Über den Tag hinaus

Ekkehart Krippendorffs Theaterkritik im herrschaftsfreien Diskurs

| Carola v. Seckendorff

Ekkehart Krippendorff: Über den Tag hinaus. Exemplarische Theaterkritik im herrschaftsfreien Diskurs, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019, 166 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-35-9

Ich bin keine Theaterkritikerin. Ich habe auch noch nie eine Rezension geschrieben. Ich bin Schauspielerin. Ich bin Regisseurin. Nun bin ich aber eingeladen worden eine Kritik zu dem 2019 erschienenen Buch „Über den Tag hinaus“ zu schreiben. Es enthält eine Sammlung exemplarischer Theaterkritiken im herrschaftsfreien Diskurs (so der Untertitel) über Aufführungen in Berliner Theatern zwischen 1995 und 2001, verfasst von dem 2018 verstorbenen Ekkehart Krippendorff. Er war u.a. Politikwissenschaftler und, wie ich während der mitreißenden Lektüre schnell feststellen konnte, leidenschaftlicher Theatergänger und Theaterkritiker – Kritiker. Vor allem war Krippendorff auch ein Liebhaber der großen genuinen Wunder, die gerade die kleinen Theater hervorzubringen in der Lage sind: „Hier sind die Graswurzeln, aus denen das Theater – auch und gerade in dürftigen Zeiten – sich immer wieder reproduziert; hier und nur hier beweist sich die Vitalität einer Gesellschaft einer Gesellschaft und ihrer theatralischen Kultur, nicht aber in jenen aufwändigen Produktionen, von denen jede mehr kostet als das Jahresbudget einer der kleinen Bühnen und von denen die Feuilletons dann am Tag danach modisch voll sind.“

Dieses Bekenntnis findet sich auf den ersten Seiten, nimmt mich sofort ein und ermutigt mich weiterzulesen und letztlich über dieses wegweisende Buch zu schreiben. Wandle ich doch selbst zwischen dem subventionierten, hierarchisch strukturierten institutionellen Theater und der freien Szene, den kleinen Bühnen hin und her. Völlig unterbezahlt steckt mein Herzblut doch gerade in diesen „Graswurzeln“, den freien Arbeiten an kleinen Bühnen, da sich dort außerhalb der hierarchischen Theaterinstitutionen, auf Augenhöhe, nicht entfremdete, leidenschaftsvolle Arbeiten mit Gleichgesinnten „im herrschaftsfreien Diskurs“ realisieren lassen.

Für mich ist die Aufgabe der Theaterkritik eine Aufführung nicht nur in meistliterarisierendem Vokabular zu belobigen, zu zerreißen oder schlichtweg zu bewerben, sondern nachhaltig, unverblümt und vielfarbig festzuhalten, was nach einer Aufführungsserie für immer verschwunden ist. Dazu braucht es die Augen und Ohren eines kenntnisreichen, interessierten Betrachters, einer Betrachterin, die sich respektvoll und subjektiv der Materie nähern (es stehen schließlich Menschen auf der Bühne) und niemals objektivierend über das Gesehene hinweg schreiben.

Denn woran misst sich Kunst? Für mich ist Kunst nicht objektivierbar und ich freue mich, wenn in einer Kritik kenntlich gemacht ist, dass es sich um eine subjektive Sicht auf eine Arbeit handelt, denn es ist schließlich nur eine Stimme aus vielen ungehörten. Eine Theaterkritik hat Macht, dessen muss sich der Schreiber immer bewusst sein.

