Buchbesprechung

„Ohne Hass, aber ohne Vergessen“

Neun Antifaschistinnen auf der Flucht vom Todesmarsch

| Vera Bianchi

Suzanne Maudet: Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen. Aus dem Französischen von Ingrid Scherf. Herausgegeben von Patrick Andrivet und Pierre Sauvanet. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2021, 128 Seiten, 16,00 Euro, ISBN 978-3-86241-488-8

„Wir sind […] neun junge Frauen, die nicht sterben wollen, […] die bereit sind, zusammen dafür zu kämpfen, ins Leben zurückzukehren …“ (S. 32)

Neun junge Widerstandskämpferinnen zwischen 20 und 29 Jahren aus Frankreich, Holland und Spanien werden unabhängig voneinander im Sommer 1944 verhaftet und lernen sich im Konzentrationslager Ravensbrück kennen. Von dort aus werden sie in das Außenlager Leipzig-Schönefeld des Konzentrationslagers Buchenwald verlegt und müssen in Zwölf-Stunden-Schichten in der Munitionsfabrik HASAG (Hugo und August Schneider AG) arbeiten, bis sie am 14. April 1945 von der SS auf den Todesmarsch mit den anderen 5.000 Inhaftierten gezwungen werden.
Hier beginnt der autobiographische Bericht von Suzanne Maudet, die die acht Tage dokumentiert, in denen die neun Freundinnen die Flucht ergreifen und ohne Essen, Landkarte oder Kenntnis darüber, wo gerade die Front verläuft, durch Sachsen laufen – mit dem Ziel, auf die Alliierten zu treffen und frei zu sein.
Zu Beginn der Flucht verteilt die Gruppe Aufgaben untereinander: Mena und Zinka besorgen Essen und kochen, Nicole und Josée halten Ordnung (S. 56), Josée verwaltet außerdem das Geld (S. 37), Chris und Lon übernehmen die Kommunikation mit den Deutschen – Bürgermeistern, Polizei, Bevölkerung (S. 53) – , und die Autorin, genannt Zaza, bekommt die Aufgabe, „alles aufzuschreiben: ‚Um es später unseren Kindern erzählen zu können‘“, weil ihnen ihr „Abenteuer […] so erstaunlich [erscheint]“ (S. 56).
Die Flucht ist aus mehreren Gründen lebensgefährlich, da sie von niemandem erkannt werden dürfen: nicht von SS-Wachmannschaften der Todesmärsche, nicht von deutschen Soldaten und Offizieren, nicht von deutschen Bürgermeistern und der Polizei (S. 55) und auch nicht von der deutschen Zivilbevölkerung, die sich oft feindselig verhält – am ersten Tag, als sie noch auf dem Todesmarsch sind, schaut die Dorfbevölkerung dem Marsch der KZ-Häftlinge belustigt zu (S. 33), statt Mitleid mit den von SS-Aufseher*innen bewachten abgemagerten Frauen in schlechter Kleidung und fast ohne Gepäck zu haben, und auf der Flucht wird ihnen oft die Bitte nach Essen abgeschlagen. Diese Verrohung der Deutschen erklärt sich für Maudet aus der nationalsozialistischen Entmenschlichung von Juden und Jüdinnen: „[e]ine geläufige Vorstellung, welche die Deutschen beruhigte; wenn es Juden sind, dann ist es ja egal“ (S. 83). Und neben der Lebensgefahr durch die Menschen, die sie als entflohene KZ-Häftlinge identifizieren könnten, besteht die Gefahr, bei Bombenangriffen auf Dörfer, Brücken oder Felder zu sterben oder in Frontnähe erschossen zu werden.
Das Wichtigste ist der Zusammenhalt der neun Frauen; dieser hat ihnen schon in den gemeinsamen neun Monaten die Kraft gegeben, die Konzentrationslager zu überleben (S. 17), und auf dem Todesmarsch und auf der Flucht unterstützen sie sich gegenseitig, wenn eine nicht mehr kann, und singen gemeinsam alte Wanderlieder, um sich gegenseitig Mut zu machen (S. 19, 26). Maudet beschreibt ihre „sehr große Liebe zum Leben und Lebensfreude“ (S. 41).
