Guillaume Gamblin (Hg.)

Die Unverschämte

Gespräche mit Pınar Selek

20,90 

Pınar Selek wurde vor allem aufgrund der Repression der türkischen Justiz, der sie seit über 20 Jahren ausgesetzt ist, bekannt. In dem Buch beschreibt sie ihre Kindheit, ihre Kämpfe an der Seite der Straßenkinder Istanbuls, der Prostituierten, der Kurd:innen und Armenier:innen. In den 1990er-Jahren trug sie zur Entstehung einer antimilitaristischen Bewegung in der Türkei bei. Pınar Selek erzählt aber auch von Folter und vom Gefängnis. Mit ihrer ansteckenden Energie schildert sie den Aufbau eines Ateliers für Straßenkünstler:innen und berichtet von einer feministischen Kooperative und einer Plattform für soziale Ökologie. Sie lebt in Frankreich im Exil. Der 2007 ermordete armenische Journalist Hrant Dink nannte sie liebevoll „die Unverschämte“.

Beschreibung

Guillaume Gamblin (Hg.)

Die Unverschämte

Gespräche mit Pınar Selek

Aus dem Französischen von Lou Marin

228 S. | 20,90 Euro | ISBN 978-3-939045-50-2

 

Die 1971 in Istanbul geborene Pınar Selek wurde vor allem aufgrund der Repression der türkischen Justiz, der sie seit über 20 Jahren ausgesetzt ist, bekannt. Guillaume Gamblin hat mit ihr intensive Gespräche geführt. Sie beschreibt darin ihre Kindheit, ihre Kämpfe an der Seite der Straßenkinder Istanbuls, der Prostituierten, der Kurd:innen und Armenier:innen. Sie trug in den 1990er-Jahren zur Entstehung einer antimilitaristischen Bewegung in der Türkei bei. Pınar Selek erzählt aber auch von Folter und vom Gefängnis. Mit ihrer ansteckenden Energie schildert sie den Aufbau eines Ateliers für Straßenkünstler:innen und berichtet von einer feministischen Kooperative und einer Plattform für soziale Ökologie. Sie lebt in Frankreich im Exil. Ihre Forschungen und ihr Engagement gelten grenzüberschreitenden sozialen Kämpfen und der Öffnung kreativer Wege in eine andere Gesellschaft. Der 2007 ermordete armenische Journalist Hrant Dink nannte sie liebevoll „die Unverschämte“.

Inhalt

Vorwort von Pınar Selek

Einleitung: Die tausend Leben der Pınar Selek. Von Guillaume Gamblin

Chronologische Eckpunkte

Kapitel I: (1971-1998)

„Auf der Straße habe ich das Leben gelernt.“

Kapitel II: (1998-2000)

„An dem Punkt hat der Albtraum begonnen.“

Kapitel III: (2001-2009)

„Das Gefühl, dass alles möglich ist.“

Kapitel IV: (2009 bis heute)

„Andere Länder jenseits der Grenzen schaffen.“

Nachwort von Pınar Selek: „Das Glück ist möglich.“

Epilog von Guillaume Gamblin: „Die Fortsetzung der Geschichte wird in der Gegenwart geschrieben.“

Danksagungen

Die Unverschämte. Nachwort von Guillaume Gamblin für die deutsche Ausgabe: „Der Prozess geht weiter … – und das Leben auch!“

