Die italienische Politikerin Luciana Castellina (* 9. August 1929 in Rom) war Mitgründern und Mitherausgeberin der Zeitung „Il manifesto“. Von 1976 bis 1983 war sie Abgeordnete verschiedener linker Parteien im italienischen Parlament und von 1979 bis 1999 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Was sagt die 96jährige Sozialistin zu den Aufrüstungsplänen der deutschen Regierung? (GWR-Red.)
Robert Krieg: Bei meinem letzten Aufenthalt in Italien habe ich erlebt, wie sehr sich Italiener/innen Sorgen machen über die Wiederaufrüstung in Deutschland. Was sind die historischen Gründe dafür? Welche Rolle spielt dabei das kollektive Gedächtnis der Menschen?
Luciana Castellina: Es geht dabei nicht nur um die Besorgnis über die deutsche Wiederbewaffnung. Die Menschen in Italien scheinen sich der katastrophalen Folgen eines jeden Krieges stärker bewusst zu sein als die Bürgerinnen und Bürger anderer europäischer Länder, in denen sich ebenfalls in den 80er Jahren, aber auch danach, z.B. zur Zeit des Irak-Krieges, eine starke pazifistische Bewegung entwickelt hat. Ich denke dabei insbesondere an Großbritannien und Deutschland. Ich kann nicht begreifen, warum die derzeitige sinnlose Militarisierung und Aufrüstung so weithin akzeptiert wird.
In diesem allgemeineren Rahmen ist die Furcht vor einer deutschen Wiederaufrüstung sicherlich besorgniserregender. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wiegt schwer, auch wenn wir nach ’68 die Mobilisierung der deutschen pazifistischen Bewegung für außergewöhnlich hielten.
Robert: Bundeskanzler Friedrich Merz will Deutschland zur stärksten konventionellen Militärmacht in Europa machen, damit Deutschland und Europa gegenüber Russland „verteidigungsfähig“ werden. Sind das die Gründe? Oder geht es nicht vielmehr um die Wiederbelebung imperialer Machtinteressen?
Luciana: So wie es mir verrückt erscheint, Putin für einen neuen Hitler zu halten, der in ganz Europa einmarschieren will, so verrückt erscheint es mir, zu glauben, dass die derzeitigen deutschen Speerwerfer bereit wären, den Wiederaufbau einer militärischen Ausnahmemacht in ihrem Land zu unterstützen, d.h. einer aggressiven imperialen Großmacht. Wer Krieg führt, wird immer von mächtigen imperialen Interessen genährt. Und das trotz der Katastrophe, die er unweigerlich auslösen wird. Niemand kann heute in Anbetracht der Toten, die ein mit Atomwaffen geführter Krieg verursachen würde, daran denken, ihn zu entfesseln, aus welchen Gründen auch immer. Die Vernunft kann einen nur dazu zwingen, Streitigkeiten ohne den Einsatz von Waffen zu lösen.
Robert: Die sogenannte „Geopolitik“ entstand im 19. Jahrhundert als Legitimationswissenschaft für die Ziele imperialistischer Großmachtpolitik. Es war die „Geopolitik“, die den Begriff des „Lebensraums“ für die Nazis bereitstellte. Seit der Krim-Annexion durch Russland 2014 ist sie wieder in aller Munde. Josep Borell, Europas früherer Chefdiplomat, nannte den Krieg in der Ukraine „die Geburtsstunde des geopolitischen Europas“. Die EU-Kommission spricht von ihrem „geopolitischen Erwachen und der notwendigen Verwandlung ihrer wirtschaftlichen Soft Power in militärische Hard Power“. Du hast zwanzig Jahre lang für unterschiedliche linke Parteien im europäischen Parlament gesessen. Wie bewertest Du diese Wende?
Luciana: Leider hat Europa immer akzeptiert, dass seine Außenpolitik von der NATO bestimmt wird. Als die Berliner Mauer fiel und Gorbatschow seine Truppen aus Osteuropa abzog, hätte man erwarten können, dass die Europäer die Gelegenheit nutzen würden, um ein Netz wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit mit der UdSSR und den anderen Staaten des Warschauer Paktes aufzubauen. Stattdessen wurden sie dazu genötigt, die gegenteilige Strategie zu akzeptieren, nämlich die der NATO. Die NATO ist in kurzer Zeit von 12 auf 30 Mitgliedsstaaten angewachsen, von denen die neuen alle um Russland herum liegen. Mit dieser aggressiven Strategie hat die NATO den Weg für den russischen Revanchismus und für Putin geebnet, der zu seinem Anstifter geworden ist. Kriege können verhindert werden, solange sie in der Phase der Vorbereitung sind, aber wenn sie ausgebrochen sind, wird es schwer, sie zu beenden. Die EU musste damals eingreifen. In der Ukraine hätte der Kompromiss von Minsk (1) eine Lösung sein können. Heute, nach dramatischen Zerstörungen und Todesfällen, befinden wir uns in einer Sackgasse.
Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir an einem epochalen Wendepunkt stehen, dass die Welt so nicht mehr funktionieren kann, dass die Umweltkatastrophe kein Hirngespinst ist und dass wir das System von innen heraus verändern müssen.
Das, was als Geopolitik bezeichnet wird, ist das Aufkommen einer strukturellen Krise des Kapitalismus, die bereits seit vielen Jahrzehnten besteht. Diese Situation stellt jedoch nicht den Sieg des Kapitalismus dar, sondern bringt im Gegenteil seine epochale Krise ans Tageslicht. Sie hat gezeigt, dass das auf einer immer intensiveren Warenproduktion basierende Wirtschaftsmodell nicht global anwendbar ist und dass die westlichen Länder nicht mehr über den Spielraum verfügen, um die Reformen (Wohlfahrt) zu gewähren, die den berühmten „sozialdemokratischen Kompromiss“ kennzeichneten, der es dem Kapitalismus ermöglichte, eine Phase lang mit der Demokratie zu koexistieren. Deshalb verschärft sich die Krise, die Auseinandersetzungen werden heftiger, der Wettbewerb wird rücksichtsloser. Es ist diese Krise, die der Rechten die Tür öffnet, die gewinnt, weil sie sich als autoritäre Lösung für jeden Widerspruch präsentiert. Waren nicht der Faschismus in Italien und der Nazismus in Deutschland die Folge auch der Krise nach dem Ersten Weltkrieg?
Robert: Die neue Rechte ist weltweit auf dem Vormarsch und untergräbt das westliche Demokratiemodell. Die kulturelle Hegemonie des Westens scheint unaufhaltsam in die Hände der extremen Rechten zu fallen. „Der Linken ist es nicht mehr gelungen, eine Vision zu artikulieren, für die es sich lohnt zu kämpfen. Während der vergangenen 30 Jahre hat sowohl die Linke als auch die Rechte innerhalb des gleichen neoliberalen Paradigmas gearbeitet. Die Mainstream-Parteien jenseits ihrer politische Farbe haben sich in eine klare technokratische Richtung bewegt, und die Politik hat sich darauf beschränkt, Lösungen für bestimmte Probleme zu finden“, analysiert Daniel Chandler, ein Philosoph aus England. Jetzt beginnt sich die Situation fundamental zu ändern: „Wenn die Linke sich darauf beschränkt zu kritisieren, ohne auf genuine und faszinierende Weise eine Vision davon zu entwickeln, was eine gerechte Gesellschaft ist, werden wir das andere bekommen.“ (2) Was hat Deiner Meinung nach zum Zusammenbruch einer linken Vision geführt?
Luciana: Die Linke hatte ihre Legitimation in der Vertretung der Arbeiterklasse. Jedoch ist sie zersplittert und geschwächt. In vielen Fällen, u. a. auch in Italien, weil hier die PCI nicht in der Lage war, den großen Schub zu begreifen, der 1968 und Anfang der 70er Jahre zur Schaffung neuer und starker Arbeitermächte geführt hatte. Ich denke zum Beispiel an die Fabrikräte (3). Sie wusste nicht, wie sie auf die entstandenen Neuerungen reagieren sollte, vor allem auf das Auftauchen anderer sozialer Gruppierungen, die zwar antikapitalistisch waren, sich aber von denen der Arbeiterinnen und Arbeiter unterschieden, – man denke nur an die feministische Revolution! Eine Vereinigung der Arbeiterinnen und Arbeiter war (nach Ansicht der PCI, R. K.) nicht mehr auf der Basis unmittelbarer Bedürfnisse denkbar, sondern nur im Rahmen eines gegliederten und zukunftsorientierten Programms.
