Der Anarchist Ramón Acín (1888-1936)

Anarchosyndikalistischer Aktivist, libertärer Pädagoge, Journalist und avantgardistischer Künstler in Aragon

| Lou Marin

Noch immer sind zahlreiche Aktivist*innen der anarchistischen Bewegung vergessen, obwohl sie teilweise in ihrer Epoche für die anarchistische Bewegung bedeutsam waren. Das gilt besonders für die spanische anarchistische Bewegung, die 1936 zur sozialen Revolution in großen Teilen Spaniens führte. In Spanien gibt es eine jüngere Erinnerungsarbeit zu Ramón Acín, die nun über Veröffentlichungen von Forscher*innen des französischen CIRA (Centre International de la Recherche sur l’Anarchisme, Internationales Forschungszentrum zum Anarchismus) in Marseille den Weg über die Pyrenäen gefunden hat, um damit diesen anarchistischen Bildhauer und Maler auch in Europa bekannt zu machen. (GWR-Red.)

In Spanien gibt es eine von Katia Acín, der Tochter Ramóns und ebenfalls Künstlerin, 2005 gegründete „Stiftung Ramón und Katia Acín“, die sich der Erinnerung an die Person Ramón Acín und dessen Werk widmet. Im Museum seiner Heimatstadt Huesca/Aragon ist ihm ein ganzer Saal gewidmet; im Park Servet der Stadt sind die von ihm stammenden, typischen „Pajaritas“, an gefaltete Papiervögel erinnernde Skulpturen, sehr präsent und sogar zu einem Symbol der Stadt Huesca geworden (siehe Fotos). Sie werden auf Plakaten, Postkarten und sogar auf Schmuck reproduziert. 2004 brachte die CNT (Confederación Nacional del Trabajo / Nationale Konföderation der Arbeit, anarchosyndikalistische Gewerkschaft) eine Erinnerungsplakette am Haus von Ramón Acín und seiner Ehefrau Conchita Monrás (siehe Portraitbild) an, wo sie mit ihrer Tochter Katia und ihrem Sohn Sol gelebt haben und wo sie beide schließlich 1936 auch von Franco-Faschisten verhaftet und dann erschossen wurden.

„Oh kleiner Vogel, kleiner Vogel aus Papier,
Dein Leben währt nur Minuten…
Aber
Du lachst dem Schicksal ins Gesicht:
Der Morgen ist ewig, ewig ist die Quelle des Taus.“ (1)

Anarchist, Pädagoge, libertärer Journalist, Künstler und früher Corrida-Gegner

Ramón Acín wurde 1888 in Huesca im Norden Aragons geboren. 1913 gründete er in Barcelona die Zeitschrift „La Ira“ (Die Wut). Er beteiligte sich als Autor an zahlreichen anarchistischen Zeitungen Aragons und Kataloniens, u.a. auch an der CNT-Zeitung „Solidaridad Obrera“ (Arbeiter*innensolidarität). Als Delegierter der Stadt Huesca nahm er an verschiedenen Kongressen der CNT teil. Zeitweise war er dort so populär, dass er wohl die Wahl zum Bürger*innenmeister gewonnen hätte – seine anarchistischen Überzeugungen verhinderten jedoch, dass er zur Wahl antrat.
1916 wurde er Professor für Malerei an der Hochschule von Huesca. Obwohl er in den 1920er- und 1930er-Jahren an einigen Aufständen teilgenommen hatte und 1926 und 1930 ins Pariser Exil gehen musste, stand er revolutionärer Gewalt kritisch gegenüber. In Ermangelung einer ausgearbeiteten und verbreiteten Theorie und Praxis des gewaltfreien Aufstands in Spanien bevorzugte er – wie damals viele Gewaltkritiker*innen – die libertäre und laizistische Bildung als wichtigstes Kampfmittel für die soziale Revolution und war Bewunderer der libertären Pädagogen Francisco Ferrer und Joaquín Costa. Ramón gab Abendkurse für Arbeiter*innen und gründete 1922 in seinem eigenen Haus eine Privatakademie für Malerei, wo er gegenüber seinen Schüler*innen die Prinzipien der libertären Pädagogik umsetzte. Er kannte und schätzte auch die Reformpädagogik von Celestin Freinet, in der die Schulklasse in eine handwerkliche Kooperative in Selbstorganisation der Schüler*innen verwandelt wurde.
Acín schrieb mehr als hundert Artikel für die anarchistische und die regionale Presse in Aragon, u.a. autobiographische Artikel, Ideologie- und Kunstkritiken. Mit Texten zur Wiederaufforstung der Wälder zeigte er ein bemerkenswert frühes Interesse für Ökologie. Ebenso eindrucksvoll war sein Interesse für Tierrechte und sein Eintreten gegen den Stierkampf (die Corrida). Er schrieb zudem über Vegetarismus und Naturismus.
Das künstlerische Werk im engeren Sinne von Ramón Acín ist ebenfalls vielfältig. Er veröffentlichte 80 Zeichnungen und Karikaturen gegen den Krieg, die Kirche und die Corrida. Ab 1913 erhielt er eine finanzielle Förderung, reiste viel und schuf Gemälde in Öl. In Paris trat er in Kontakt mit den avantgardistischen Künstlern seiner Zeit, mit Picasso, Dali und Buñuel. Er wollte Kunst für alle zugänglich machen. 1928 widersetzte er sich mit einem Manifest über Goya den offiziellen Gedenkfeierlichkeiten zu dessen 100. Todesjahr. Als Bildhauer schuf er die Falt-Konstruktionen aus Metall (Pajaritas), die aussehen wie gefaltete Papiervögel und die zum Symbol der Stadt Huesca wurden.
Eine Ausstellung in Madrid 1931 mit seinen expressionistischen Metallskulpturen hatte großen Erfolg und brachte ihm ein ansehnliches Einkommen. Damit finanzierte er u.a. die Produktion des dokumentarischen Films des Surrealisten Luis Buñuel von 1932, „Tierra sin pan“ (Land ohne Brot), über das Elend der Lebensverhältnisse auf dem Lande in der Region Estremadura. Während der Dreharbeiten zum Film fand am 20./21. Juli 1935 in der Region Las Hurdes der 2. Kongress der Anhänger*innen der Lernmethode Freinets unter Beteiligung Acíns statt.
Der Franquismus hat einen Teil seiner Skulpturen zerstört oder vor der Öffentlichkeit versteckt. Neuerliche Ausstellungen zu seinem Werk und seinen Ideen gab es dann ab den Achtzigerjahren in Huesca und Barcelona. (2)