Vorwort

Vorwort von Pınar Selek

Als ich erfuhr, dass ich am nächsten Morgen mein Land nur mit einem kleinen Köfferchen verlassen muss, setzte ich mich einen Moment in großer Ruhe vor dieses Köfferchen. „Leg da die Sachen rein, an denen du hängst …“, hatte mir mein Vater gesagt. Ja schon, aber das sind doch so viele … Wie kann man ein ganzes Leben in einen Koffer packen? Vielleicht, wenn man sich dafür Zeit nimmt, wäre es möglich, eine symbolische Sammlung zu schaffen, und der Koffer wäre selbst Teil dieses Kunstwerks. Aber nein, ich hatte keine Zeit. Letztlich habe ich nichts in den Koffer getan, abgesehen von einigen Fotos von Menschen, die mir wichtig waren. Aber das ist auch nicht so schlimm: All das, was ich hinter mir gelassen habe, hat eine von mir unabhängige Existenz … Das Leben geht weiter, das Wasser fließt. Als Guillaume mir von seinem Projekt erzählte, habe ich an diesen Koffer gedacht. Ist es möglich, eine Biografie in einen Koffer zu packen? Ich hatte solche Vorschläge von Verleger*innen oder Journalist*innen immer zurückgewiesen; ich hatte Angst, von einer Dynamik erfasst zu werden, die ich nicht mehr kontrollieren könnte, mein Leben zu einem Film werden zu lassen, der mir nicht mehr gehören würde. Aber eines Tages sagte mir Guillaume, dass er meine Biografie schreiben wollte, um sie in der Zeitschrift Silence zu veröffentlichen, die meine Bewegungszeitung hier in Frankreich war, in der ich mich zu Hause fühlte. Dieser Vorschlag hat mich gerührt. Ich habe ohne nachzudenken zugesagt, denn ich habe das Ergebnis als Resultat unseres Treffens betrachtet und ich wollte die Lesart meines Lebens entdecken, die Silence machen würde. Ich wollte erfahren, was von mir inmitten dieses historischen Netzwerks alternativer Kämpfe in meinem neuen Exilland noch nachhallte. Und ich habe zugestimmt, weil ich mich in vertrauensvoller Atmosphäre fühlte. Und ich hatte recht: Mein breites Lächeln hat es mir bestätigt. Dieses Lächeln blieb auf meinem Mund, als ich begann, das Buch durchzublättern. Die Arbeit war anstrengend. Umso mehr, als das Buch aus fünf oder sechs Interviews hervorging, die in nur kurzer Zeit durchgeführt wurden, zwischen den Kämpfen, den Todesdrohungen, die ich erhielt, dem Mut und der Angst. Sicher würde ich das für mich anders aufschreiben, aber ich habe nun das Niedergeschriebene mit der inneren Bewegung gelesen, die den intensiven Austausch widerspiegelt, den wir nun seit mehreren Jahren führen. Sie, liebe Leser*innen, werden sehen, dass ich nur ein kleines Pünktchen in einem großen Gemälde bin, mit all den Widersprüchen, die verschiedene Welten und widerstreitende Dynamiken beherbergen. In diesem Gemälde gibt es den grenzenlosen Horror, aber auch den Widerstand. Und der ist nicht nur ein Detail. Glücklicherweise! Ich bin Teil eines großen Erfahrungsschatzes des kollektiven Schaffens, innerhalb eines durch die institutionalisierte Gewalt verdreckten und zerrissenen Raumes. In diesem neuen Raum des Kampfes, der Liebe, der Freundschaft, des Lebens öffne ich meine Türen, um ein wirkliches Gespräch zu beginnen … Treten Sie ein …

Rezensionen

»Ich will eine andere Welt«

Die türkische Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek in Selbstzeugnissen

  • Stefan Berkholz

Das muss frau überleben! 25 Jahre von einer politischen Justiz der Türkei verfolgt zu werden, aus ihrer Heimat ins Exil getrieben, dort seit mittlerweile 15 Jahren im Wartestand zu verharren, nicht in Frieden gelassen zu werden – und trotzdem heiter, kämpferisch, tapfer zu bleiben. Eine radikale, revolutionäre Frau ist diese Pinar Selek, »die Unverschämte«, wie der armenische Journalist Hrant Dink sie einst nannte, ehe er 2007 von aufgeputschten Nationalisten in der Türkei ermordet wurde.

Pinar Selek, 1971 in Istanbul geboren, wuchs sehr privilegiert auf, wohlhabend, gebildet – und politisch links orientiert. Die Mutter: als Apothekerin eine Wohltäterin; der Vater: politischer Anwalt; der Großvater: ein Pionier der revolutionären Linken, Mitbegründer der Arbeiterpartei der Türkei (TIP), Abgeordneter der Nationalversammlung. Ein Elternhaus voller Liebe und voller Bücher, ein künstlerisches, literarisches, intellektuelles Milieu. Alles ist bereitet für ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Über die Schriften von Karl Marx, Eugène Ionesco und Hannah Arendt begibt sich die Tochter ins Reich von Träumen und Visionen. »Ich wollte ein magisches Leben führen, wie in einem Märchen«, erinnert sie sich im Gespräch mit Guillaume Gamblin. »All diese Einflüsse vermischten sich in meinem Inneren: die Straßenkinder, die Weigerung, mich an der Barbarei zu beteiligen; das Bewusstsein von der Banalität des Bösen, aber auch davon, dass politische Wunder möglich sind; das Interesse an der Soziologie; die Lust zu schreiben und ein magisches Leben zu führen.«

Doch die Türkei ist kein demokratisches Land. Als das Militär 1980 putscht, ist Pinar Selek neun Jahre alt. Ihr Vater verschwindet für viereinhalb Jahre im Gefängnis, die Familie lebt in Angst und Schrecken. 1992 beginnt Selek ihr Soziologiestudium in Ankara, setzt es zwei Jahre später in Istanbul fort. Sie forscht zur Kurdenfrage – das wird ihr zum Verhängnis. Im Juli 1998 wird sie inhaftiert, landet im Gefängnis. Nichts Außergewöhnliches, denkt sie anfangs, »es ist in meinem Land zur Normalität geworden, eine Zeit lang im Gefängnis zu verbringen«. Sie soll die Namen ihrer kurdischen Gesprächspartner preisgeben. Sie wird verhört, eingeschüchtert, drangsaliert, gefoltert. »Ich war nackt«, sagt sie, »und so hat die Folter angefangen«.

Wozu menschliche Folterknechte fähig sind, erfahren wir aus diesen Erinnerungen in aller Drastik. An der Wand aufgehängt, »mit nach unten gefesselten Händen auf meinem Rücken. Alles krachte und zerbrach. Meine Wirbelsäule brach.« Bis heute plagen sie Gesundheitsprobleme, der Rücken, die Psyche, posttraumatische Ängste.

Die Folterknechte geben keine Ruhe. Weil sie nicht spricht, weil sie niemand verrät, greifen sie zum Mittel der Verleumdung. Einen Monat nach ihrer Verhaftung wird die falsche Anschuldigung in die Welt gesetzt, sie habe ein Attentat auf dem Gewürzmarkt von Istanbul begangen. Seitdem ist sie vogelfrei. Seit 25 Jahren ist sie der Willkür einer politischen Justiz in ihrer Heimat Türkei ausgesetzt. Ende Dezember 2000 kommt sie nach zweieinhalb Jahren aus dem Gefängnis frei, gegen Kaution. Seitdem folgt eine juristische Farce auf die nächste. Jeder Freispruch wird einkassiert, neue Anschuldigungen werden erhoben. Am 7. April 2009 flieht Selek aus ihrer Heimat, sie ist 38 Jahre alt. Ihr Exil beginnt. Heute lebt sie in Frankreich, vor den Nachstellungen türkischer Geheimdienste (noch) weitgehend sicher, seit September 2017 ist sie französische Staatsbürgerin.

Im März 2018 verfasst Pinar Selek einen öffentlichen Brief, in dem sie ihr Schicksal zusammenfasst. »Wenn der Oberste Gerichtshof meinen fünften Freispruch nicht bestätigt, dann gilt für mich die lebenslange Haft. Es wäre eine Verurteilung für ein Verbrechen, das es nicht gegeben hat, plus die Verurteilung zu einer Strafzahlung für die Schäden einer Explosion auf dem Istanbuler Gewürzmarkt. Meine neun Bücher, die in der Türkei noch immer regelmäßig wieder aufgelegt werden, und alles, was ich bis zum Alter von 38 Jahren publiziert habe, würde konfisziert werden. Noch wichtiger: Meine Familie wäre in Gefahr.« Sie beendet ihren Brief mit den Worten: »Ihr habt mein Leben gestohlen. Aber ich bin das Leben.«

Sie gibt nicht bei. Unermüdlich veröffentlicht sie weiter: Romane, Märchen, Gedichte, Erinnerungen. Wenig davon ist bisher auf Deutsch zu bekommen: »Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt« (2010), ihr Report über die Zerstörungskraft des Militärs; der Roman »Halbierte Hoffnungen« (2011); der Essay »Weil sie Armenier sind« (2015, neu aufgelegt 2023).

