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Ein indischer Existentialist

Die neue Gandhi-Biographie von V. Gunturu

| Harold the Barrel

Deutschsprachige Biographien über Gandhi sind in den letzten Jahrzehnten mehrere erschienen: George Woodcock beschrieb sein Leben aus libertärer, Dietmar Rothermund aus bürgerlicher, S. Grabner aus realsozialistisch beeinflußter Blickrichtung. Zur Jahrhundertwende nun also eine weitere Biographie über einen der wenigen Lichtblicke dieses dunklen Jahrhunderts, diesmal aus der Sicht eines literatur- und philosophiegelehrten Inders.

Das Erscheinen dieser Biographie in der esoterisch angehauchten “Gelben Reihe” von Diederichs weckt zunächst Mißtrauen, doch das ist größtenteils unbegründet: Gunturu stellt Gandhi eher als Rationalisten und Wissenschaftler denn als Mystiker dar, obwohl er auch dieser Dimension im Denken Gandhis ein kurzes Kapitel widmet. Ungewohnt und nicht uninteressant ist auch das Kapitel über Gandhis Ansichten zu Krankheit, Nahrung und Heilmethoden.

Überhaupt konzentriert sich der Autor auf eine Erklärung von Gandhis Denken und Taten aus der indischen Philosophie heraus, ohne, wie sonst üblich, die europäischen Einflüsse zu betonen (Thoreau, Ruskin, Tolstoi). Zitiert wird fast ausschließlich aus den “Gesammelten Werken” (immerhin 93 Bände im Englischen!) oder aus der achtbändigen englischen Tendulkar-Monumentalbiographie. Auf diese Weise kommt Gunturu zu einer sehr authentischen Darstellung und zieht von dieser Sicht dann überraschende Rückschlüsse auf die europäische Philosophie.

Das Buch beschreibt im ersten Teil Gandhis Lebensweg, die Satyagraha-Kampagnen in Südafrika, dann in Indien und die dabei stattfindende langsame Emanzipation Gandhis vom Bürger des British Empire, der um Gleichberechtigung kämpft, zum gewaltlos-revolutionären Gegner des Empire. Wohltuend etwa im Gegensatz zu Rothermund, der sich ab 1942 nur auf den diplomatischen Prozeß der Entkolonialisierung konzentriert, ist Gunturus ausführliche Würdigung der Quit-India- Kampagne von 1942 und der direkt nachfolgenden Revolten.

Im zweiten Teil finden sich die eigentlichen Überraschungen des Buches. Nacheinander beschreibt Gunturu die für Gandhi zentralen Kategorien der Wahrheit, der Gewaltlosigkeit und der gewaltfreien Aktion (Satyagraha). Auch die sozialistischen und staatskritischen Seiten Gandhis kommen nicht zu kurz. Dabei wird deutlich, daß die Suche nach Wahrheit bei Gandhi auch im tatsächlichen Sammeln von Fakten, in Untersuchungen der Lage unter Maßgabe aller Gesichtspunkte besteht. Manchen Aktionskampagnen gingen nahezu wissenschaftliche Informationsbeschaffungen voraus. Gunturu kommt daher zu dem Schluß:

“Bedauerlicherweise findet sich die Ansicht weit verbreitet, daß Gandhi ein Antirationalist oder Irrationalist war. Gandhi war ein großer Rationalist.” (S. 181)

Trotz intensiver Wahrheitssuche bleibt die Einschätzung, die sich daraus ergibt, zunächst eine subjektive. Gandhi behauptet als objektive Wahrheit das, was er unter “Gott” versteht. Doch diese objektive Wahrheit kann er gleichzeitig nie ganz fassen, weil sie aus vielen subjektiven Wahrheiten besteht. In seinen Aktionen war Gandhi daher auf seine subjektiv gewonnene Wahrheit zurückgeworfen, woraus sich zwingend und logisch die Gewaltlosigkeit in den Aktionen ergibt, denn Gewaltanwendung schließt die Möglichkeit des Irrtums aus, die Gandhis subjektiver Wahrheit inhärent bleibt. Nach Gunturu ist Gandhi bei dieser Wahrheitssuche kompromißloser Idealist: “Wahrheit muß um der Wahrheit willen praktiziert werden” (S. 181) nicht um der Nützlichkeit willen. Auf diese Weise relativierte sich der Nationalismus Gandhis in seiner Rolle als prägender Figur der indischen Unabhängigkeitsbewegung und er konnte gegenüber Romain Rolland erklären: “Ich bin ein Diener der Wahrheit, kein Diener Indiens.” (zit. nach S. 182) Welcher sonstige nationale Befreiungsrevolutionär war zu solchen Statements schon fähig?

