Mit Letraset und Schreibmaschine

Ein Rückblick auf 50 Jahre GWR

| N.N.

Die gewaltfrei-anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution (GWR) wurde 1972 gegründet und ist damit das langlebigste anarchistische Printmedium des deutschsprachigen Raums. Das diesjährige Jubiläum nehmen wir zum Anlass, um die 50-jährige Geschichte in wichtigen Eckdaten und Stichpunkten zusammenzufassen.

1972
Wolfgang Hertle und die Gewaltfreie Aktion (GA) Augsburg produzieren im Sommer 1972 die Nullnummer der Graswurzelrevolution. Die Augsburger Redaktionsgruppe arbeitet bis 1973 weiter.

1973
Seit 1973 ist die GWR ein assoziiertes Mitglied der War Resistersʼ International (WRI).

1974
Die Redaktion zieht nach Berlin um, zwei Jahre später nach Göttingen. Die Zeitung wird mit Schreibmaschine in Spalten getippt, ausgeschnitten und auf eine Druckvorlage geklebt.

Wolfgang Zucht und Helga Weber bauen in Kassel die Graswurzelwerkstatt auf, die die halbjährlichen Bundestreffen des Netzwerks Gewaltfreier Aktionsgruppen organisiert. Die Treffen sind geprägt von Kriegsdienstverweigerern, Gewaltfreien aus der Anti-AKW-Bewegung, anderen Ökologie-, Dritte-Welt und Solidaritäts-Gruppen und Anarchist*innen.

Das Sonderblatt „Was heißt Graswurzelrevolution?“, das der GWR 7 im Winter 1974 beiliegt, beschreibt das Selbstverständnis.

1976
Gründung des Verlags Weber, Zucht & Co.

1977
Repression gegen die GWR im Gefolge des „Deutschen Herbstes“ 1977 und der mörderischen „Terroristenhatz“: Durchsuchung der Redaktionsräume und Anklage gegen einen Redakteur

1978
1978 bis 1988 Redaktionssitz und Produktion von über 90 Ausgaben in Hamburg

Als Beilage der GWR 34/35 im Februar 1978 erscheint die Broschüre „Feldzüge für ein sauberes Deutschland. Politische Erklärung gewaltfreier Aktionsgruppen in der BRD zu Terrorismus und Repression am Beispiel der Mescalero-Affäre“

1979
Die GWR 41 (Mai/Juni 1979) erscheint als Schwerpunktnummer zum Thema „Frauen ins Militär: Der militärisch-emanzipatorische Komplex“. Aus antimilitaristisch-feministischer Sicht wird die u. a. von Alice Schwarzer geprägte Kampagne „Frauen in die Bundeswehr“ kritisiert.

1980
Von April 1980 bis November 1987 erscheint die GWR als DIN-A4-Magazin mit durchschnittlich 40 Seiten. Während der Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss in den frühen 1980er-Jahren erreicht sie eine monatliche Auflage von etwa 5.000 Stück.

Das Netzwerk Gewaltfreier Aktionsgruppen entwickelt sich 1980 mit der Gründung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) zu einer verbindlicheren Struktur. Die Prinzipienerklärung der FöGA bleibt bis heute ein konzeptioneller Leitfaden für die Ausrichtung der Graswurzelrevolution. Ab 1980 richtet die FöGA zweimal jährlich die Graswurzelrevolution-Bundestreffen aus.

1981
Seit 1981 erscheint die GWR nicht mehr etwa vierteljährlich, sondern regelmäßig monatlich mit einer zweimonatigen Erscheinungspause im Sommer. Von 1981 bis 1987 wird sie von der FöGA herausgegeben.

Als GWR 56 erscheint die erste Sondernummer „Soziale Verteidigung“. Weitere Ausgaben folgen.

1984
Mit „Alternative Ökonomie“ (GWR 90/91, Kassel 1984) bringt die GWR erstmalig ein rund 100-seitiges Sonderheft in DIN A4 heraus.

1986
Erster Graswurzelrevolution-Taschenkalender. Das Projekt wird von einer eigenen Graswurzelkalendergruppe koordiniert, die bis 1999 jedes Jahr eine weitere Ausgabe erstellt.

