Im Oktober und November 2011 besuchte eine Delegation des deutsch-bolivianischen Kooperationsprojekts Qhana Pukara aus Thüringen ihre Partner in Bolivien. Sie wurde Zeugin einer der größten Protestdemonstrationen gegen die sozialistische Regierung des Landes.
La Paz, 19. Oktober. Auf der Plaza Murillo vor dem Regierungspalast sammeln sich hunderte von Menschen und warten auf die protestierenden Indígenas aus dem TIPNIS-Territorium (1). Mittendrin Boliviens Volksbarde Luis Rico, der mit seinen Liedern zusätzlich für Stimmung sorgt.
Die Menschen sind empört: Hat sich die sozialistische bolivianische Regierung unter Evo Morales trotz monatelanger Proteste doch bisher nicht bereit erklärt, auf eine geplante Schnellstraße mitten durch das Reservat zu verzichten.
Dann erreicht der Zug tausender Menschen den zentralen Platz von La Paz.
Verblüffung unter den ausländischen BeobachterInnen – nicht die Whipalas (2) der indigenen Bewegungen sind an der Spitze zu sehen, sondern Nationalflaggen in bunter Mischung mit den Farben der TIPNIS-Leute (3).
Aus den Fenstern der anliegenden Häuser und auf den Straßen solidarisieren sich viele Menschen mit dem Protest.
Entdeckt die bürgerliche Mitte ihre Liebe zum Naturschutz und zu den Indígenas, die sie doch ansonsten eher verachtet?
Weiter hinten im langen Zug kommen sie dann doch – die vielen Organisationen von GewerkschafterInnen, StudentInnen, AnarchistInnen, Ökos mit ihren Flaggen und ihren Sprechchören. Und während am Anfang Rufe wie „Mineros y la Coca – el TIPNIS no se toca!“ (4) oder „Cuando Evo quiere Coca – lo planta en Orinoca“ (5) zu hören waren, ändern sich die diese nun: „Derecha – Izquierda = Todo la misma mierda“ (6) oder „Evo decía que todo cambiará – Mentira! Mentira! Sigue la misma poquería“ (7).
Was hat zu diesem breiten Bündnis des Protests geführt?
Zunächst die offensichtlichen Konflikte: Durch ein Naturschutzreservat sollte mit brasilianischer Unterstützung eine Schnellstraße gebaut werden. Sie dient den Interessen Brasiliens, denn der prosperierende Schwellenstaat sucht eine direkte Verbindung zum Pazifik, um damit seine Exporte nach Asien schneller abwickeln zu können.
Die Planungen wurden ohne Rücksicht auf die UreinwohnerInnen des Territoriums vorgenommen, ihre Proteste verhallten wie gewöhnlich ungehört oder wurden arrogant als Störmanöver einer kleinen Minderheit abgetan.
Doch die Menschen befürchteten nicht zu Unrecht, dass der Bau der Straße das weitere Vordringen von Holzfirmen, Bergbaukonzernen und Cocaleros zur Folge haben würde (8).
Als dann am 26.9. die Polizei den Protestzug der indigenen Menschen auf dem Weg nach La Paz niederknüppelte, war das Maß voll. Eine Lawine der Solidarisierung fegte durch das Land. Doch während die bürgerliche Mitte auf den Zug aufsprang und es der Regierung mal endlich wieder „richtig zeigen“ wollte, liegen die eigentlichen Probleme tiefer.
Da ist zunächst die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise mit dem bisher Erreichten. Viele der neuen Gesetze, Verordnungen und Planungen kommen nicht unten an, haben das Leben der Wählerinnen und Wähler nicht wirklich verbessert. Zwar wurden einige soziale Maßnahmen eingeführt, doch diese sind eher ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Die Menschen werden ungeduldig.
Dies, aber auch die mangelnde Radikalität der Veränderungen sind wiederum Ärgernis für die meisten der indigenen Bewegungen und Gewerkschaften. Sie werfen der Regierungspartei MAS vor, im Geschacher um Posten und in Korruption zu versinken. Tatsächlich ist eine zunehmende Institutionalisierung der Regierungsarbeit zu beobachten – weg von den Bewegungen, hin zur Bedienung von Klientelgruppen.