Gunturu erklärt, warum Gandhi zwar Religion und Politik verbinden wollte, warum aber gleichzeitig daraus der Säkularismus und die gleichberechtigte Aufnahme von AtheistInnen in seinen Kommunen (Ashrams) folgte. Gandhi war auch Vegetarier und gegen Tierversuche, setzte aber Tiere keineswegs mit Menschen gleich: der Mensch ist nach Gandhi im Gegensatz zum Tier zur bewußten gewaltlosen Handlung fähig, das macht das Menschsein überhaupt aus. Gunturus überraschende philosophische Einordnung lautet: “Die Handlungen des Menschen gehen seinem Wesen voran und bestimmen es. In diesem Punkt scheint ein Moment der Existenz-Philosophie bei Gandhi auf (vgl. J.P. Sartre).” (S. 223)

Ausführlich und sehr plastisch beschreibt Gunturu das Leben in Gandhis Ashrams, die im Grunde Kampfausbildungszentren für gewaltfreie Aktion waren. Oft sind sie von Kritikern als diktatorische Gebilde kritisiert worden. Gandhi hatte natürlich eine herausragende Stellung, blieb aber von Kritik nicht verschont und ihr zugänglich. Es gab Vollversammlungen und auch Kritik, wenn Gandhi deren Beschlüsse nicht wie gewollt umsetzte. Revolutionär war an diesen Kommunen die Integration von Unberührbaren und die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen. Dafür mußte der Preis sexueller Enthaltsamkeit gezahlt werden: jeder Satygrahi mußte dazu ein Gelübde ablegen. Diese Bedingung kennen wir zum Beispiel auch von den PKK-Ausbildungscamps Öcalans – und wurde dort jahrelang als vollendete weibliche Emanzipation gefeiert, was sie mit Sicherheit nicht ist. Trotzdem ermöglichte die permanente Übung der Zurückhaltung sexueller und egozentrischer Bedürfnisse der Männer in Gandhis Ashrams eine relative Bewegungsfreiheit für Frauen. In der Praxis muß man/frau sich das eher lustig vorstellen: so ließ Gandhi unter Aufsicht junge Männer und Frauen nackt baden, damit sie sich in der Kunst der Enthaltsamkeit übten – praktisch eine Form der Freikörperkultur, im indischen Umfeld ansonsten undenkbar! Doch es war wohl nix: es kam zu sexuellen Verbindungen, das Experiment wurde eingestellt. Es bleibt zu hoffen, daß dieses Gelübde insgeheim auch sonst öfter gebrochen wurde.

Insgesamt ging es in den Ashrams jedoch um das altruistische Indienststellen der eigenen Person für die Belange der Menschheit. Familie war da nur hinderlich. So kommt Gunturu zu nahezu anti-heterosexistischen Beschreibungen von Gandhis Ethik: “Ein Mensch der Gewaltlosigkeit behandelt alle Menschen und Lebewesen gleich. Ein durch Ehe oder Familie gebundener Mensch wird aber seine eigene Familie von anderen Menschen oder Familien unterscheiden und damit subtile Gewalt ausüben. (…) ‘Die Welt ist eine Familie.'” (S. 218)

Gandhi hat reaktionäre Seiten, zweifellos. Aber er war nicht dogmatisch: Gewaltlosigkeit konnte auch außerhalb der Ashrams erlernt werden, und den Ashrams selbst fehlte ein drakonischer Sanktionsmechanismus. Gunturu hält für gewaltfreie AktivistInnen viele weitere Überraschungen bei seiner Darstellung bereit, etwa folgende: eine gewaltfreie Strategie zu schmieden, sei nach Gandhi Kennzeichen eines Politikers und nicht eine/r Satyagrahi. Gandhi selbst habe gesagt: “Ein Satyagrahi reagiert spontan.” (Gandhi zit. nach S. 245)

Vanamali Gunturu: Mahatma Gandhi. Leben und Werk. Eugen Diederichs-Verlag, München 1999, 330 S., 19,90 DM.