Zugleich ist es wahr, dass es in der Zwischenzeit einen heftigen Gegenangriff gegeben hat, der vor allem zu einer weiteren Privatisierung der demokratischen Entscheidungsgewalt geführt hat: Wichtige Entscheidungen werden nicht mehr von den Parlamenten getroffen, weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene, sondern „privat“ auf dem globalen Markt. Wenn Bayer Monsanto kauft, um nur ein Beispiel zu nennen, sind die Folgen dieser Vereinbarung zwischen den beiden großen Konzernen viel schwerwiegender als jede Entscheidung, die von Parlamenten getroffen wird, aber sie wurde durch private Verhandlungen, vor einem privaten Notar und mit privaten Anwälten, ohne jegliche parlamentarische Einmischung erreicht. Die Folge ist, dass wir nicht einmal mehr wissen, wo die Macht liegt: Früher war sie, wie wir wissen, in einem Palast (z.B. dem Winterpalast der Zaren); wenn wir heute den Sitz der nationalen Regierungen oder sogar die Paläste von Brüssel besetzen würden, würden wir dort nicht viel finden außer einer Vervielfachung der Polizeidienste. Die Parteien haben an Macht verloren, sie sind keine lebendigen Kommunikationskanäle mehr zwischen der Zivilgesellschaft und den Regierungen. Deshalb interessieren sich die Menschen immer weniger für die immer leerer werdenden parlamentarischen Debatten. Die einzigen Entscheidungen, die sie treffen können, sind die zur Erhöhung der Ausgaben für Militär und Polizei. Das ist der Grund, warum viele junge Menschen nicht mehr wählen gehen.
Robert: Der Aufstieg des Rechtsnationalismus und Neofaschismus in Deutschland in Gestalt der AfD profitiert von der Krise der hegemonialen Kultur. Das politische Establishment hat ihre Wertmaßstäbe und seinen Lebensstil als Richtwerte ausgegeben und dabei nicht mit Geringschätzung für das Leben der normalen Bürgerinnen und Bürger gespart. Die AfD bringt nun besonders im Osten der Republik große Teile der Bevölkerung gegen das Establishment und seine „links-liberale“ Kultur in Stellung. Wie können wir politische Gegenmacht entfalten, im Wohnquartier und am Arbeitsplatz?
Luciana: Um den gefährlichsten Feind von heute zu besiegen, das, was die Angelsachsen THINA (there is no alternative) nennen, was Misstrauen in jede Möglichkeit der Veränderung bedeutet, ist es notwendig, wieder von unten zu beginnen, von der Zivilgesellschaft, um neue Formen der direkten Demokratie ins Leben zu rufen. Die Gedanken von Rosa Luxemburg und Gramsci werden dabei wieder nützlich. Denn ich glaube, dass es nur von hier aus möglich ist, den jungen Menschen das Gefühl zurückzugeben, Subjekte und Protagonisten zu sein.
Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir an einem epochalen Wendepunkt stehen, dass die Welt so nicht mehr funktionieren kann, dass die Umweltkatastrophe kein Hirngespinst ist und dass wir das System von innen heraus verändern müssen. Es ist ein langes und schwieriges Spiel, aber ich muss sagen, dass meine Erfahrung mit der Arbeit in den Wohnvierteln in diesem Sinne funktioniert, die Jugendlichen fühlen sich als Akteure, und so kehrt die Politisierung zurück, aber auf eine andere Art als die, die einst die politischen Parteien belebte. Diese Etappen der Politisierung werden wieder aufgenommen, allerdings in anderer Form, mit neuen Inhalten und nicht unmittelbar.
(1) Im Abkommen von Minsk beschlossen am 05.09.2014 Vertreter*innen der ukrainischen Regierung, der Separatist*innen, Russlands und der OSZE eine Waffenruhe in der Ostukraine. Sie vereinbarten zwölf Punkte, darunter die Einigung auf ein Gesetz, das die Einrichtung einer lokalen Selbstverwaltung in den überwiegend russischsprachigen Provinzen Donezk und Lugansk ermöglichen sollte. Das Gesetz wurde im ukrainischen Parlament verabschiedet. Allerdings sah es einen nur auf drei Jahre begrenzten Sonderstatus vor, und die Kommunalwahlen sollten nach ukrainischem Recht abgehalten werden. Beides lehnten die Separatisten ab. Wenig später flammten die Kämpfe wieder auf. (R. K.)
(2) Interview mit Daniel Chandler in La Repubblica 09.04.2025, S. 34
(3) In den Klassenkämpfen der 1960er und 1970er Jahre in Italien nahm diese Form der Arbeiterautonomie (Autonomia operaia), die bereits in den 20er Jahren eine Rolle gespielt hatte, wieder zu. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Organisationsformen in Partei und Gewerkschaft ging es um die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Organisation und Spontaneität. Dabei spielte ein neuer Typ des Arbeiters (operaio massa), d. h. der ungelernte Arbeiter, der am Fließband steht und eine sich wiederholende, entfremdete Tätigkeit vollzieht, eine entscheidende Rolle. Die traditionellen linken Organisationen sprachen den Arbeiterinnen und Arbeitern die Fähigkeit, autonom zu handeln, ab, denn angeblich sei nur die Partei und die Gewerkschaft in der Lage, ihre Kämpfe zu organisieren. Siehe dazu auch https://library.fes.de/jbzg/2011/gigi_roggero.pdf (R. K.)
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.