Ausgewählte Positionen zur Auseinandersetzung mit dem spanischen Militarismus

Obwohl sich die Forschung hinsichtlich Acíns Positionen zur revolutionären Gegengewalt manchmal uneinig ist – der französische Anarchist Floreal Cuadrado spricht ihm einen Gewaltvorbehalt in bestimmten Ausnahmefällen zu – gibt es einige Belege für seine gewaltkritische Position, so etwa seine langjährige und enge Freundschaft seit früher Kindheit (seit 1900) mit dem Journalisten und Individualanarchisten Felipe Alaiz. Alaiz wurde später, nach Acíns Ermordung, in den Fünfzigerjahren zu einem anarchistischen Bewunderer Albert Camus‘ und dessen Hauptwerk „Der Mensch in der Revolte“, über das Alaiz schrieb: „Was Camus vorschlägt, ist nichts weniger als eine Rationalisierung der Revolte, noch besser: Es ist die Forderung nach einer Revolte, die nicht im Nihilismus endet, die nicht in der Negation stehenbleibt und die sich nicht vom Ressentiment nährt.“ (3) Alaiz schrieb in der „Solidaridad Obrera“ von Februar bis April 1952 eine Serie von zehn Artikeln über „Der Mensch in der Revolte“ (4).
Während des Ersten Weltkriegs, im Januar 1915, freundete sich Ramón Acín in Granada mit dem spanischen Schriftsteller Federico García Lorca an. 1919/20 malte er eine Serie von Zeichnungen mit dem zynischen Titel „Die Wissenschaft der Krautjunker ist unbesiegbar“, eine Kritik an der Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg, gefolgt von der Serie „Krieg dem Krieg“, einem deutlichen Ausdruck seines Antimilitarismus. In derselben Zeit beteiligte er sich an der ersten Ausgabe der „Zeitschrift für Aragonien“, die sein Freund Felipe Alaiz herausgab. Zu Beginn der 1930er-Jahre erreichte die Popularität Acíns in Huesca ihren Höhepunkt.
1930 nahm Acín an einer Aufstandsbewegung gegen die Diktatur Prima de Rivera teil, die scheiterte. Acín flüchtete in sein Pariser Exil. Am Tag der Proklamation der Zweiten Spanischen Republik, am 14. April 1931, zog bereits eine Menschenmenge vor das Familienhaus in Huesca und bejubelte seine Frau Conchita, doch er selbst befand sich noch in Paris. Ramón Acín kehrte am 26. April 1931 zurück und wurde von einer riesigen Menschenmenge jubelnd empfangen.
Am 26. Januar 1936 präsidierte er einer Großversammlung der CNT in Huesca. Die Nachricht vom Putsch der Truppen Francos am 18. Juli 1936 führte in Huesca zu einer Massenmobilisierung und zu einer Diskussion um die Bewaffnung des Volkes, um die legitime Republik zu verteidigen. Der pazifistische Anarchist Acín vertrat die am wenigsten kriegerische Position entgegen seiner Genossen Francisco Pozán und anderer. Die Ereignisse überschlugen sich in den nachfolgenden Stunden und die faschistischen Aufständischen um Franco übernahmen in kurzer Zeit die Macht in der Provinzhauptstadt. Acín befürchtete das Schlimmste und versteckte sich tagelang in einem Verlies im eigenen Haus. Francos putschistische Truppen durchsuchten mehrmals das Haus, ohne ihn in seinem Versteck zu finden. Am 6. August 1936 ertrug er die Folter, die Conchita erleiden musste, nicht mehr länger, kam aus seinem Versteck und ergab sich. Noch in derselben Nacht wurde er von den Franco-Faschisten an der Friedhofsmauer der Stadt erschossen. Am 23. August 1936 erlitt Conchita zusammen mit ca. hundert Bewohner*innen Huescas dasselbe Schicksal. (5)

(1) Auszug aus dem Gedicht „Pajarita de papel“ (Kleiner Vogel aus Papier) von Acíns Dichterfreund Federico García Lorca.
(2) Felip Équy: Ramón Acín (1888-1936): Un artiste aragonais anarchiste, in: Les Tireurs doubli: En hommage à Ramón Acín, Marseille 2022, S. 11-33, besonders S. 6-10.
(3) Felipe Alaiz, in: Solidaridad Obrera, Nr. 363, 16. Februar 1952, S. 1.
(4) Vgl. Freddy Gomez: Fraternité des combats, fidelité des solitudes: Camus et Solidaridad Obrera, in: Lou Marin (Hg.): Albert Camus: Écrits libertaires (1948-1960), Indigène Éditions, 4. Auflage, 2016, S. 286.
(5) Angaben nach Emilio Casanova: Chronologie de Ramon Acín Aguillé, Huesca, 1888-1936, in: Les Tireurs doubli: En hommage à Ramón Acín, Marseille 2022, S. 11-33, besonders S. 25f.

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