der rechte rand

Europäische Kulturhauptstadt des Antisemitismus?

Der Zusammenprall der kommerziellen Groß-Veranstaltung "Kulturhauptstadt Europas" mit der antisemitischen Realität in Polen wirft Fragen bezüglich der gesellschaftlichen Verantwortung von Kulturschaffenden in Europa auf.

| Kamil Majchrzak

Nationalistische Umerziehung

Die polnische Stadt Wrocław teilt sich 2016 gemeinsam mit dem baskischen San Sebastián den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ (ESK). Ein kohärentes kulturelles Konzept ist jedoch nicht erkennbar. Die existentielle Not und massive Unterfinanzierung der bestehenden Kultur-Institutionen in Wrocław nötigt Kulturschaffende zur Produktion eintägiger Events, um bescheidene Grants im Rahmen der ESK zu ergattern. Doch Kultur ist keine Ware und sollte nicht produziert werden. Das ist symptomatisch für die heutige Situation der Kultur in Wrocław und Polen insgesamt. Die Vergabe des imagefördernden Titels durch die Europäische Union an das niederschlesische Wrocław macht ein grundsätzlicheres Problem vergleichbarer Entwicklungen in Europa sichtbar. Obwohl der Titel laut einem Beschluss des Europäischen Parlaments „den Reichtum und die Vielfalt der europäischen Kulturen sowie ihre Gemeinsamkeiten veranschaulichen“ soll, um ein besseres Verständnis der BürgerInnen Europas füreinander zu ermöglichen, spricht der Zusammenprall der Wunschvorstellungen von einer „Wertegemeinschaft“ mit der Realität des wieder erstarkenden Rechtspopulismus und Nationalismus in Europa eine andere Sprache.

Die vergangen 25 Jahre waren in Polen von einer stufenweise eingeführten, sich bestätig radikalisierenden Geschichtspolitik begleitet, die zu einer nationalistischen gesellschaftlichen Umerziehung führte. Nicht demokratische Werte standen im Vordergrund, vielmehr versuchten alle politischen Kräfte sich gegenseitig rechts zu überholen, um die WählerInnen zu überzeugen, dass sie die echten und alleinigen Vertreter der polnischen Nation seien. Nationalismus ersetzte den Begriff von Demokratie. In der Folge der Schock-Therapie Anfang der 1990er Jahre verfiel Demokratie zum Synonym einer Herrschaftsform, in der Vermögen die entscheidende Voraussetzung für die Teilhabe an der Gesellschaft darstellt. Die soziale Frage wurde deckungsgleich mit „echtem Patriotismus“. Stadt-Präsident Rafał Dutkiewicz versuchte bei der Bewerbung um den ESK-Titel Wrocław als Zentrum des antikommunistischen Widerstandes darzustellen und verglich es gar mit dem Untergrundstaat gegen die deutsche Besatzung vor 1945. Die Regierenden kennen offenbar keine andere Erzählung als jene, die den integralen Bestandteil ihrer eigenen Macht darstellt. Doch in einer Europäischen Kulturhauptstadt wären vielmehr universelle Werte notwendig, um Antworten auf die Bedrohung durch Neofaschismus in Europa und eine in Osteuropa gegenwärtig stattfindende neokonservative und antidemokratische Revolution zu finden. Wrocław hat offenbar nicht mehr anzubieten als ein ostentatives Festival der eigenen Macht.

Nationalistische Appeasement-Politik

Die heutigen Krokodilstränen des Westens über den Rechtsruck in Polen vernebeln die Tatsache, dass der National-Chauvinismus und das Wiedererstarken einer gewalttätigen Rechten in Polen nicht erst nach dem Wahlsieg der nationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) akut geworden sind. Die Kritik aus Deutschland und Europa an den jüngsten Entwicklungen in Polen ist unglaubwürdig, weil sie geflissentlich bei der Etablierung einer Kultur des Faschismus unter Viktor Orbáns FIDESZ in Ungarn geschwiegen hat. Sie drückt offenbar Unstimmigkeiten bezüglich Polens Alleingang und militärischer Wortakrobatik gegenüber Russland sowie Verstimmungen in der Flüchtlingsfrage aus.