Diese Lebensfreude lässt sich fast im gesamten Fluchtbericht mitlesen. Die Sprache ist locker, unterhaltsam, lebendig und teilweise ironisch. Auffällig ist, dass die grausamen Erfahrungen aus den Konzentrationslagern nur in Nebensätzen auftauchen: Frauen wurden im Speisesaal gehenkt, andere beim Appell mit Stockschlägen ermordet (S. 75); Zinkas Baby France wurde im Gestapo-Lager Fresnes (bei Paris) geboren und ihr weggenommen; als France drei Monate alt war, durfte Zinka ihre Tochter einmal sehen, vor ihrem Abtransport nach Deutschland (S. 35, 40, 82). Als die neun Frauen auf der Flucht in einem NS-Kinderheim mitessen dürfen und eine „freundliche […] Atmosphäre“ herrscht, werden sie durch die Geranien an das KZ Ravensbrück erinnert (S. 80) und durch den Gesang deutscher Lieder an die Gestapo-Haft in Fresnes (S. 81).
Auch der Horror der Flucht wird meistens nur angedeutet oder taucht in Nebensätzen beiläufig auf, so die permanente Angst vor Entdeckung (S. 78), die Gefahr einer Vergewaltigung auf der Flucht (S. 89), das Weiterlaufen mit Hunger und im strömenden Regen, der sich mit den Tränen mischt (S. 106), und das Zittern vor Kälte (S. 109).
Zwischen den vielen detaillierten und humorvollen Beschreibungen, wie sie sich immer weiter durchschlagen und die vielen gefährlichen Situationen meistern und es schaffen, immer wieder gute Entscheidungen zu treffen, erfahren wir auch etwas über die Gründe ihrer KZ-Inhaftierung als politische Gefangene, dass nämlich „die meisten von uns in der Résistance aktiv waren (zum Beispiel bei der Beschaffung von Informationen, Waffen und falschen Papieren)“ (S. 61). Ihre politische Aktivität setzen sie als KZ-Häftlinge bei der Tätigkeit in der Munitionsfabrik HASAG fort, indem sie die „Funktionsfähigkeit“ der dort produzierten Panzerfäuste „wenn möglich zerstörten“ (S. 91/92).
In dem 1946 aufgeschriebenen Bericht zeigt sich Maudet besonders enttäuscht von der mangelnden Würdigung ihres Widerstands nach Kriegsende: Französische Kriegsgefangene mutmaßten, „[d]ass wir uns sicher mehr oder weniger freiwillig für die Bordelle der freien Arbeiter aber auch der SS haben anwerben lassen. […] 
[W]ir können ihnen nicht beweisen, wie häufig wir unser Leben riskiert haben, indem wir Waffen geschmuggelt, Nachrichten entschlüsselt, Gesuchte untergebracht und versorgt haben […]. Allerdings ist diese Reaktion der Kriegsgefangenen sicherlich die größte Erniedrigung, die wir in Deutschland erlitten haben“ (S. 62).
Der von Maudet ursprünglich gewählte Titel war „Ohne Hass, aber ohne Vergessen“ und entstammt einer Szene, in der Christine einer sehr empathischen deutschen Bäuerin über die KZ erzählt: „Sie erzählt mit ruhiger und unaufgeregter Stimme (natürlich auf Deutsch – aber da all die Qualen und all die Bestrafungen ausschließlich deutsche Namen hatten, bereitet es uns keine großen Probleme und wir verstehen alles), eine kalte und automatische Stimme, ohne Hass, aber ohne Vergessen, die mehr trifft als eine empörte Anklage“ (S. 62).

Das Buch beinhaltet außer Maudets Fluchtbericht die Einleitung der Übersetzerin Ingrid Scherf, das Nachwort von Patrick Andrivet, Maudets neun Jahre jüngerem Cousin, der für ihre Widerstandsgruppe Schreibarbeiten übernommen hatte, und das Nachwort von Maudets Neffen Pierre Sauvanet. Sehr hilfreich ist die Karte der Fluchtroute (S. 16), auf der ich mich zu Beginn jeden neuen Kapitels orientiert habe.
Ein sehr beeindruckendes Buch, gerade durch die Mischung aus Beschreibungen einerseits der entsetzlichen Realität des Nationalsozialismus und andererseits der jugendlichen Unbekümmertheit, Scherze und großen Solidarität der jungen Frauen. Und gleichzeitig ein wichtiges Zeitzeugnis – das französische Original wurde 1946 geschrieben, erst nach 58 Jahren 2004 veröffentlicht und steht nun nach 17 weiteren Jahren auch deutschsprachigen Leser*innen zu Verfügung – dank Ingrid Scherf und der Assoziation A.