1987
Das Propagieren direkter Aktionen bringt der Graswurzelrevolution ein weiteres Ermittlungsverfahren ein. Wegen des in der GWR 110 (Dezember 1986) abgedruckten Artikels „Wenn der Strommast fällt … – Überlegungen zu Sabotage als direkte gewaltfreie Aktion“ wird im April 1987 ein Verfahren wegen § 129a („Bildung einer kriminellen Vereinigung“) eingeleitet, aber wenig später eingestellt.

Im Jahr 1987 sind die Aktivitäten gegen die NATO-Stabsrahmenübung Wintex/Cimex ein Arbeitsschwerpunkt der Graswurzelgruppen. Die Graswurzelrevolution organisiert mehrere antimilitaristische Kongresse und bereichert die Diskussionen mit den Sonderheften 113/114 „Widerstand gegen die Wehrpflicht“ und 117/118 „Sozialgeschichte des Antimilitarismus“.

Bedingt durch die Krise der FöGA sinkt die Auflage der GWR auf 2.400 Exemplare, und die Redaktion kündigt im Dezember 1987 an, das angeschlagene Projekt einzustellen. Daraufhin reaktiviert sich der explizit anarchistische Flügel der Graswurzelbewegung, um die Zeitung zu retten, was zu Konflikten innerhalb der FöGA führt. Es bildet sich ein unabhängiger Herausgeber*innenkreis.

1988
Ab Juni 1988 wird die Graswurzelrevolution offiziell nicht mehr von der FöGA, sondern von einem unabhängigen Herausgeber*innenkreis herausgegeben. Die Redaktion wechselt nach Heidelberg.
Johannes Sternstein und Maren Witthoeft steigen beim Layout der Zeitung ein. Inzwischen kommen in einzelnen Bereichen Computer zum Einsatz: Atari und MS-DOS ergänzen Schere, Klebstoff und Letraset. Ab 1988 wird die GWR beim damals noch selbstverwalteten Caro-Druck in Frankfurt/Main gedruckt.

1989
Erste „Libertäre Buchseiten“ zur Frankfurter Buchmesse als GWR-Beilage im Oktober

1990
Sonderheft zur Kritik der parlamentarischen Demokratie: „Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben!“

1991
Am 17. Juli 1991 werden die GWR-Redaktionsräume und die Privatwohnung des GWR-Redakteurs in Heidelberg von zwei Staatsanwälten und vier Beamt*innen der Heidelberger Staatsschutzabteilung durchsucht. Anlass ist ein Flugblatt gegen den Golfkrieg. Beschlagnahmt werden die Druckvorlagen der Flugschrift und verschiedene antimilitaristische Zeitschriften und Flugblätter. Das Ermittlungsverfahren wegen § 111 StGB („Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“) wird nach einigen Monaten eingestellt.

1992
Von September 1992 bis Oktober 1995 ist der Redaktionssitz in Wustrow. Die Regionalredaktion Süd in Heidelberg besteht parallel bis 2001 weiter. Nach und nach wird das mühselige Abtippen der auf Papier eingereichten Artikel abgeschafft: Die Texte kommen zunächst auf Floppy-Disks, dann auf Disketten in der Redaktion an. Die Redaktionsarbeit findet mit Word-Programmen statt.

Zwanzig Jahre nach Erscheinen der Nullnummer zieht die GWR-Redaktion in der Sondernummer 171/172/173 „Texte zu Anarchismus und Gewaltlose Revolution heute“ eine Bilanz und erläutert den gewaltfrei-anarchistischen Ansatz: Der Kampf um Befreiung muss immer ein Kampf gegen Gewalt sein.

1994
Anlässlich der Bundestagswahl 1994 erscheint die Massenzeitung „Wenn Wahlen was verändern würden, wären sie verboten – Eine Sonderveröffentlichung der Zeitung Graswurzelrevolution zum ‚Superqualjahr‘ 1994“.