Sie promoviert 2014 in Politischer Wissenschaft und ist als Gastprofessorin tätig. »Das Exil bedeutet, mit Krücken voranzugehen, die ganze Zeit«, bekennt sie im Gesprächsband. »Heutzutage bewege ich mich besser, die Krücken sind nicht mehr nötig, ich habe einen Gehstock. Nizza ist eine Stadt an der Grenze und ich fühle mich gut zwischen den Grenzen.« In die Rolle eines Opfers will sie sich nicht drängen lassen, dafür ist sie zu klug, zu weitsichtig, zu kämpferisch. Es geht ihr um die Gesellschaftsverhältnisse – die Abhängigkeiten und Machtstrukturen will sie analysieren und durchdringen, daraus dann Strategien für eine Überwindung entwickeln.

»Wenn ich in der Stadt bin und mich umsehe, habe ich den Eindruck, dass alle Leute rennen, als wenn es ihnen befohlen worden wäre. Darin liegt der Zwang des Kapitalismus: Er zwingt nicht zum Gleichschritt wie in der diktatorischen oder militärischen Ordnung, aber er existiert als eine unsichtbare Ordnung, eine verinnerlichte Disziplin, die sich der ganzen Welt aufzwingt. Das Bildungssystem und die Universität lehren nicht, gegen das kapitalistische System zu kämpfen, sondern sie lehren das Rennen, um individuell am besten aus diesem schlimmen Wettkampf hervorzugehen.«

Der Verlag nennt Pinar Selek eine Soziologin, Schriftstellerin, antimilitaristische Aktivistin, Feministin und Anarchistin. Sie selbst sagt: »Ich bin antimilitaristisch, antirassistisch, antinationalistisch, ökologisch, antikapitalistisch, antiheterosexistisch … Wenn ich das alles vor meinen Feminismus stelle, wird das ein endloser Satz.« Der biografisch verfasste Gesprächsband wird ergänzt durch Zitate aus ihren Büchern und Aufsätzen. Ein verfolgtes, ein rebellisches, ein revolutionäres Leben bekommt Konturen. Der fesselnde Bericht von Pinar Selek, 2019 in Frankreich erstveröffentlicht ist nun ins Deutsche übertragen. Leider wimmelt es von Druckfehlern. Und das Inhaltsverzeichnis misslang, weshalb der Verlag nachträglich ein Korrekturverzeichnis an den Buchhandel schicken musste.

Die nächste Gerichtsverhandlung in der Türkei ist für Ende Juni angesetzt. Dann ist Pinar Selek 52 Jahre alt. »Was mich am Leben hält, das sind meine Überzeugung, meine Freiheitsliebe und meine Liebe zum Leben«, gibt sie sich selbstsicher. Und beinahe trotzig fügt sie hinzu: »Gleichzeitig bedaure ich nichts. Ich wollte kein anderes Leben für mich, ich will eine andere Welt! Diese Welt ist nicht normal. Der Wille, die Freiheit auf dieser Welt zu verwirklichen, setzt uns großem Leid aus. Vielleicht ist das eine Sünde, aber wenn ich es noch einmal machen müsste, würde ich genauso wieder sündigen.«

Link zum Originaltext: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180825.leipziger-buchmesse-ich-will-eine-andere-welt.html