Die neoliberale Vorgängerregierung der Bürger-Plattform (PO) hat dabei mit ihrer nationalistischen Appeasement-Politik erst die Grundlage für den jüngsten Wahlsieg der Nationalkonservativen gelegt. Überraschenderweise will nun auch die polnische Intelligenzija plötzlich die Demokratie entdeckt haben, obwohl sie bislang nur, als Emporkömmlinge der Transformation, an der Zurschaustellung ihrer Hauptbeschäftigung: der Sicherung des wirtschaftlichen status quo in Erscheinung getreten ist. Ein Vierteljahrhundert warnten diese Intellektuellen vor allem vor „Linken“, erhoben die Totalitarismus-Ideologie zur Staatsräson und behaupten, dass Faschismus mit Kommunismus gleichgesetzt werden könnte. Sie schwiegen auch dann, als die Bürger-Plattform acht Jahre lang eine nationalistische Politik führte, bei der jede Frauenrechts-Initiative zu radikal war, jede LGBTQ-Angelegenheit zu kontrovers, jeder emanzipative gesellschaftliche Gedanke zu postkommunistisch oder bedrohlich. Jede Warnung vor dem Wiedererstarken des Neofaschismus wurde, infolge ihrer durch die Nähe zur Macht glatt gebürstete Intelligenzija, als „unbegründete Verallgemeinerung“ abgetan. Die polnische Intelligenzija mimt nun den besorgten Bürger und fordert, die polnische National-Fahne schwenkend, als Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD), jene Demokratie zurück, an deren Erosion sie tatkräftig mitgewirkt hat. Sie schwieg als Demokratie zum Synonym einer sozialen Spaltung und das Wort Gesellschaft durch eine ethnisch und national definierte Gemeinschaft ersetzt wurde. Ihr Kampf um den status quo vor dem Wahlsieg der PiS, auf welches vermeintliche Demokraten nun ein Hohelied anstimmen, ist nichts anderes als eine Rückkehr zu den Grundlagen jener Geschichtspolitik der Nationalisten, die direkt zur gegenwärtigen politischen Radikalisierung in Polen führte.

Wiedererstarken eines gewalttätigen Neofaschismus

Dabei wurde die Gewaltbereitschaft und der Einfluss der polnischen Neofaschisten auf die Kultur von Wrocław doch nicht erst bei den Protesten um die Aufführung von Elfriede Jelineks „Der Tod und das Mädchen“ am Teatr Polski im November 2015 sichtbar, bei der die kalkulierte Provokation mit Porno als Marketing-Strategie von einem Regisseur eingesetzt wurde. Der Westen feiert solche Spielereien als Heiland der Demokratie und freien Meinungsäußerung, anstatt diesen vermeintlichen Euro-Maidan lediglich als Ausdruck einer blasierten und kommerzialisierten Kultur zu betrachten. Selbst hier werden die tatsächlichen Gefahren der extremen Rechten in Polen verharmlost. Immerhin haben engagierte Theater-AktivsitInnen vom legendären Off-Theater „Zakład Krawiecki“ Stücke von Brad Fraser oder Sarah Kane schon vor einem Jahrzehnt in Wrocław aufgeführt, ohne aus wichtigen gesellschaftlichen Themen ein kommerzielles Vaudeville zu veranstalten.

Dabei haben bereits zuvor am 1. März 2013 Neofaschisten der Nationalen Wiedergeburt Polens (NOP) die Präsentation eines Films von Tomáš Rafa in der Galerie BWA in Wrocław verhindert, da dieser der Ehre der sog. „Żołnierze Wyklęci“ [„Verfemte Soldaten“] nicht zuträglich sei. Die Idee von Lech Kaczyński zur Einführung eines Nationalfeiertages am 1. März, für solche verfemten Helden des Widerstands, deren Hauptbeschäftigung im Zweiten Weltkrieg in der Judenjagd und Aufspürung von Kommunisten lag, wurde erst mit Hilfe der Bürgerplattform im Parlament verabschiedet. Paradoxerweise entstand dieser Film des slowakischen Künstlers Tomáš Rafa, in dem der Vormarsch des Nationalismus in Europa thematisiert wird, im Rahmen eines Projektes der Europäischen Kulturhauptstadt 2013 im slowakischen Košice. Die Stadtverwaltung und die Galerie BWA rechtfertigten sich, sie wollen keine „linken Provokationen“ und verweigerten die Aufführung.