Diese waren (und sind) eigentlich Teil der Bewegung selbst: Cocabauern, Mineros und auch der regierungsnahe Teil der Campesinos. Doch auch in ihren Führungszirkeln haben inzwischen Funktionäre das Sagen, die sich in erster Linie um die Einnahmenseite des eigenen Klientels kümmern.
Eine Spaltung der Bewegungen in kooptierte und regierungskritische Gruppen wird immer deutlicher
In dieser Situation sehen die Parteien des liberalen Bürgertums und der Oligarchie nach ihren schweren Niederlagen in den Jahren 2008 und 2009 endlich wieder eine Chance für neue Handlungsspielräume.
So versuchte sich der liberale Bürgermeister von La Paz, Juan del Granado von der Partei Movimiento sin Miedo (Bewegung ohne Angst, MSM), an die Spitze der Proteste zu stellen. Es wird spekuliert, dass sich del Granado bereits für die nächsten Präsidentschaftswahlen in Stellung bringen will.
Sollte die Regierung weitere schwerwiegende Fehler begehen, könnten sich am 19. Oktober erste Anzeichen für neue, zukünftige Koalitionen angedeutet haben.
Nachdem deutlich geworden war, dass alle Versuche der Regierung, die TIPNIS-Proteste als völlig überzogen, von den Rechten bezahlt oder den Interessen des Landes schadend zu denunzieren, nichts fruchten würden, machte Evo Morales einen Rückzieher.
Wie bereits nach den Demonstrationen gegen geplante Benzinpreiserhöhungen im Dezember 2010 erklärte er, seine Regierung würde ja dem Prinzip des „Gehorchend Regieren“ folgen. Deshalb werde man nun Verhandlungen mit den Protestierenden aufnehmen, mit dem Ziel, die Schnellstraße doch nicht zu bauen, sondern – im Gegenteil – den Schutz des Territoriums zu stärken.
Und siehe da: Was noch Tage vorher unmöglich schien, gelang nach kurzen Verhandlungen. Am 26.10. unterzeichnete Evo Morales ein Gesetz zum Schutz des „Indigenen Territoriums Nationalpark Isiboro Sécure“. Brasilien erkannte die Vereinbarung an und sicherte zu, seinen Zuschuss für die Straße in Höhe von ca. 332 Millionen Dollar auch bei einem anderen Streckenverlauf beizubehalten.
Inzwischen wurde auch drei Holzfirmen die Lizenz zum Holzeinschlag entzogen.
Nun versuchen die Cocaleros ihrerseits Proteste zu organisieren. Die Konflikte um die Nutzung von Land werden also andauern. Und sie sind grundsätzlicher Art.
Während Regierung und die MAS außenpolitisch damit punkten, zu den schärfsten Kritikern des vom kapitalistischen Wirtschaftssystem verursachten Klimawandels zu gehören, sieht die Lage vor Ort anders aus.
Dort verfolgt die Regierung nach wie vor das gleiche extraktivistische Wirtschaftsmodell: ein auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beruhendes Anwachsen der Wirtschaft, welche einen immer höheren Konsum ermöglichen soll.
Sie befindet sich in einer Zwickmühle: auf der einen Seite die berechtigten Forderungen, vor allem aus den armen Schichten, nach einem Ende der bitteren Armut. Auf der anderen Seite die Forderungen aus den radikalen Bewegungen nach Abkehr von diesem Entwicklungsmodell.
Jene kritisieren, dass entgegen allen Versprechungen und Verordnungen zum Schutz der Pacha Mama (Mutter Erde) diese in noch stärkerem Maße ausgebeutet werde als bisher. Und dass daran nach wie vor ausländische Konzerne im großen Stil beteiligt werden, wie das Beispiel von Verträgen zur Förderung der Lithium-Vorkommen am Salar de Uyuni zeigte. Auch dies entgegen allen Ankündigungen der Regierung.
Insofern sei auch die ganze Diskussion um das Prinzip des „Buen Vivir“ (Aymara: Suma Qamaña) (9) schlicht falsch, weil es ein hauptsächlich auf Menschen bezogenes Prinzip sei.