Sie steht da, schwarz auf weiß, monumental, lange nachdem der Vorhang sich geschlossen hat. Vor allem ist sie monumental und brachial wirksam gerade für die kleinen Bühnen und Aufführungen, zu denen oftmals, wenn überhaupt, nur ein Schreiber kommt. Dann kann sie wahrhaft vernichten. Dessen ist Krippendorff sich bewusst und er nähert sich jenen Arbeiten genauso wertschätzend und kritisch wie Aufführungen der großen Bühnen. Ferner erweitert er meine Auffassung, was Theaterkritik leisten sollte, ungemein: Krippendorff sieht die Theaterkritik als theatergeschichtliche Chronik, die zu vermitteln hat zwischen Stück, dem Stückeschreiber, der Bühnenverwirklichung und dem Publikum, „dem prospektiven, so gut wie dem, das aus der Ferne zeitungslesend daran Anteil nehmen möchte, was sich woanders auf dem Theater tut“. Er setzt voraus, dass der Schreiber etwas über den Autor weiß, umfänglich die Umstände kennt, unter denen ein Stück entstanden ist, und dazu auch die Aufführungsgeschichte mit in den Blick nimmt. Hier sieht er die aktuelle Theaterkritik „schmählich“ versagen. Für ihn gibt sie hauptsächlich Impressionen, Meinungen, Eindrücke in selbstgefälliger Formulierungsartistik wieder. Lediglich erführe man mehr oder weniger, ob dem Rezensenten der Abend gefallen habe oder nicht. Sich selbst stellt er folgende Maxime, welche ich bei der Lektüre seiner Kritiken vollständig erfüllt sehe und welche seine Texte so greifbar machen, dass ich die Aufführungen lebendig vor mir sehe und wünschte, ich hätte die Möglichkeit sie selber nochmal zu sehen: „Das ist es, worum es in diesem Stück geht, das scheint der Autor gewollt zu haben, auf diese Probleme und Themen, Fragen und Antworten lässt Du, Publikum Dich ein, dieses sind die Anstrengungen, die Du wirst machen müssen, dies die Vergnügungen, die Dich erwarten, dies die Herausforderungen, denen Du Dich stellen musst, wenn Du in dieses Theater gehst…“

Neben Krippendorffs plastischer Schilderung und Reflexion des Gesehenen auf vielerlei Ebenen versteht er die politische Wirksamkeit und Kraft des Theaters zu beschwören. Es wird deutlich, dass Theater notwendig ist als politisches Korrektiv, als „lebensnotwendiger Luxus“.

Krippendorff erinnert eindrücklich an die „Ur-Verwandtschaft“ zwischen Politik und Theater, wurzelnd in der griechischen Tragödie des 5. Jahrhunderts, in der im Gewande mythologischer Stoffe die eigenen Angelegenheiten bewusst gemacht wurden und zu selbstbestimmten Handeln anleiten sollten, nachdem die Bürger ihre Könige verjagt hatten.

Die früheste Selbstbewusstwerdung des Menschen, seine Weltwahrnehmung zeichnete sich aus durch die Suche nach dem Sinn unserer Existenz, letztlich aufgefangen und begriffen durch Spiritualität und Religiosität. Hierzu zitiert Krippendorff Vaclav Havel: „dass gerade dieses Bewusstsein auch der Ausgangspunkt oder die ursprüngliche Grundlage des Theaters ist (…) jedes auch nur zwei Stunden lange Stück vergegenwärtigt doch die gesamte Welt.“

Abschließend muss ich sagen, dass der Auftrag diese Zeilen zu schreiben, nachdem ich dieses theatergeschichtenreiche Buch habe lesen dürfen, mich wieder an den Ursprung erinnert, warum ich diesen oftmals brotlosen Beruf ergriffen habe und welche Maxime meiner Theaterarbeit zugrunde liegen sollte. Ferner denke ich, dass „Über den Tag hinaus“ eine Pflichtlektüre für jeden Theaterkritiker, nicht nur in der sogenannten Provinz, sein sollte, denn auch die namhaften Schreiber, die in namhaften Druckwerken, über namhafte Aufführungen berichten, verschont Krippendorff nicht.

Carola v. Seckendorff

Carola v. Seckendorff ist seit 1996 Schauspielerin im Ensemble des Theater Münster. Gleichzeitig ist sie künstlerische Leiterin des freien Theaterlabels FreiFrau und des „24h Stadtensembles“, welches sich zur Aufgabe gesetzt hat Label- und Institutionsunabhängig in kollektiver, unhierarchischer Arbeitsweise in wechselnden Besetzungen, ständig wachsender Synergien und Kooperationen zu brennenden Fragen, nicht nur unserer Stadt, künstlerisch Stellung zu beziehen.