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Die Überlebende

Nachruf auf Peggy Parnass (1927–2025)

| Gaston Kirsche

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Peggy Parnass - Foto: Privatarchiv Peggy Parnass

Als sie am 12. März 2025 in einem Pflegeheim in ihrem Stadtteil St. Georg in der Mitte Hamburgs starb, waren Angehörige und Freund*innen bis zuletzt bei ihr. 97 Jahre wurde sie alt, die Überlebende.

Nie wieder wird sie anrufen, fragen, wie es geht. Seit Anfang der siebziger Jahre, bis vor wenigen Jahren, lebte sie noch in ihrer Wohnung in der Langen Reihe, einer belebten Straße. Zwei Stockwerke über ihr hat lange Monica Bleibtreu gelebt, mit ihrem Sohn Moritz. Das Hamburger Schauspielhaus ist gleich um die Ecke. Markant die grün gestrichenen Wände in der Altbauwohnung, und das Bett im Wohnzimmer. Überall Bücher, Folianten, Zeitungen. Und die Wände voller Fotos, Peter Weiß neben Ulrike Meinhof: ihr Bruder Gady und seine Frau im Kibbuz, ihr Sohn Kim. Bis zu einem Sturz 2019 lebte sie allein in der Wohnung, aber nicht einsam. Die auch durch ihre Kolumnen und Konkret-Gerichtsreportagen bundesweit bekannt gewordene Autorin und Schauspielerin verstand es, sich Gesellschaft und Unterstützung zu holen. Noch im März 2018, als ich mehrmals bei ihr in der Wohnung war, für ein langes, sehr offenes Interview für die Jungle World, lud sie mich zum Abendbrot ein. „Da, im Kühlschrank, ist doch noch Käse, den habe ich mir gerade besorgen lassen. Schneidest du das Brot?“ Sie war herzlich, aber auch bestimmt. Vielleicht auch, weil sie mich schon als kleines Kind kannte. Aber dieses Verständnis, es klar zu haben, wie Dinge zu laufen haben, empathisch zu sein, aber auch etwas einfordern zu können, hat ihr sicher auch sonst geholfen. Ganz praktisch denkend, bat sie mich, ihr bei den Besuchen Zeitungen mitzubringen. Nie werde ich vergessen, wie es einmal aus ihr herausbrach: „Was, du kennst keine Widerstands-kämpfer*innen persönlich? Ich hätte ohne Freundschaften mit Widerstandskämpfer*innen hier in Deutschland nicht leben können.“
Dass sie wieder in Hamburg lebte, der Stadt, in der sie am 11. Oktober 1927 geboren wurde und aus der sie mit ihrem Bruder dank ihrer Mutter vor der Verfolgung durch die Nazis entkommen konnte, war nicht geplant. Eigentlich war sie nur auf der Durchreise, zu Besuch bei ihrer Cousine, die in Hamburg überlebt hatte: „Sie hatte einen nichtjüdischen Vater, dadurch war sie nicht umgebracht worden“, erzählte mir Peggy.
Peggy und ihr sieben Jahre jüngerer Bruder haben die Nazidiktatur nur überlebt, weil ihre Mutter sie 1939 in den letzten Zug gesetzt hat, mit dem ein Kindertransport in das von den Nazis nicht besetzte Schweden ging. Da war sie elf Jahre alt. Peggy Parnass lebte jahrzehntelang in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofes. Dabei konnte sie Züge und besonders diesen Bahnhof, wo sie sich für immer von ihrer Mutter trennen musste, nicht ausstehen. Es war die letzte Chance für die Kinder, rauszukommen aus Deutschland. Peggys Eltern, Simon Pudl und Hertha Parnass, wurden 1942 im Vernichtungslager Treblinka von deutschen Nationalsozialisten ermordet.
„Meine Eltern waren wunderbar. Mein Vater Pole, meine Mutter halb Portugiesin. Durch die Umstände ist mein kleiner Bruder Gady Engländer geworden, ich bin Schwedin geworden. Wir könnten also ständig die Internationale singen in der Familie. Mein Sohn ist Schwede. Mit ihm spreche ich Schwedisch, mit meinem Bruder Englisch. Meine Eltern gibt es nicht mehr“, so Peggy Parnass in einer Tonbandaufnahme, in der sie über ihre Kindheit berichtet, und die sie anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen für ihre ermordeten Eltern vor ihrer Wohnung in der Methfesselstraße in Hamburg-Eimsbüttel 2014 aufnahm. Eine Abschrift davon ist abgedruckt in der Ausgabe 02/2025 der Zeitschrift „Publik“ ihrer Gewerkschaft ver.di, in der sie bis zum Tod Mitglied war.
Dass sie ihre Trauer, ihren Schmerz über die Ermordung fast der gesamten Verwandtschaft durch die Deutschen als Antrieb genommen hat, um öffentlich gegen alte und neue Nazis aufzutreten und gegen die Normalisierung der deutschen Geschichte, des Unrechts und der Verbrechen anzuschreiben, hat ihre Kompromisslosigkeit, ihre analytische Schärfe gestärkt. Ihre Prozessberichte, die sie in den 70iger und 80iger Jahren für die Konkret schrieb, bekommen durch die Benennung ihrer eigenen Geschichte als Überlebende der Shoah und ihre Empathie für Erniedrigte und Ausgebeutete eine Wucht, die bis heute wirkt. Nachzulesen sind ihre Prozessberichte und autobiografischen Texte in drei noch erhältlichen Büchern, die im Konkret Literatur Verlag erschienen sind: „Süchtig nach Leben“, „Unter die Haut“, „Mut und Leidenschaft“.

