editorial

500 Jahre Graswurzelrevolution – Geschichte, Utopie, Perspektiven

| Bernd Drücke

Gwrtitel500

Liebe Leser*innen,

500 GWR-Ausgaben sind ein Grund zum Feiern! Aber wieso „500 Jahre Graswurzelrevolution“? Ist die GWR eine Jahresschrift?! Sie ist doch gerade mal zarte 53 Jahre alt!
Ja, aber tatsächlich gab es auch vor 500 Jahren schon graswurzelrevolutionäre Ideen und, wer weiß, vielleicht ist die Menschheit der Verwirklichung der Utopie einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft in 447 Jahren, 500 Jahre nach Gründung der GWR, schon näher gekommen. Wir haben die GWR 500 zum Anlass genommen, Euch einen Schwerpunkt zum oben genannten Thema zu präsentieren, der Mut machen kann.

Utopien von einer herrschaftsfreien Welt gibt es schon seit über 500 Jahren. Vor fast 500 Jahren, am 1. November 1530, wurde Étienne de La Boétie geboren. Unter dem Eindruck der Revolten in Frankreich verfasste der Student seine Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft: „Discours de la servitude volontaire“. Darin vertrat er die These, dass die Unterdrückung vieler Menschen durch einen einzigen nur solange möglich sei, wie die vielen sich unterwerfen, statt sich kollektiv zu widersetzen. 1910 entdeckte der Anarchist Gustav Landauer diese frühe anarchistische Schrift La Boéties und übersetzte sie ins Deutsche (1).
Emanzipatorische, aber leider nur wenige gewaltfreie Tendenzen, gab es auch im Bauernkrieg, der vor 500 Jahren als Aufstand gegen die Leibeigenschaft seinen Höhepunkt erreichte. Siehe dazu den Artikel von Florian Hurtig (S. 13) und Silkes Satire (S. 12).

Wie wichtig Utopien sind, das machen Konstantin Wecker mit seinem Artikel „Die Kraft von Utopia – Visionen einer besseren Welt“ (S. 20 f.), Ilija Trojanow mit „Ein Lob der Utopie – Kopfreisen auf den sieben Meeren des Utopischen“ (S. 1, 19) und GWR-Mitherausgeberin Luzie Morgenstern mit „Utopie statt Dystopie“ (S. 2) klar.
Nicht zuletzt um generationsübergreifende, soziale Bewegungspolitik und anarcha-feministische Utopien jenseits von Patriarchat, Herrschaft und Gewalt geht es im Graswurzelrevolutionärinnen-Interview auf Seite 3 ff., das ich mit sechs GWR-Autorinnen und -Mitherausgeberinnen im Alter von 24 bis 90 geführt habe.
Henning Melber hat mit seinem Artikel „Solidarität – das Pflänzchen Immergrün“ (S. 7) ein essayistisches Fragment zur GWR 500 beigesteuert. Anne Niezgodka macht mit „Keine Ruhe im Karton“ (S. 6) klar, was die 40-jährige Geschichte des Duisburger Archivs für alternatives Schrifttum (afas) mit der GWR zu tun hat und dass Archive über Resilienz verfügen müssen, um autoritären Tendenzen standhalten zu können.
Horst Blume erinnert an eine weitere Erfolgsgeschichte: „Mit der Graswurzelrevolution gegen den Pleitereaktor“ (S. 10). Viola Tölke zeichnet die Entwicklung der Gewaltfreien Aktionsgruppe Hannover (S. 11) nach. Die Grußworte von Gisela Notz (S. 28), Contraste-Redakteurin Regine Beyß, FriedensForum-Redakteur Martin Singe, Rabe-Ralf-Redakteur Johann Thun (S. 9), Wissenschaft & Frieden-Redakteur David Scheuing, Michi Schulze von Glaßer (DFG-VK) (S. 8), sowie von Britta Rabe und Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee (S. 11) sind voller Anekdoten. Für die GWR 500 haben wir zudem zahlreiche Zeichnungen und Comics bekommen, die wir aufgrund von Platzmangel zum Teil erst in den nächsten Ausgaben abdrucken können. Die GWR-Zeichner*innen werden in Maurice Schuhmanns Comic-Kolumne auf Seite 14 vorgestellt.

