Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

was uns die PolitikdarstellerInnen in Berlin unmittelbar nach der Bundestagswahl geboten haben, ist für AnarchistInnen eine Bestätigung ihrer parlamentarismuskritischen Thesen.

In der am Wahlabend abgehaltenen “Elefantenrunde” hat uns Gerhard Schröder ein Beispiel dafür gegeben, was passieren kann, wenn Menschen zu viel Macht haben. Schwere Zeiten für KabarettistInnen, wenn sich selbstverliebte Politiker so realsatirisch benehmen, dass sie kaum noch zu karikieren sind. Das Kleben am Regierungssessel, der Realitätsverlust, der bei der Besatzung im “Raumschiff Bundestag” stattfindet, die Tendenz zur Selbstverherrlichung, der Rausch und die Arroganz der Macht, selten war das für so viele Menschen so spürbar, wie in dieser Wahlnacht.

Bakunin wusste schon vor 140 Jahren: “Gib dem größten Revolutionär Macht und er wird zum Tyrannen”. Oder, so müssen wir heute ergänzen, zu einer Witzfigur. Der (Noch-)Kaiser ist nackt und seine Parteisoldaten stehen stramm.

“Die Chaos-Wahl. Keine Macht für niemand”, so titelte Der Spiegel daraufhin auf seinem Wahlsonderheft ´05.

Keine Macht für Niemand? Anarchie in Berlin?

Der semantische Ursprung des Wortes “Anarchie” findet sich in der griechischen Sprache. “Anarchie” leitet sich vom griechischen “an-archia” (ohne Herrschaft) ab. Ursprünglich, in der Antike, benutzten die Griechen den Begriff für die Zeit zwischen den Wahlen, für einen Zustand ohne Führung. Von daher liegt der Spiegel mit seinem von der Anarchorockband Ton Steine Scherben geklauten Titel nicht ganz falsch.

Aber mit unserem Ziel einer herrschaftsfreien, gewaltlosen Gesellschaft hat diese Form von “Anarchie” nicht viel zu tun. Stärker noch als im Bundestag manifestiert sich Herrschaft hierzulande in den Zentralen von Deutsche Bank, DaimlerChrysler, Bertelsmann, Springerverlag und Co.

Wer auch immer die neue Regierung bilden wird, wird weiter im Sinne der Wirtschaftslobby und der mit ihr verwobenen Massenmedien arbeiten. Das heißt, die neoliberale Politik der Umverteilung von unten nach oben, die Militarisierung, die Atomstaatspolitik, die menschenunwürdige Abschiebepraxis und Asylpolitik, der Abbau von Grundrechten und der Ausbau des Repressions- und Überwachungsapparates werden fortgesetzt.

Fazit:

Unser Widerstand von unten gegen die Politik von oben ist notwendiger denn je.