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Irische Thekengeschichten

Unbeantwortete Fragen und faustdicke Lügen

| Jan Dörner

Sean McGuffin: Last Orders. Neue Geschichten. Edition Nautilus, Hamburg 2001, ISBN 3-89401-377-X, 189 Seiten

“Wenn ein Mann mitten im Wald steht, und es ist weit und breit keine Frau, die ihn hören könnte, hat er dann trotzdem unrecht?” Solche Fragen stellt sich der irische Schriftsteller Sean in seinen Kurzgeschichten “Last Orders”. Nicht, dass er sie dann auch beantworten würde. Er stellt sie nebenbei und vergisst sie schnell wieder. Und nun stellt er sie nie wieder. McGuffin ist im April diesen Jahres zwei Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag im irischen Derry verstorben (siehe Nachruf in: Graswurzelrevolution 270, Sommer 2002).

McGuffins Erzählungen sind wie die eines alten Säufers mit einem Gesicht zerklüftet wie die irische Küste, in dessen Adern mehr Whiskey und Poitín, ein irischer schwarzgebrannter Schnaps, als Blut fließen. Die Handlung setzt sich aus wahren Begebenheiten und faustdicken Lügen zusammen. Ergänzt wird sie durch Erinnerungen, die entweder wahr sind, oder durch das viele Erzählen so gut wie wahr geworden sind.

McGuffin wurde 1942 in Belfast geboren, war Ire durch und durch und bezeichnete sich selbst als Republikaner, Anarchisten, intellektuellen Rowdy und Schriftsteller. Der Vollbärtige hasste die Sassanachs, die englischen Eindringlinge, und sympathisierte mit der IRA. Als Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle gefunden wurde, war McGuffin Mitglied der internationalen Untersuchungskommission. Er wurde zeitweilig von der britischen Armee interniert und emigrierte daraufhin nach Amerika, um in San Francisco als Rechtsanwalt zu arbeiten. Eins seiner Bücher widmete er der Geschichte der illegalen Schnapsbrennerei in Irland, ein anderes enthält vier Erzählstränge von ebenso vielen Verfassern, die angeblich alle Teile seiner gespaltenen Persönlichkeit sind. Letztes Jahr kehrte er auf die Grüne Insel zurück und veröffentlichte die kurz vor seinem Tod ins Deutsche übersetzten “Last Orders”. Ein weiteres Manuskript für ein letztes Buch hat McGuffin der Nachwelt jedoch überlassen.

Es wäre falsch, zu sagen, McGuffin wäre der Held seiner eigenen Geschichten – das ist der dickköpfige Durchschnitts-Ire. Der fette Bastard, wie Großmaul McGuffin in seinen Erzählungen gerne genannt wird, stolpert durch seine Storys wie ein Betrunkener am Sankt-Patricks-Day durch die geschmückten Straßen. Oder er lässt es seine Kumpels tun. Dabei führt es sie nicht nur in die irischen Pubs, sondern auch in Late-Night-Shows im verhassten Dublin, zu Fußballspielen ins schottische Glasgow, hinter Belfaster Barrikaden, nach San Francisco und Hongkong oder in die saudiarabische Wüste. Ihr Weg wird gekreuzt von McGuffins verrückter Tante Rita, chinesischen Steuerbetrügern, dem Palästinenser Ali, der gerne auf Karl Marx und Väterchen Stalin anstößt und einem Bankangestellten, der aufgrund seiner antikapitalistischen Einstellung die Säcke der Bankräuber besonders voll macht. Um ein Haar hätten sie sogar dem Sänger Demis Roussos nicht entwischen können. Auf ihren Touren hinterlassen sie neben ausgedrückten Jointstummeln und leeren Pint-Gläsern, auch Spielzeughandgranaten in Gartenhäuschen und verliebte Museumswärter, sie klauen eine alte Donnerbüchse von 1795 und entführen aus Versehen einen schottischen Touristen.

Wer die Erzählungen McGuffins liest, ist froh nicht so zu sein wie er – wünscht sich aber doch, diesen verrückten Hund kennen gelernt zu haben. “Last Orders” ist, wie Thekengeschichten eben sind: fantastisch, rasant, unglaubwürdig, absurd und verrückt. Selbstherrlichkeit und Nostalgie mischen sich mit Ironie und Sarkasmus, historische Tatsachen mit Mythen und Legenden. Manchmal verliert sich der Erzähler in Nebensächlichkeiten, macht bescheuerte Wortspiele und vermasselt die Pointe. Er entdeckt eigenes Wissen, das er selbst für längst verschüttet hielt, wettert gegen pseudoamerikanische Plastikkultur, zitiert Lenin (“Scheiße, was tun?”) und redet scheinbar mit sich selbst. Dann stellt McGuffin wieder eine seiner Fragen, die er nicht beantworten kann und will. Er wollte sie nur stellen: “Wenn Gott Acid schluckte, würde er dann Menschen sehen?”