„Ich hätte ohne Freundschaften mit Widerstandskämpfer*innen hier in Deutschland nicht leben können.“

Ein viertes Buch, bereits 1985 ebenfalls im Konkret Literatur Verlag erschienen, ist leider nur noch antiquarisch erhältlich: „Kleine radikale Minderheit“. Der Titel trifft das Selbstverständnis gut, mit dem Peggy Parnass sich gesellschaftlich verortet und agiert hat: Ohne Zugeständnisse an vermeintliche, ob nun nur dominant erscheinende oder reale Mehrheitsmeinungen, von einem radikalen, linken Humanismus aus argumentieren. Ihr Blick auf Deutschland war schonungslos – warum sollte sie das Land der Shoah beschönigen, das sie schon als jüdisches Kind unterdrückt und ausgrenzt und die Familie gewaltsam genommen hat. Wenn Peggy auf Demonstrationen als Rednerin auftrat, was sie engagiert und häufig tat, dann konnten sich Geflüchtete ihrer Solidarität gewiss sein. Ebenso Schwule und Lesben, die anders als in der DDR, in der BRD mit dem § 175 StGB kriminalisiert wurden, der in der Bundesrepublik in der Nazi-Fassung bis 1969 unverändert in Kraft blieb und erst 1994 komplett gestrichen wurde. Peggy forderte ein Ende der Kriminalisierung. Die Schwulenbewegung war ihr dafür dankbar.
Als Anfang der 80iger Jahre von patriotischen Frauen eine Debatte gefahren wurde, unter dem Motto „Für Gleichberechtigung – Frauen in die Bundeswehr“, hielt Peggy Parnass dagegen. Die Demilitarisierung Deutschlands, als Lehre aus der NS-Herrschaft und zwei von Deutschland begonnenen Weltkriegen, wurde von ihr unbeirrt propagiert – trotz der massiven, pseudoprogressiven Propaganda für die Nachfolgerin der Wehrmacht. Sie, die zierliche, kleine Frau, ließ sich in Talkshows darin auch nicht von einer zahlenmäßigen Übermacht an Uniformierten irritieren. Sie wusste als gestandene Nazigegnerin, wozu deutsches Militär, deutsche Eliten, deutsche Volksgemeinschaft in der Lage gewesen waren. Dafür sollte es nie wieder die Gelegenheit geben. Selbst als durch die Bundesrepublik 2007 ein Aufschrei der Empörung ging, weil Christian Klar, Mitglied der Rote Armee Fraktion (RAF), und vielleicht auch einer der Mörder des von der RAF entführten Hanns Martin Schleyer, nach 24 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen werden sollte, rückte Peggy den Maßstab zurecht: „Jetzt geht es um Christian Klar. Bei dem man sich ernsthaft fragt, warum er schon nach 24 Jahren raus will? Nach nur 24 Jahren! Nach allem, was er getan hat. Gefährlich, wie er ist“, schrieb sie im „Stern“: „Es wird ja immer gesagt, dass die traurige Schleyer-Witwe nicht mal erfahren hat, und auch der Sohn ist darüber unglücklich, dass niemand weiß, wer denn nun genau der Mörder ist.