Biopic einer Widerständigen

Pınar Selek im Gespräch: Die antimilitaristische Feministin über Repression des türkischen Staats und den Kampf dagegen
Von Gitta Düperthal
Zunächst hätte man meinen können, es erwarte die Leserin eine Art Heldinnenepos. Was sicherlich der großen Zuneigung zuzuschreiben ist, die Verfasser Guillaume Gamblin für die Protagonistin seines Buchs empfindet. Pınar Selek ermutige alle, die in sozialen Kämpfen aktiv seien, »durch ihren Wagemut, ihren unbeugsamen Willen, die Ungerechtigkeit, die Gewalt und alle Formen der Herrschaft zu bekämpfen«, heißt es in seiner Einleitung. Im Verlauf der Lektüre des essayistischen Werks, das Resultat intensiver Gespräche mit Selek ist, zeigt sich auch: Durch die Nähe des Autors zu ihr wird der kämpferische und zugleich verletzliche Charakter der 1971 in Istanbul geborenen antimilitaristischen und feministischen Widerstandskämpferin und Wissenschaftlerin aus der Türkei deutlich spürbar.Die aktuell seit mehr als 25 Jahren durch die Justiz des türkischen Staats verfolgte Selek inspiriert zudem mit ihrer ganz eigenen Philosophie: wie sie die Menschen ihres Umfeldes ohne Vorurteile betrachtet, allen auf Augenhöhe und mit weitgehendem Solidaritätsgedanken begegnet. Dies führt zur Erkenntnis, wie wichtig es ist, auch füreinander zu sorgen. Von Gamblin unaufdringlich moderiert, zieht die Soziologin mit Schilderungen ihrer Kämpfe in Istanbul an der Seite von Straßenkindern, Prostituierten, Kurdinnen und Armeniern in den Bann. Zu erfahren ist: Ihr außergewöhnlich stimmiges Theorie-Praxis-Verhältnis geht so weit, dass sie mit den Kindern auf der Straße nächtigt und ihnen Geschichten vorliest. Ob als Jugendliche oder später als Wissenschaftlerin: Sie sieht es als Aufgabe, in politisch aktivistischen Gruppen Widerstand zu organisieren. Wir erfahren von ihrer Lenin-Lektüre mit 15 Jahren, von studentischen Demos und Treffs der revolutionären Jugend in einer Zeit, als noch die bleierne Atmosphäre des Militärputsches von 1980 auf der türkischen Gesellschaft lastet. Gamblin ordnet mitunter detailverliebt in die Zeitgeschichte ein: Leserinnen und Leser werden mit fesselnden Episoden mitten ins Geschehen hineingezogen.Dieser historisch und politisch hintergründige Lesestoff zur Entwicklung Seleks führt vor Augen, wie eine fundierte libertäre Geisteshaltung durch ein Beziehungsgeflecht zu gleichermaßen davon geprägten Persönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit entsteht. Kostprobe ihrer klaren antimilitaristischen Haltung: »Wenn man beginnt, Waffen zu benutzen, muss man sich in eine Struktur wie bei einer Armee begeben.« Sie kenne »keine anarchistische Transformation«, die sich hierauf stütze.

Seleks Buch »Barışamadık« (Wir konnten uns nicht versöhnen) las der Repräsentant und Mitbegründer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, 2004 in der Haft und bat sie, der kurdischen Bewegung Orientierung zum Aufbau des Friedens zu geben. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet dieser überzeugten Pazifistin begegnete der türkische Staat mit der frei erfundenen Anschuldigung, angeblich Anstifterin eines terroristischen Attentats auf einem Istanbuler Gewürzmarkt gewesen zu sein. Wie vielen Oppositionellen wurde auch ihr die »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« der PKK unterstellt. Ihr Weg kreuzte sich auch mit dem des 2007 ermordeten armenischen Menschenrechtlers und Chefredakteurs der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink. Er nannte sie voller Respekt und liebevoll frotzelnd »die Unverschämte« – siehe Buchtitel. Ausgeblendet bleiben nicht ihre dunklen Phasen: Folter im türkischen Knast, spätere Einsamkeit und Unsicherheit im Exil in Frankreich.

Brisante Aktualität: Am 29. September 2023 fand in Istanbul eine Anhörung vor dem Höchsten Gerichtshof statt. Selek war nicht anwesend, der Prozess wurde auf den 28. Juni vertagt. Das Gericht beantragte erneut ihre Auslieferung. »Feministinnen, Antimilitaristen und Anarchistinnen arbeiten derzeit an einer internationalen Kampagne, um die Öffentlichkeit zu informieren und eine internationale Delegation zum Prozess hin zu organisieren«, so Lou Marin, Übersetzer des Buchs, gegenüber jW. Ziel sei auch, den Blick auf das politische Unrecht der türkischen Justiz und des Erdoğan-Regimes zu lenken. Das Buch könnte einen Beitrag leisten, eine Solidaritätswelle für die politisch verfolgte Aktivistin und Wissenschaftlerin auszulösen.

Hier der ganze Text