesundheit und früherer Tod: das Statussyndrom

Wem die Gerechtigkeitsfrage, die hinter der Verteilungsungleichheit steht, weniger wichtig erscheint, der sei auf die handfesten Effekte sozialer Ungleichheit verwiesen. Denn es sind ja nicht nur Geld und Vermögen, die ungleich verteilt sind, sondern auch wie und wann wir sterben. „Ungleichverteilung führt zu geringerer Lebenserwartung, sie führt auch zu geringerem Geburtsgewicht und höherer Säuglingssterblichkeit.“ (4)
In welchem Ausmaß soziale Ungleichheit auf die Gesundheit einwirkt, hat der britische Epidemologe Michael Marmot in Studien aufgezeigt, besonders populär in der von ihm geleiteten Whitehall Study. Die schiere Existenz signifikant ungleicher Verhältnisse, so zeigte sich, hatte bereits einen Einfluss auf die Morbidität und Mortalität von Menschen. Ein Befund, den Marmot „Statussyndrom“ taufte. Entgegen der gerne aus dem sozialen ‚Oben‘ gestreuten Meinung, dass vor allem die selbsternannten Leistungsträger der Gesellschaft unter Stress und damit verbundenen Herz-Kreislauferkrankungen leiden würden, tun dies vor allem arme und prekär beschäftigte Menschen. Dabei hatte vor allem das Unvermögen, im Arbeitsleben eigenständig Entscheidungen zu treffen, einen besonders negativen Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung der Menschen. (5) Wer in die Abhängigkeit der Sozialsysteme gerät, verliert die eigene Autonomie endgültig. Die Lebenserwartungen der Reichsten liegen mittlerweile gut zwei Jahrzehnte über denen der Ärmsten. Wer sich mit der sozialen Ungleichheit arrangiert hat, hat sich also auch damit arrangiert, dass das Versprechen auf Gesundheit und individuelles Glücksstreben einem wachsenden Teil der Menschen vorenthalten wird. Jeder Euro, der an Sozialhilfe gespart wird, führt letztlich, wie Marmot gezeigt hat, zu einer Verschlechterung der gesamtgesellschaftlichen Gesundheit. Wir können dieser Erkenntnis nicht schulterzuckend gegenüberstehen. Für eine von Rechts unter Beschuss stehende demokratische Gesellschaft sind das besorgniserregende Einsichten. (6)
Der kleine Passus aus dem WTO-Bericht ist in gewisser Hinsicht aber genau dieses Schulterzucken, vielleicht aus Gewohnheit, denn der Verweis auf die staatlichen Leistungen, die für ein effektives Gegensteuern notwendig wären, sind bekannt und werden immer noch ignoriert. Die Realeinkommen mögen zwar gestiegen sein und dies mitunter auch weltweit, aber an ihrer ungleichen Verteilung tut sich wenig bis nichts. Das gilt auch innerhalb Deutschlands. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schrieb vor geraumer Zeit, dass sich die Struktur der Einkommensverteilung 1990 trotz zunächst egalitärer Gegenbewegungen wieder dem Stand von 1950 angenähert hat. (7) Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Vor dem Hintergrund des aktuellen WTO-Berichts drängt sich deshalb eine Formulierung von Oskar Negt auf: „Wenn eine Arbeits- und Erwerbsgesellschaft, die in beschleunigtem Tempo Reichtum produziert, mit dem Armutsproblem nicht fertig werden kann, dann ist das ein Zeichen, daß eine historisch entstandene Verteilungsordnung überholt ist.“ (8)

(1) World Trade Report 2024, S. 25.
(2) Vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/unternehmen/apple-eu-kommission-urteil-milliarden-zahlung-100.html.
(3) Christoph Butterwegge: Wachsende Ungleichheit lässt Ökonomen kalt. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 2. Heft (2020), S. 106-111.
(4) Vgl. R. Wilkinson, K. Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2010, S. 101.
(5) Anfang des Jahres erschien ein Radiointerview mit Marmot, das man beim Deutschlandfunk online nachhören kann: https://www.deutschlandfunk.de/soziale-ungerechtigkeit-toetet-in-grossem-stil-gespraech-mit-michael-marmot-dlf-f01c4699-100.html.
6) So die Einsicht des Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-studie-armut-ist-risiko-fur-demokratie-53417.htm.
(7) Vgl. Thomas Sokoll: Historische Perspektiven auf soziale Ungleichheit, in: Gegenblende. Debattenmagazin, https://gegenblende.dgb.de/artikel/++co++1561972a-e852-11e0-7df4-001ec9b03e44.
(8) Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, S. 240.