“ Und weiter: „Ja, die beklagenswerte, greise Witwe von Hanns Martin Schleyer! Die unglückliche Frau. Die Arme. Meine Mutter war keine zu bedauernde, greise Witwe. Konnte sie auch nie werden. Denn sie wurde zusammen mit Pudl, ihrem Mann, meinem Vater, vergast. So wie fast 100 andere enge Verwandte von uns. Also die Großeltern, Tanten, Onkel, Vettern, Cousinen – alle weg … Frau Schleyer hatte sicher sehr gute Jahre mit ihrem Mann, für sie gute Jahre. In Lidice, in Böhmen, da führte das junge Paar ein Herrschaftsleben. Er, an führender Stelle als SS-Mann, nicht irgendein SS-Mann, er bekleidete einen Offiziersrang. Er war ein überzeugter und begeisterter Nazi, von Anfang an. Schon als 16-Jähriger. Und blieb dabei.“
Sie nahm die Gelegenheit wahr und verglich die Diskussion um Christian Klar mit der Rechtsprechung gegen NS-Massenmörder, zum Beispiel: „Arnold Strippel, SS-Obersturmführer. Er machte Karriere in einigen Konzentrationslagern: auch in Buchenwald und Neuengamme. 1949 wurde er wegen Mordes an 21 Häftlingen zu 21mal lebenslänglich verurteilt, doch der nächste Richter hatte Gnade mit dem Mann und begrenzte seinen Gefängnisaufenthalt. Dafür bekam er eine Haftentschädigung in Höhe von 121.300 D-Mark. Etwa 100.000 D-Mark mehr als überlebende KZ-Häftlinge. Er wurde in Düsseldorf letztlich zu 3,5 Jahren verurteilt.“ Die geringe Bestrafung von NS-Verbrechern – sie war für sie ein Skandal. Aber in Deutschland leider normal.
Ungefähr zu dieser Zeit traf ich Peggy bei einer Filmvorführung in Hamburgs Kommunalem Kino Metropolis, das sich damals aufgrund eines Umbaus zufällig in „ihrem“ Stadtteil St. Georg befand. Aber sie wäre auch sonst da gewesen, wie so oft auf politischen, kulturellen Veranstaltungen. Zu sehen gab es Filme zur linken Opposition aus den 60iger Jahren – etwa Wahlwerbespots für die Deutsche Friedens Union, DFU, oder die Aktion Demokratischer Fortschritt, ADF. Beides waren Tarnkandidaturen der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD. Und wer traf sich hier im Foyer? „Das ist hier wie ein Klassentreffen der Hamburger Kulturleute aus der verbotenen KPD, nur dass Ulrike Meinhof und Christian Geissler fehlen“, sagte mein Vater leise zu mir. Und mittendrin Peggy Parnass, gut gelaunt am Feiern. L’Chaim, Auf das Leben!

Terminhinweis:
04.05.25, 12:00 Uhr, einmalige Vorführung des Films „Peggy Parnass“ mit Gästen. Im Metropolis Kino, Kalkhof 7, 20354 Hamburg.

 

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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