Den bisherigen vorläufigen Höhepunkt bildete die Verbrennung einer Juden-Puppe mit EU-Fahne in einem antisemitischen Fackel-Mysterium der faschistischen ONR [Obóz Narodowo-Radykalny] direkt vor dem Rathaus, wenige Tage nach dem 77. Jahrestag der Reichspogromnacht. Die Kuratoren der Europäischen Kulturhauptstadt Wrocław sahen sich daraufhin in einem Offenen Brief bemüßigt die nationalistische Parole „Gott, Ehre, Vaterland“ zu verteidigen, anstatt dem Nationalismus und Antisemitismus den Kampf anzusagen. Wenige Tage später konnten im Dezember 2015 die Antisemiten am gleichen Ort erneut aufmarschieren. Diesmal brachten sie abgeschnittene Schweineköpfe mit, um ihren Protest gegen den angeblichen Ausverkauf von Häusern an Juden zu bekräftigen. Seit Jahren werden dabei Probleme, wie die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung der Roma in der Stadt lediglich verwaltet, anstatt sie zu lösen. Nach einer rechtswidrigen Zwangsräumung einer Roma-Familie mit Bulldozern just zum Jahrestag der Auflösung des sog. Zigeunerlagers im deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 2015, verglich Roman Kwiatkowski, Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen, den Umgang der Stadt Wrocław mit Roma mit der Behandlung der Roma im deutschen Breslau in den 1930er Jahren.

Kommunikationsguerilla gegen Antisemitismus

Die seit Jahren von den Stadtverantwortlichen betriebene Verharmlosung der neonazistischen Gruppen, und die wachsende Zahl von Übergriffen auf AusländerInnen in Wrocław griff das Kollektiv „Centrum Postaw Antyrasistowskich“ [Zentrum für Antirassistische Haltungen] auf. Es postete auf YouTube ein satirisches Video, in dem sie die Werbebotschaften der ESK-Macher mit Szenen des alltäglichen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus vermischten. Nach mehr als 10.000 Zugriffen wurde das Video auf Intervention der Stadt aus dem Netz verbannt. Es findet sich jedoch noch auf einem Facebook-Account.

Die Blindheit der Verantwortlichen gegenüber dem Treiben der neofaschistischen Szene in Wrocław und des latenten Antisemitismus bleibt jedoch bestehen. Die im Zusammenhang mit dem Video des Centrum Postaw Antyrasistowskich kurz aufgeflammte Debatte in Wrocław machte deutlich, dass Antisemitismus nicht als gesamtgesellschaftliches Problem, sondern eine Frage der Imagepflege im Kontext des Groß-Events Kulturhauptstadt betrachtet wird. Als polnische Nazis im Anschluss an den Unabhängigkeitstag im November 2012 das alternative Wohnprojekt „Wagenburg“ überfielen, und wenige Tage zuvor Scheiben in der Synagoge einschlugen, rang sich Präsident Rafał Dutkiewicz lediglich zu einem Taschenspielertrick durch. Als Symbol einer offenen Stadt und des Kampfes gegen Rassismus, enthüllte Dutkiewicz nach den Angriffen ein paar Zwergen-Figuren im Afro-Look, welche mit Dreadlocks auf Bongos spielen. Damit wärmte er die Legende von der „Pomarańczowa Alternatywa“ [Orangefarbene Alternative], also Provo-Happenings von Jugendlichen aus den 1980er Jahren auf, die damals mit orangefarbenen Zipfelmützen als revolutionäre Zwerge auftraten. Als ein Vortrag des Soziologen Zygmunt Bauman, der infolge antisemitischer Ausschreitungen 1968 aus Polen ausgewiesen wurde, an der Universität Wrocław im Sommer 2013 von Antisemiten gestört wurde, konnte der Übergriff erst durch eine Anti-Terror-Einheit beendet werden. Präsident Dutkiewicz setzte sich persönlich für eine Umwandlung der Haftstrafen in soziale Arbeit um.

Europäische Kulturhauptstadt – Fremdkörper in der Stadt

Die „Europäische Kulturhauptstadt“ bleibt ein Fremdkörper in Wrocław. Ein großes kommerzielles Festival, flankiert von kleinen Projekten ohne Nachhaltigkeit bei dem ein kohärentes Konzept nicht erkennbar ist. Anstatt unabhängige Kultur zu unterstützen fand die Stadt in der Stadtkasse 1,6 Mio. Euro für den Erwerb fragwürdiger Bilder von Marylin Monroe. Was hat diese Retro-Spielerei mit moderner Kultur dieser Stadt zu tun? Wrocław als Kulturhauptstadt bietet ein Iron Maiden und David Gilmour-Konzert. Über Wrocławs avantgardistische Kultur erfährt man dagegen in der Ausstellung „Dzikie Pola”, die vom Zeitgenössischen Museum in Wrocław und der Warschauer Zachęta erarbeitet wurde. Um diese zu besuchen muss man aber nach Warschau fahren.