Unser Kampf für Würde und Recht ist stärker als die Mittel der Autokraten

Im „zweiten Buch“ findet Ihr auf den Seiten 15 bis 19 einen antimilitaristischen Schwerpunkt mit Beiträgen von Christine Schweitzer zum Thema Soziale Verteidigung und von Olga Karach zur Militarisierung von Vorschulkindern in Belarus. Nadine von den Palestinians and Jews for Peace schreibt zum Krieg in Gaza und Günter Knebel zum Deserteurs-Denkmal für Ludwig Baumann. Heike Knops nimmt uns in einer „Geschichte des Friedens“ mit auf eine Reise in die Vergangenheit.
Gisela Notz stellt uns die unbekannte Anarchistin Elisabeth Dmitrieff (S. 23) vor. Dieter Nelles beleuchtet, wie aus der „Warschawjanka“ mit Hilfe von Alfred Schulte „A las Barricadas“ – die Hymne der CNT – wurde. Außerdem geht es in dieser GWR um die Kampagne für ein Gustav-Landauer-Denkmal (S. 22), das Black Pigeon (S. 24) und Kanzler Merz (S. 26). Damit Ihr angesichts der vielen positiven Texte nicht euphorisch abhebt und die bittere Realität ausblendet, solltet Ihr den Leitartikel „Moralvorstellungen“ von Andreas Kemper (S. 1, 25) lesen.

Was fehlt?

GWR-Autor und Ökoaktivist Wladimir Sliwjak ist Träger des Alternativen Nobelpreises (2). Jetzt wurde der Anarchist vom russischen Justizministerium als „Auslandsagent“ eingestuft. Der vorgeschobene Grund des Putin-Regimes: Wladimir habe „falsche Informationen“ über Russlands Krieg gegen die Ukraine verbreitet. Er sagt dazu: „Meine Einstufung als ‚Auslandsagent‘ beweist abermals, wie groß die Angst des russischen Regimes vor der Zivilgesellschaft ist. Diese Drohgebärde wird mich nicht zum Schweigen bringen. Unser Kampf für Würde und Recht ist stärker als die Mittel der Autokraten.“

Gegen die Zentralveranstaltung des nationalen Veteranentags (vgl. GWR 499) organisiert der provisorische anarchistische Antikriegsrat am 15. Juni in Berlin unter dem Motto „Gegen jedes Militär und gegen jeden Krieg“ eine Kundgebung mit Info- und Musikbeiträgen. Die GWR ist Medienpartnerin. (3)

Gegen Patriarchat und Krieg – Frauen Rojavas bauen ihre eigene Zukunft

In Rojava, der autonomen kurdischen Region im Norden Syriens, ist ein ungewöhnlicher sozialer Prozess im Gang. Inmitten eines Krieges, der Hunderttausende getötet und Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat, nehmen viele der dort lebenden Frauen ihr Leben in die eigene Hand und empowern sich. Die emanzipatorische kurdische Frauenbewegung fordert die Machtstrukturen im Nahen Osten heraus. „Ohne sie ist die Verwirklichung einer basisdemokratischen, autonomen Selbstverwaltung in Rojava, in der die Bevölkerung das Sagen hat, nicht denkbar“, schreibt GWR-Autor Robert Krieg. Sein neuer Dokumentarfilm „Trotz alledem“, den er in den Gebieten der demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien gedreht hat, startet am 12. Juni in den Kinos (4). Sehenswert!

Wir verabschieden uns in die alljährliche GWR-Sommerpause (5). Ein Riesendank an alle, die z.B. mit ihren Artikeln und Grafiken zum Kunstwerk GWR 500 beigetragen haben!

Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen und einen schönen Sommer der Anarchie,
Bernd Drücke
(GWR-Koordinationsredakteur)

(1) 2001 wurde Landauers Übersetzung vom Verlag Klemm & Oelschläger in Ulm neu herausgebracht.
(2) Höre Radio-Graswurzelrevolution-Interview auf: https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-wladimir-sliwjak-russischer-umweltaktivist-im-exil-230614/
(3) Weitere Infos auf antikrieg.blackblogs.org und www.graswurzel.net
(4) Infos: https://www.wfilm.de/trotz-alledem/
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=H4irJmrT3NE
(5) GWR-501-Redaktionsschluss: 10. August.