1995
Wieder kommt eine Massenzeitung mit fünfstelliger Auflage heraus: Im April 1995 erreicht die „Aktionszeitung für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen: ATOMKONSENS IST NONSENS“ viele Menschen auch außerhalb der anarchistischen Bewegung und trägt zur Mobilisierung gegen Castortransporte bei.

Jubiläum im September: Die Leser*innen können die 200. Ausgabe erwerben.

Neues Vertriebskonzept: Nach dem Rückgang des Handverkaufs und dem Verschwinden linker Buchläden setzt im September 1995 der Verkauf an Bahnhofkiosken und über Grossisten in größeren Städten ein.

Ab November 1995 zieht die Redaktion bis Ende 1998 nach Oldenburg.

Seit Dezember 1995 erscheint die Zeitung mit neuem Layout im Berliner Format.

1996
Zum 75-jährigen Bestehen der War Resisters’ International wird das Sonderheft Nr. 208/209 „Vom Widerstand gegen den Krieg zur gewaltfreien Revolution? – Perspektiven internationaler gewaltfreier Vernetzung gegen globale Gewaltstrukturen“ publiziert.

Die GWR findet den Weg ins Internet: 1996 geht die eigene Website online.

1997
Zum 25-jährigen Bestehen der GWR findet vom 10. bis 12. Oktober eine dreitägige Konferenz in Köln statt.

1998
1998 wird der Buchverlag Graswurzelrevolution gegründet, der organisatorisch eng mit der Zeitung verbunden ist.

1999
Ab Januar 1999 wird eine Koordinationsredaktion in Münster tätig und bezieht das heutige Büro.
Parallel wird eine Frauen-Lesben-Redaktion der GWR in München gegründet. Das Projekt scheitert innerhalb von zwei Jahren an politischen Differenzen und finanziellen Forderungen, sodass sich die Gruppe 2001 auflöst.
Die Zeitung wird von beiden Koordinationsredaktionen gemeinsam erstellt.

Der Herausgeber*innenkreis kommuniziert verstärkt per Mail, was die Arbeitsabläufe und Absprachen zwischen den weit verstreut lebenden Herausgeber*innen extrem erleichtert. Vorher lief die Kommunikation über Telefon und Briefe.

Die „Nein zum Krieg!“-GWR-Extrablätter zum Jugoslawienkrieg 1999 erreichen Auflagen bis zu 35.000 und werden kriminalisiert. Gegen den Koordinationsredakteur wird ein §111 StGB-Ermittlungsverfahren eingeleitet – seit 1945 das erste Verfahren gegen einen Journalisten wegen Aufruf zur Desertion.

2000
Ab der Sommer-Ausgabe 2000 wird die GWR in Münster im Eigenverlag (Verlag Graswurzelrevolution e. V.) herausgegeben und presserechtlich von Koordinationsredakteur Bernd Drücke verantwortet.

2001
Von 2001 bis 2003 produziert die GWR-Redaktion gemeinsam mit Kriegsdienstverweigerern in der Türkei acht Ausgaben der zweisprachigen Otkökü (türkisch für „Graswurzel“). Die türkisch-deutsche Otkökü erscheint vierteljährlich als Beilage der GWR und mit einer zusätzlichen Auflage von jeweils bis zu 7.000 Exemplaren. Nachdem die in die Türkei geschickten Ausgaben dort beschlagnahmt werden, beschränkt sich der Otkökü-Vertrieb auf Westeuropa.

2002
Mit einem dreitägigen Kongress in Münster feiert die GWR ihren 30. Geburtstag.

2003
Die höchste Auflage einer GWR-Publikation wird mit dem „No WAR!“-Extrablatt im Vorfeld des 3. Golfkriegs im Dezember 2002/Januar 2003 erreicht: 55.000.

2006
Verschiedene Landesbehörden und das Bundesamt für Verfassungsschutz erwähnen in ihren Jahresberichten die GWR und ordnen sie dem „linksextremistischen Spektrum“ zu. Der Verfassungsschutzbericht 2005 widmet der Zeitung etwa eine halbe Seite im Abschnitt „Traditionelle Anarchisten“. Für Empörung sorgt die Titelgestaltung eines VS-Berichts: Das GWR-Logo wird neben Symbolen neonazistischer Gruppierungen abgebildet – eine unsägliche Gleichsetzung von Gewalt und Diktatur befürwortendem Rechtsradikalismus und gewaltfrei-anarchistischen Linken.