Das Denken der Aymara umfasse aber sowohl die menschliche wie die nichtmenschliche Welt. Beide bildeten eine Gemeinschaft. Der Begriff „Gemeinschaft“ (Ayllu) umfasse somit die gesamte Umwelt.
Gutes Leben bedeute für die Aymara ein Leben im Gleichgewicht (Khuska), welches sich aber immer wieder verändere und neu gestalte.
Ziel sei nicht die individuelle Suche nach einem „zufriedenen Leben“, sondern ein kollektives Zusammenleben, in welchem die individuellen und kollektiven Probleme gemeinschaftlich gelöst werden (Aski Qamaña).
Dafür müssten aber die bisherigen Prinzipien von „Modernität“ und „Entwicklung“ hinterfragt und grundsätzlich verändert werden. Zwischen Kapitalismus und Aski Qamaña könne es keine Kooperation geben.
Dafür sei eine völlig andere Gesellschaft notwendig.
Eine der wichtigsten Schlüsselfragen sei die nach der sozialen Organisation der Gesellschaft.
In der indigenen Vorstellung verhindere das Rotationsprinzip der Ayllus, verbunden mit sozialer Kontrolle, die Herausbildung von Eliten und Chefs. Die Nachbarschaftskomitees (Junta Vecinares) würden im Stil der Ayllus arbeiten (10).
Am Anfang der jetzigen Regierung habe es die Möglichkeit gegeben, diese Strukturen zu schaffen. Inzwischen sei die MAS jedoch zurückgekehrt zum Prinzip des zentralisierenden Staates und der westlichen Formen von Demokratie.
Gerade dieses Verständnis von Demokratie sei jedoch ein „primitives Konzept“, da es sich stets auf eine relativ kleine Gruppe von Menschen beziehe.
Dass derartige Konzepte in Konflikt zu klassischen Vorstellungen vom Regieren geraten, versteht sich von selbst.
Es bleibt die spannende Frage, ob Vizepräsident Garcia Linera Recht behält mit seiner Behauptung, solche Prozesse und Auseinandersetzungen seien „sekundär und kreativ“.
Oder ob die sich abzeichnende schwere Vertrauenskrise zwischen Regierung und einem großen Teil der Bewegungen zu einer großen Krise im Prozess des Wandels wird. Den Schaden hätten beide – Bewegungen und Regierung.
(1) Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Sécure, ca. 300 - 500 km östlich von La Paz
(2) Whipala: DAS Symbol der indigenen Bewegungen im Andenraum; wird als Flagge benutzt; Ausdruck der Vielfalt der Welten in einer Welt
(3) Völker der Moxenos, Yurakarés, Chimanes; ca. 3-4.000 Menschen
(4) "Bergarbeiter und die Coca - das TIPNIS ist nicht zu haben!"
(5) "Wenn Evo Coca will, soll er sie am Orinoco planen" - eine Anspielung auf die Kooperation mit Venezuela
(6) "Rechts - Links = Alles die gleiche Scheiße"
(7) "Evo verspricht, dass sich alles ändert. Lüge! Lüge! Die Schweinerei wird fortgesetzt"
(8) Tatsächlich fehlten auf der Demo die Cocalero-Organisationen, ebenso die meisten Mineros und die regierungsnahen Bauernvereinigungen
(9) Buen Vivir: "Gutes Leben"; eine von Südamerika ausgehende Debatte, die inzwischen auch Europa erreicht hat. Dabei wird unter B.V. ein Modell und eine Praxis verstanden, welche alle Menschen an einem sozial sicheren, die kulturellen Bedürfnisse befriedigenden und die ökologischen Voraussetzungen beachtenden Leben teilhaben lässt.
(10) Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei den Aymara zwar um eine der größten Volksgruppen in Bolivien handelt, diese jedoch nur eine von 37 Gruppen ist. Ähnliche Diskussionen werden jedoch in fast allen indigenen Gemeinschaften geführt. Das Dargestellte widerspiegelt auch nur einen kleinen Teil der Gespräche, die von der Reisegruppe geführt wurden. Andere Prinzipien wie Teilen statt Tauschen oder das wichtige reziproke Denken wurden hier aus Platzgründen nicht weiter aufgeführt. Manche Fragen werden weiter diskutiert - z.B. über den Widerspruch von Individuum und Kollektiv.