Die unabhängige Kultur ist in ihren kleinen Enklaven eingeschlossen. Eine Parallel-Struktur, eine Unterwelt zum offiziellen Fahrplan der Stadt. Betrieben von AktivistInnen ohne Förderung oder Wertschätzung seitens der Stadt. Das berühmte Theater „Zakład Krawiecki“ scheiterte an der Kulturpolitik der Stadt, die erfolgreiche unabhängige Kultur nicht duldet, sondern zu kommerzialisieren versucht. Viele emigrieren. So auch Monika Chmielarz, die einstige Regiesseurin, die heute erfolgreich in Irland das Magazin „BlowPhoto“ herausbringt. Der Namensgeber des Theaters Dominik Krawiecki begründete in Bern die Company PINK MAMA THEATRE. Der Name „Zakład Krawiecki“ wurde dagegen später von anderen benutzt, um fragwürdige Musicals zu produzieren.

Unabhängige Musikszene

Am stärksten scheint derzeit noch die unabhängige Musikszene zu sein. Wer einmal eine Liveperformance der queeren Electro-Band „Zdrada Pałki“ in einem Keller im Stadtteil Grabiszynek erlebt hat, der wird sich der Energie dieser Band nicht entziehen können und mehr über die komplizierten kulturellen Lebensverhältnisse im katholisch dominierten Polen erfahren als im ESK-Programm zu finden ist. Aber die Künstlerin Martyna H. ist bereits emigriert. Die Post-Punk Band „Ukryte Zalety Systemu“ wird dagegen mittlerweile vom legendären Alternativ-Radio KEXP-FM gehypt.

Die Stadt hat zwar das alternative Kulturleben und unabhängige Kultur-Projekte als Begründung bei der Titel-Bewerbung in Anschlag gebracht. So bei dem engagierten Projekt „Dźwięki z Odzysku/Recycled Sounds“, bei dem Kinder aus dem benachteiligten und gentrifizierten Stadtteil Nadodrze, aus Abfällen Instrumente und ein Orchester aufbauten. Nach Vergabe des Titels findet es sich jedoch nicht mehr im offiziellen ESK-Programm wieder. Ein Bürger-Rat für Kultur (Obywatelska Rada Kultury) bemühte sich diese „Kultur-Walze“ von unten aufzuhalten, protestierte gegen die Herabsetzung der Kultur zu einer Marketing-Maßnahme von Werbefachleuten. Gefordert wurde die Stärkung der Kultur-Bildung, der Jugendarbeit. In den Armutsghettos der Stadt werden Jung und Alt von Kultur ausgeschlossen. Die Hoffnungen die ESK werde durch eine kluge Kulturförderpolitik die soziale Kluft schließen, scheiterten. Eine gesellschaftlich-partizipative Seite ist nicht vorhanden. Bis heute ist unklar, was das dafür vorgesehene Wrocławski Akcjonariat Kultury [Kulturbeteiligung Wrocław] eigentlich macht. Eine nachhaltige Kulturstadtpolitik, die sowohl ihre BewohnerInnen als auch die ihre Kulturschaffenden einbezieht, sieht anders aus. Brisante ist dabei, dass die lokale Kulturszene sich mittlerweile zu einem Gegenentwurf nicht in der Lage sieht und sich mit der Situation abgefunden hat.

Die Konstruktion der polnischen Nation

Der Grund für die Weigerung sich mit dem Antisemitismus in der Stadt auseinanderzusetzten, der durch die ESK-Titelvergabe sichtbar wurde, geht jedoch über die Veranstaltung hinaus. Dieser ist eng mit der identitätsstiftenden Funktion des Nationalismus und für Politik und Gesellschaft verknüpft. In Polen darf über alles geredet werden, nur nicht darüber, dass der latente Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt. Die Verleugnung des Antisemitismus ist konstitutiv für die heutige nationale Identitätsbildung. Dass das antisemitische Vorurteil ohne konkreten Juden auskommt, dafür ist der polnische Antisemitismus empirischer Beleg. Der Zusammenstoß der ESK mit der antisemitischen Realität Polens verursachte jedoch, dass der diskrete Charme der nationalistischen und antisemitischen Geschichtspolitik aus den Fugen geriet. Die Berufung der ESK-Manager auf nationalistische Parolen wie „Gott, Ehre, Vaterland“ in ihrem Offenen Brief nach der „Juden-Verbrennung“ macht zugleich das Elend der Intelligenzija in Polen im Kontext der Kulturhauptstadt Wrocław besonders unerträglich. Man kann nicht nach Demokratie rufen und zugleich vom polnischen Nationalismus, der Heldenverehrung und der antisemitischen Geschichtspolitik naschen.