2007
Die GWR feiert ihr 35-jähriges Bestehen mit einem Fest und einer Konferenz vom 31. August bis zum 2. September 2007 in Könnern (bei Halle/Saale). Auf dem Programm stehen Konzerte, Filme, Vorträge, Workshops und Diskussionen.

Im Mai 2007 erscheint das GWR-Extrablatt „NO WAR! NO G8! Sturmwarnung“ mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren.

Mit der Jugendzeitung „Utopia – Gewaltlos – Herrschaftsfrei“ wird ein neues Sonderprojekt initiiert, das von September 2007 bis Ende 2011 zweimonatlich als GWR-Beilage in insgesamt 21 Ausgaben herauskommt und zusätzlich als kostenlose Massenzeitung verbreitet wird. Die Auflage der Utopia, die von einem selbstständigen Redaktionskollektiv herausgegeben wird, steigt von 10.000 auf zeitweise 25.000 (Nummer 9, März 2009).

2011
Im Mai 2011 werden 30.000 Exemplare von „Abschalten! Sofort! Extrablatt und Beilage zu GWR 359“ verteilt.

2012
Zu ihrem 40-jährigen Bestehen lädt die GWR zu einem Jubiläumskongress mit Ausstellungen und großem Fest in Münster ein. Vorträge, Diskussionen und praktische Workshops werden abends von Konzerten ergänzt.

Die GWR wird bei Facebook aktiv und postet regelmäßig aktuelle Beiträge aus der Zeitung und Nachrichten aus befreundeten Projekten.

2013
Seit 2013 erscheinen die „Libertären Buchseiten“ zweimal jährlich, jeweils zur Frankfurter und zur Leipziger Buchmesse.

Das Archiv und der Vertrieb der GWR kommen nach Freiburg. Damit hat sich ein dauerhafter Ort gefunden, nachdem sie zuvor mehrfach umziehen mussten: In den 1990er-Jahren waren Archiv und Vertrieb zeitweise in Hamburg und München, von 1999 bis 2001 in Heidelberg und anschließend mehr als zehn Jahre in der Eifel ansässig.

2015
Seit der GWR 397 (März 2015) erscheint die Zeitung nach einem Relaunch in neuem Design und mit jeweils 24 Seiten (statt zuvor meist 20 Seiten) im Berliner Format.

2020
Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Zeitung fällt eine Ausgabe krankheitsbedingt aus (Februar-Nummer). Es geht mit einer ad hoc gebildeten Redaktion weiter, die vier Ausgaben bis Sommer 2020 herausgibt. Die Sommer-Ausgabe wird um vier Seiten erweitert.

Im März erscheint die anarchafeministische Massenzeitung 
„A-Feminismus von unten“, die im Vorfeld des 8. März verteilt wird.

Während die Auflage in der Regel bei 3.500 liegt, wird sie wegen der Corona-Pandemie auf 3.000 heruntergesetzt. Die Auflage der Libertären Buchseiten bleibt bei 5.000 Exemplaren.

2021
Seit Jahresbeginn ist die GWR auf Twitter.

Ab Januar 2021 wird die Redaktion von einer Vertretungsredaktion übernommen, die bis Sommer fünf Ausgaben produziert und mit neuen Textformaten und Rubriken experimentiert. Da die Leipziger Buchmesse coronabedingt verschoben wird, werden die Libertären Buchseiten in neuem Layout im Mai herausgegeben. Im Mai wird eine neue Koordinationsredaktion gewählt, die im August ihre Arbeit beginnt. Die Redaktion wird dezentralisiert.

2022
50 Jahre GWR: Die Geschichte der Graswurzelrevolution soll über das ganze Jahr aus verschiedenen Perspektiven thematisiert werden. Eine Jubiläumsparty ist während der 6. Anarchistischen Buchmesse in Mannheim vom 26. bis 29. Mai 2022 geplant.