Der Überfall

Lagerland Deutschland - Beispiel Ellwangen

| Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin

Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin hat gerade die
26. Auflage von „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen –
1993 bis 2018“ herausgebracht. Diese Dokumentation liegt somit in drei
Bänden mit insgesamt 1100 Seiten vor (1). Die Redaktion der
Graswurzelrevolution empfiehlt die Lektüre und veröffentlicht hier einen
Auszug, der die Geschehnisse in Ellwangen 2018 beleuchtet. (GWR-Red.)

 

3. Mai 2018. Ellwangen im baden-württembergischen Ostalbkreis. Polizeilicher Großeinsatz in der Landeserstaufnahmestelle (LEA) ab fünf Uhr morgens. Die Straßen rund um die Unterkunft sind weiträumig abgesperrt, als über 500 Polizist*innen mit Unterstützung von zum Teil vermummten Spezialeinheiten und Begleitung von Sanitäter*innen und Ärzt*innen in die Gebäude eindringen. Betroffen sind die Wohnhäuser Nummer 92, 94 und 95, in denen meist alleinreisende afrikanische Männer leben.

40 Türen der Zimmer, die gar nicht abschließbar sind, werden aufgebrochen, die Bewohner werden mit hellen Taschenlampen geweckt oder geblendet: „Polizei, Polizei! Hands up, don‘t move! Give me your Ausweis and Camp chip card! Do you have a handy?“, erinnert sich ein Zeuge. Die aus dem Schlaf heraus erschreckten Männer werden angebrüllt und ihnen wird befohlen, sich mit erhobenen Händen an die Wand zu stellen. Nachdem ihnen Handschellen oder Kabelbinder angelegt wurden, müssen sie sich auf den Boden legen. Nach der Überprüfung der Papiere von 272 Personen durchsuchen die Beamt*innen auch deren Kleidung, die Zimmer und sogar die Geldbörsen. Von achtzehn Bewohnern werden Geldbeträge – „erhöhte Bargeldbestände, die über der Selbstbehaltsgrenze von 350 Euro lagen“ – von den Polizeibeamt*innen beschlagnahmt. Einige Personen sind nackt, und ihnen wird verboten, sich etwas anzuziehen. Alle werden unter Bedrohung und tatsächlicher Anwendung von Schlägen gezwungen, sich ruhig zu verhalten. Viele denken, dass sie jetzt abgeschoben werden.

Mindestens elf Flüchtlinge werden bei dem Einsatz verletzt, und zwei Bewohner verletzen sich, als sie in Panik aus dem Fenster springen. Die Verletzten werden dann entweder vor Ort oder im Krankenhaus medizinisch versorgt. Nicht gezählt sind die durch den Überfall Traumatisierten, die durch das gewalttätige Eindringen von Bewaffneten an ihre Leidenserfahrungen mit Terror und Gewalt im Herkunftsland oder auf der Flucht erinnert wurden und in psychische Ausnahmesituationen gerieten.

27 Personen werden schließlich festgenommen und in ein Gebäude – gegenüber der Polizeistation auf dem Gelände – gebracht. Ihnen wird trotz der Kälte immer noch untersagt, Kleidung anzuziehen, die Mitbewohner ihnen bringen, einigen wird der Toilettengang verboten. Alle werden in Gegenwart von 20 Polizeibeamt*innen und Polizeihunden verhört, fotografiert und erkennungsdienstlich behandelt.

 

Staatsräson

 

Ziel dieses Generalangriffs von Horden vermummter Uniformierter auf dem Gelände der LEA ist es einerseits, im zweiten Versuch einen 23 Jahre alten Togoer zu finden und zur Rückschiebung nach Italien festzunehmen. Vor allem aber dient diese Begründung dafür, ein deutliches Zeichen der staatlichen Macht und Kontrolle zu setzen.

Denn bereits am 30. April waren gegen 2.30 Uhr drei Einsatzwagen am Heim vorgefahren, um den Togoer Yussif O. zur Abschiebung abzuholen. Als er bereits gefesselt am Streifenwagen stand, kamen immer mehr Bewohner*innen, protestierten friedlich und lautstark gegen diese Maßnahme und forderten die Freilassung ihres Mitbewohners.

 

Propaganda

 

Der friedliche Protest wurde durch die Polizei als „aggressives und gewaltbereites Verhalten“ diskriminiert, und es wurde behauptet, dass ein Polizeifahrzeug durch die Flüchtlinge beschädigt worden sei. Polizist*innen brachen dann die Abschiebung ab, fuhren davon und ließen den immer noch gefesselten Yussif O. zurück. Die Schlüssel für die Handschellen übergaben sie einem Angehörigen des privaten Sicherheitsdienstes, so dass dieser erst eineinhalb Stunden später von den Handschellen befreit werden konnte.

Aus diesem passiven und friedlichen Protest der Flüchtlinge hatten Polizei und bürgerliche Presse dann einen „geplanten und organisierten“ kriminellen Akt von 150 bis 200 Bewohner*innen in „rechtsfreien Räumen“ konstruiert. Tatsächlich hatten höchstens circa 50 Personen, die meisten in Pyjamas oder Trainingsanzügen, gegen die Abschiebemaßnahme protestiert.