Antisemitismus

Anders als in Deutschland muss der Antisemitismus in Polen „nicht durch Auschwitz hindurchgehen“, sondern existiert trotz Auschwitz. So als hätte die planmäßige Ermordung europäischer Juden durch die Deutschen die polnische Gesellschaft nie berührt. Nicht zufällig entstand die polnische Geschichtspolitik Anfang der 2000er Jahre als Abwehrreaktion auf die Debatte, um die Morde in Jedwabne, wo 1941 Polen ihre polnischen, jüdischen Nachbarn grausam ermordeten. Es tröstet wenig, dass dies kein Akt der Kollaboration mit den Deutschen, sondern vielmehr eine originär polnische antisemitische Tat war. Seit Jedwabne ist es nicht mehr möglich solche Verbrechen den bösen „Anderen“, dem „Szmalcownik“, der Juden für Geld an die Gestapo auslieferte oder herbeifabulierten kommunistischen Verrätern oder den Juden selbst in die Schuhe zu schieben.

Der Holocaust stellt eine polnische Identität, die auf völkischem Nationalismus aufbaut an sich in Frage. Ein zweites Opfer neben sich kann diese Identität nicht ertragen. Seine moderne Ausprägung leugnet nicht, dass es den Holocaust gab, aber dieser wird – ähnlich wie in den baltischen Staaten – verzerrt dargestellt, als etwas, womit die Polen nichts zu tun hatten. Das Böse muss äußerlich bleiben, wird an Extreme verbannt, einen Rassismus der Mitte gibt es in dieser Erzählung nicht. Der Holocaust fand jedoch nicht in einem sozialen Vakuum statt. Selbst nach der Befreiung durch die Rote Armee wurden nach 1945 mindestens 2000 jüdische Überlebende von ihren polnischen Nachbarn ermordet.

Der Holocaust stört empfindlich die eigene Geschichts-Mystifikation und das Heldengedenken, da die Helden der einen als antisemitische Mörder der anderen entlarvt werden. Die Auseinandersetzung mit dem heutigen Antisemitismus stellt unweigerlich die Frage nach der Rolle der polnischen Gesellschaft während der Shoah. Das ist keine originär polnisch-jüdische Problematik, sondern vor allem eine Herausforderung, der sich die Polen als Gesellschaft und als Individuen in Europa selbst stellen müssen.

Was überraschen mag, der Nationalismus und seine intellektuelle Variante, der Patriotismus, wird als etwas Positives, als Ausdruck der gesellschaftlichen Solidarität wahrgenommen. Selbst Teile der radikalen Linken knüpfen in ihrer Heldenverehrung an diesen an, was zugleich Ursache für einen regressiven Antifaschismus in Polen ist. Über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg, alle wollen Anteil an der nationalen Mystifikation haben, selbst die polnische Antifa. Keiner stellt das Konstrukt der nationalen Identität in Frage. Eine echte Aufarbeitung der polnischen Beteiligung am Holocaust hat es nie gegeben. Während also die Alliierten für die deutsche Nachkriegsgesellschaft eine Diskontinuität zum deutschen Faschismus durchzusetzen versuchten, wird die polnische Nation auf dem Boden der Ideologie der Totalitarismus-Theorie als Kontinuität zu 1939 konstruiert. Während jedoch in Deutschland offener Neonazismus und Antisemitismus aus dem akzeptierten Meinungsspektrum ausgegrenzt wurde, werden antisemitische Mordtaten in Polen zum angeblichen Widerstand und zur Bekämpfung „kommunistischer Besatzer“ verklärt. Es ginge, so die These, dabei nicht um Morde an Juden, sondern um den Widerstand gegen Unterstützer der sowjetischen Besatzungsmacht. Dabei wird ausgeblendet, dass die Sowjetunion gemeinsam mit den USA und Großbritannien einen wesentlichen Beitrag der Anti-Hitler-Koalition leistete, um die Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus zu beenden.

Kamil Majchrzak

Kamil Majchrzak, 1976 in Wrocław geboren emigrierte 1995 nach Deutschland, wo er u.a. als Regie-Assistent von Hans-Christian Schmid beim Spielfilm „Lichter“ oder Rechercheur und Tonmeister des Dokumentarfilms „Familienreise“ im Rahmen der Reihe „Denk ich an Deutschland“ des Bayerischen Rundfunks arbeitete.