Zur Begründung und medialen Vorbereitung der Groß-Razzia wurden Hinweise auf „Waffen und ähnliche Gegenstände“ oder sogar „Waffenanhäufungen“ im Lager öffentlich benannt – gefunden wurde bei der Razzia am 3. Mai nichts. Die Anzahl von drei verletzten Polizisten während der Razzia mußte später auf einen Verletzten reduziert werden, und dieser Polizist war zudem ohne Zutun einer dritten Person zu Schaden gekommen.

 

Kriminalisierung

 

Der Verhaftungsgrund einer Person ist schließlich, dass sie im Besitz von unregistrierten Lyca Simkarten für Handy-Benutzung gewesen sein soll.

Ansonsten wurden durch die großangelegte Razzia neue „Straftäter“ produziert. Gegen 25 Personen werden Ermittlungsverfahren eingeleitet – neun von ihnen kommen in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe sind u.a. Widerstand und / oder tätliche Angriffe gegen die Staatsgewalt.

Später wird bekannt, dass in Einsatzprotokollen der Polizei mit rassistischen Stigmen nicht gespart wurde. Es fallen Begriffe wie aggressive Meute, Mob oder wie Zusammenrottung von Schwarzafrikanern. Auch wird erwähnt, dass es sicherlich zu einer Notwehrsituation der Polizei hätte kommen können, in deren Verlauf auch der Einsatz von Schußwaffen notwendig geworden wäre.

 

Vertuschung und Vollstreckung

 

Der Kameruner Alassa M., Vertrauensperson und Sprecher seiner Mitbewohner*innen, äußert sich mit vielen anderen öffentlich über das Geschehene, organisiert mit Freund*innen eine Pressekonferenz und Demo für den 9. Mai und meldet sie persönlich an: „Viel wird über uns geredet, jetzt reden wir: Wir sind Flüchtlinge, keine Kriminellen! Stoppt die Abschiebungen!“

Alassa M. wird am 20. Juni – dem von den Vereinten Nationen festgelegten „Weltflüchtlingstag“ – frühmorgens, wie ein Schwerverbrecher von einem massiven Polizeiaufgebot aufgesucht, zu Boden gebracht, gefesselt und umgehend entsprechend des Dublin-III-Verfahrens nach Italien in die Obdachlosigkeit zurückgeschoben.

Am 31. Juli wird Mamadou B., der sich seit der Razzia in Untersuchungshaft befindet, im Amtsgericht Ellwangen vorgeführt. Die Frage, ob er, als ihm ein Beamter die Bettdecke wegzog und ihn festnehmen wollte, erschrocken und in Panik unkontrolliert herumgefuchtelt oder ob er dabei gezielt gegen den Helm des Beamten geschlagen hat, wird mit sechs Monaten Haft ohne Bewährung entschieden.

Ein weiterer Bewohner, der 31-jährige Nansadi K. aus Guinea, der mit Hand- und Fußfesseln nach drei Monaten U-Haft in der JVA Schwäbisch Hall am 8. August in den Gerichtssaal geführt wird, erhält eine Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen à fünf Euro und kommt frei. Da er nur Französisch spricht, hatte er bei der Razzia die Befehle der Polizeibeamt*innen gar nicht verstanden und in Panik und Angst versucht, sich der Verhaftung, die mit massiven polizeilichen Zwangsmaßnahmen einherging, zu entziehen.

Am 20. August wird Osemwa P. nach vier Monaten in Untersuchungshaft wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Strafe von sechs Monaten Haft mit Bewährung verurteilt. Von den ursprünglich neun Männern in U-Haft sind im August zwei freigelassen und zwei weitere nach Italien rückgeschoben worden.

Am 25. August findet in Stuttgart eine Demonstration gegen „Kriminalisierung von Geflüchteten und Seenotrettern“ statt, auf der u.a. auch politisches Asyl und die Zurückholung von Alassa M. und aller Betroffenen gefordert wird.

Die Kriminalisierung von Alassa M., der schon im September von Italien aus eine Klage gegen das Land Baden-Württemberg wegen der vielen polizeilichen Rechtsbrüche bei der Großrazzia erhoben hatte, Mitte Dezember nach Deutschland zurückgekehrt war und einen Asylfolgeantrag stellte, wird durch die Staatsanwaltschaft Ellwangen fortgesetzt. Sie bezieht sich auf den 30. April, dem Tag der versuchten Abschiebung des Togoers Yussif O. und leitet – mit erheblicher Verzögerung – ein Strafverfahren gegen Alassa M. ein. Ihm wird Landfriedensbruch und Gefangenenbefreiung vorgeworfen. Sein Asylfolgeantrag wird abgelehnt, sodass er weiterhin abschiebebedroht ist.

Alassa M. in einem Interview: „Die Polizei kann nicht gegen Zivilisten mit schweren Waffen und Hunden vorgehen. … und auch unsere Türen waren nie geschlossen. … die brutale Attacke kann ich mit einem Wort beschreiben: Rassismus.“

Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion. Weitere Texte zum Thema finden sich in der Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier