concert for anarchy

„Aufspielen statt Abschieben“

Erfahrungsbericht von der Lebenslaute-Konzertblockade im Juni 2013

| Winfrid Eisenberg

Lebenslaute-Aktion vor dem Bundesinnenministerium am 17.8.2013 in Berlin - Foto: Herbert Sauerwein

Lebenslaute ist ein buntes Netzwerk von Musiker*innen. Ihre Konzertblockaden richten sich gegen staatliche Strukturen wie Militär und Verfassungsschutz, gegen die Atom-, Rüstungs-, Gentechnik- und Kohleindustrie, gegen Kriegsvorbereitungen, Naturzerstörung und Rassismus. Anfang Januar 2020 erscheint im Verlag Graswurzelrevolution das von Lebenslaute herausgegebene Buch „Widerständige Musik an unmöglichen Orten. 33 Jahre Lebenslaute“ (25 Euro, ISBN 978-3-939045-39-7). Dieser Bild- und Dokumentationsband mit 180 fast durchgehend farbigen Fotos und zahlreichen Dokumenten ist sowohl ein Lesebuch als auch ein Bewegungs- und Geschichtsbuch. Als Vorabdruck bringen wir hier Winfrid Eisenbergs Erfahrungsbericht aus der Lebenslaute-Konzertblockade am 17. Juni 2013 vor dem Bundesinnenministerium Berlin (BMI), „Bühne“ 2, Bezugsgruppe „Ubuntu“. (GWR-Red.)

Die Lebenslaute-Aktion von 2013 in Berlin stand unter dem Motto „Aufspielen statt Abschieben – Music For Free Movement“ und war vor allem als Unterstützung der Proteste der Migrant*innen gedacht, die den Berliner Oranienplatz besetzt hielten.

Die vierzehn Mitglieder der Bezugsgruppe versammelten sich pünktlich um 5.35 Uhr an den Parkplätzen entlang der Straße Alt-Moabit in der Nähe des BMI, alle in feierlicher schwarz-weißer Konzertkleidung. Wir gingen ruhig, ja schlendernd und wie zufällig, durch eine kleine Allee, die parallel zum BMI verläuft, bis wir am Ufer der Spree ankamen. Da wir vereinbart hatten, dass alle Gruppen genau um 5.45 Uhr die vier Zugänge zum Ministerium blockieren sollten, hatten wir noch ein paar Minuten Zeit, um in die träge Strömung der Spree zu schauen und dabei innere Ruhe zu gewinnen.

Cover des Buches "Widerständige Musik an unmöglichen Orten"Das BMI ist in der östlichen Hälfte eines gewaltigen Gebäudes untergebracht, das die Form eines zur Spree hin offenen U hat. Im Ministerium haben neunhundert MitarbeiterInnen auf dreizehn Etagen ihre Arbeitsplätze. Der Abstand zwischen den beiden Teilen des U beträgt ungefähr fünfundzwanzig Meter; hier finden sich Grün- und Blumenanlagen, Wasserspiele und Wege.

Um 5.40 Uhr gingen wir gemächlich vom Spreeufer aus in das U hinein und gelangten schnell zur „„Bühne 2“, dem von uns zu blockierenden Zugang in der Mitte des rechten U-Anteils. Es handelt sich um eine ca. 2,50 m breite, nach außen aufgehende Glastür, vor der wir uns um Punkt 5.45 Uhr niederließen; vor den unmittelbar die Tür blockierenden SängerInnen arrangierte sich unser Instrumentalquartett, bestehend aus zwei Geigen, Bratsche und Fagott. Ohne Hektik packten die Musikerinnen ihre Instrumente, Notenständer und Hocker aus. Um 5 vor 6 saßen wir musizierend vor der Tür, die nun durch unser Transparent „Aufspielen statt Abschieben – Lebenslaute“ weitgehend verdeckt war. Bei den ersten Klängen versuchten uniformierte Beamte, die Tür von innen aufzudrücken, aber unsere Sitzblockade hielt. Jemand von uns rief durch den Türspalt hinein: „Diese Tür bleibt heute geschlossen.“ Fortan unterblieben die Versuche, die Tür mit Gewalt von innen zu öffnen.

Kaum hatten wir mit der Musik begonnen („Wie nun, ihr Herren, seid ihr stumm …“), als auch schon zwei uniformierte Herren, Polizeibeamte, schnellen Schritts auf uns zu eilten. Der eine blieb stumm, bemühte sich, unbeteiligt dreinzuschauen. Der andere war der Wortführer und rief wütend: „Um sechs Uhr ist diese Tür frei!“ Trotz aller anderslautenden Androhungen wurde Tür 2 nicht geräumt. So hatten wir Gelegenheit, von sechs bis zehn Uhr fast ununterbrochen zu musizieren. Um die Anliegen und Fragen der Polizei zu diskutieren und eine Konsensentscheidung zu finden, mussten wir unsere Musik nur für jeweils wenige Minuten unterbrechen. Zum Repertoire der Gruppe Ubuntu gehörten:

  • Choräle: Schütz: Wie nun, ihr Herren, …
  • Buxtehude: umgedichteter Choral „Wir heißen die willkommen, die Not hierher geführt, …“
  • Kanons: Wer glaubt, dass die Welt … / Sollt in Frieden leben … / Es klingen die Lieder, wir kommen bald wieder …
  • Afrikanische Lieder: Malaika, Mungu akipenda, Siyanibingelela
  • Brecht/Tübinger: Was ist der Mensch – ohne einen Pass

Dazu hatte unser Instrumental-Quartett viele hervorragend klingende Stücke parat. Wie wir später von anderen hörten, hatte unsere „Bühne“ eine unglaubliche Akustik, weil die Musik zwischen den beiden Hochhausfassaden des U hin und her reflektiert wurde und sich dabei verstärkte, so dass es klang, als ob da ein großes Orchester und ein starker Chor am Werk wären. Gegen 7.30 Uhr reduzierte sich unsere Gruppe um drei Mitglieder, die nach eingehendem Abwägen des Für und Wider dem Ruf folgten, mit anderen eine weitere Gruppe zu bilden, um einen fünften Zugang, von dem wir alle zuvor keine Kenntnis hatten, zu blockieren. Unser Instrumental-Quartett blieb aber bestehen, und im Chor waren weiterhin alle Stimmen vertreten.

Quelle: Youtube

Der anfangs schwierige Kontakt mit der Polizei entspannte sich allmählich. Wir hatten ab 9.30 Uhr durchblicken lassen, dass sich alle Gruppen ab zehn Uhr am BMI-Zugang vom Spreeufer her versammeln würden, um dann ab elf Uhr das Hauptkonzert mit Blockade der dort befindlichen Türen („Bühne 3“) zu beginnen. Stündlich erfuhren wir über die Telefonkonferenzen der SprecherInnen, was an den anderen Zugängen los war. An unserer „Bühne“ kamen zahlreiche Menschen vorbei, die wir mit unseren Handzetteln versorgten und in Gespräche verwickelten. Ein vornehm gekleideter Herr behauptete, er sei inhaltlich gar nicht weit von uns entfernt, aber so eine Blockade sei der falsche Weg. Damit würden wir unserem Anliegen nur schaden. Viele PassantInnen, auch solche, die eigentlich ins Ministerium hinein wollten, schienen nachdenklich zu werden. Mehrmals hielt jemand aus unserer Gruppe mit Hilfe einer „Flüstertüte“ aus dem Stegreif eine Ansprache an die Vorübergehenden, mit Informationen über Lebenslaute und über den Zweck unserer Musikblockade.

Ab 9.45 Uhr erschienen immer mehr MitarbeiterInnen des BMI, zumeist (stumme) Herren in grauen Anzügen und mit Aktenköfferchen, in unserer Nähe. Sie warteten auf Einlass und hatten bis dahin Gelegenheit, unseren Handzettel zu studieren; offenbar hatte man sie informiert, heute erst auf zehn Uhr zum Dienst zu erscheinen. Als wir um Punkt zehn die Tür freigaben und singend (Wie nun, Ihr Herren …) ein Spalier bildeten, mussten die inzwischen ungefähr zwanzig Damen und Herren durch eben dieses Spalier gehen, was sie mit gesenkten Köpfen und unter Vermeidung von Blickkontakt taten. Vielleicht kam unsere Botschaft bei dem einen oder der anderen an?

Wir verließen unseren liebgewonnenen Blockadeplatz um zehn Uhr und begaben uns an das offene Ende des U, wo das Abschlusskonzert stattfinden sollte. Wir alle fanden es erstaunlich und beglückend, wie so eine Bezugsgruppe in kurzer gemeinsamer Aktionszeit zusammenwachsen kann; wie jede und jeder seine Fähigkeiten einbringt, wie sich jede(r) auf jede(n) verlassen kann, wie alle sich im sozialen Verbund der Gruppe zunehmend sicher und wohl fühlten. Für die Polizisten, die an ein von Befehlen und Gehorchen geprägtes Berufsleben gewohnt sind, war es offenkundig neu und interessant, unsere Gruppen, in denen es keine Hierarchie gibt, und unsere Konsensfindung zu beobachten.

Gedächtnisprotokoll des Dialogs mit der Polizei

Ich war seitens der Ubuntu-Gruppe für den „Polizeikontakt“ vorgesehen, mir zur Seite stand der uns unterstützende Freund von ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung); das gab ein gutes Gefühl, und es war wechselweise immer ein Zeuge da. Ich bemühte mich, in meinem schwarzen Anzug aufrecht, mit Blickkontakt, freundlich auf die Beamten zuzugehen.

Polizeibeamter (PB): „Um 6 Uhr ist diese Tür frei! Geben Sie mir Ihren Ausweis!“

Lebenslaute (LL): Guten Tag! Ihre Fragen an diese Gruppe können Sie über uns stellen. Ich bin für den Polizeikontakt zuständig. Bei Lebenslaute ist es üblich, dass die Bezugsgruppen ihre Entscheidungen nach dem Konsensprinzip gemeinsam treffen. Ich möchte deshalb Ihren Wunsch, dass wir diese Tür um sechs Uhr freigeben sollten, jetzt der Gruppe vortragen. Wir bitten Sie, uns ein wenig Zeit einzuräumen, damit wir Ihr Anliegen ausdiskutieren können. In ungefähr zehn Minuten kann ich Ihnen dann unsere Entscheidung mitteilen. Zum Ausweis: Ich bin nur „Polizeikontaktperson“, aber kein „Rädelsführer“ oder für die Gruppe Verantwortlicher. Deshalb händige ich Ihnen meinen Pass jetzt nicht aus: Wenn man Ihrerseits diesen Zugang räumen will, müssen wir alle unsere Ausweise vorzeigen – das ist uns bekannt.

(Innerlich vor Wut brodelnd ging der Beamte stampfend ein paar Schritte davon und beriet sich mit seinem Kollegen. Nach zehn Minuten:)

PB: Nun? Es ist schon 5 nach 6, jetzt müssen Sie die Tür freigeben. Es ist ein Fluchtweg!

LL: Die Gruppe hat Ihren Wunsch eingehend diskutiert. Es wurde dann entschieden, dass wir weiterhin diese Tür blockieren wollen. Wegen Ihrer Information, dass es sich bei dieser Tür um einen Fluchtweg handelt, möchte ich erneut die ganze Gruppe einbeziehen, um einen Konsens zu ermöglichen.

PB: Beeilen Sie sich mit Ihren Diskussionen!

(nach zehn Minuten:)

PB: Kennen Sie die Konsequenzen Ihrer Blockade? Sie begehen Landfriedensbruch. Eine Hundertschaft Sondereinsatzkräfte ist schon unterwegs.

LL: Zuerst möchte ich Ihnen die Gruppenentscheidung zur Frage des Fluchtwegs mitteilen. Selbstverständlich würden wir die Tür sofort freigeben, wenn sie in einer Notsituation als Fluchtweg gebraucht wird, zum Beispiel wenn drinnen ein Feuer ausbricht. Auch für Notarzt und Feuerwehr würden wir den Weg sofort frei machen. Im Fall einer Notsituation könnten wir übrigens auch Erste Hilfe leisten, es gibt ÄrztInnen in unserer Gruppe. Zu Ihrer neuen Frage wegen der Konsequenzen und Ihrer Mitteilung über die anrückende Hundertschaft werde ich jetzt …

PB: … wieder die Gruppe fragen. Das kenne ich ja nun schon, es steht mir hier.

LL: Wir freuen uns, dass Ihnen der Modus unserer Entscheidungsfindungen nun schon klar geworden ist. Zu Konsequenzen und Hundertschaft werden Sie unsere Entscheidung in wenigen Minuten erfahren.

(nach fünf Minuten, in weniger aufgeregtem Ton:)

PB: Ich mache Ihnen einen guten Vorschlag. Hier auf dieser Rasenfläche, ungefähr zehn Meter von der Tür entfernt, können Sie Ihr Banner ausbreiten und dann, so viel Sie wollen, musizieren. Der Vorteil für Sie: Sie werden aus den Fenstern aller Stockwerke gesehen, Ihr Protest wäre viel effektiver. Auch der Minister, der dort oben seine Räume hat, würde Sie sehen.

LL: Gestatten Sie, dass wir zuerst auf Ihre noch nicht beantworteten Fragen und Informationen zurückkommen. Die Konsequenzen unseres Tuns sind uns klar. Wir haben uns gut auf diese Aktion vorbereitet. Es gibt auch JuristInnen in unseren Reihen. Allerdings sind wir nicht der Meinung, dass wir uns des Landfriedensbruchs schuldig machen. Wir verhalten uns absolut gewaltfrei und würden auch keinen Widerstand leisten, wenn man uns wegtragen wollte. Was wir hier machen, ist allenfalls eine Ordnungswidrigkeit. Die anrückende Hundertschaft veranlasst uns nicht, diesen Zugang freizugeben. Ihren sehr bedenkenswerten Vorschlag, hier in der Mitte des U zu musizieren, möchte ich jetzt der Gruppe unterbreiten.

(Er ergab sich mehr und mehr in sein Schicksal; aber „Bezugsgruppen“ und „Konsensfindung“ werden ihm vermutlich Alpträume bescheren. Nach zehn Minuten:)

LL: Die Gruppe dankt Ihnen für den konstruktiven Vorschlag, hat aber dann entschieden, doch vor dieser Tür bleiben zu wollen. Zum Minister: Ist Herr Friedrich denn jetzt schon dort oben in seinem Zimmer?

PB: Nein, um halb sieben ist er natürlich noch nicht da. Er wird auch heute überhaupt nicht kommen.

LL: Ach so, dann könnte er ja auch nicht aus seinem Fenster unser Transparent sehen, wenn wir es dort auf dem Rasen ausbreiten würden. Schade. Wir würden Ihnen gern noch etwas mehr über Lebenslaute erzählen. Im vorigen Jahr haben wir die Waffenfabrik Heckler und Koch in Oberndorf blockiert. Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Produktion todbringender Handfeuerwaffen und den Handel damit für ein großes Unrecht halten. Ihre Dienstwaffe hier, ist die auch von HK?

PB: Ja, und diese Pistole ist gut. Die Ausrüstung für Polizei und Bundeswehr im eigenen Land zu produzieren, das ist doch wichtig. Außerdem gibt’s da viele Arbeitsplätze.

Nun entspann sich ein längeres Gespräch über Rüstungskonversion, über die Frage, ob der Endverbleib exportierter Waffen kontrolliert werden kann etc. Unsere aktuelle Blockadesituation trat vorübergehend in den Hintergrund.

PB: Eins muss ich Ihnen ja lassen: Ihre Organisation ist gut. Sie haben da vorn ja sogar ein Toilettenhäuschen aufgestellt … Chapeau!

LL: Ja, das ist doch klar; wir wollen doch hier nicht in die Büsche gehen und die Umgebung des Ministeriums verschmutzen. Lebenslaute weiß, was sich gehört.

Wir konnten beobachten, dass ab und zu anders uniformierte „Ordnungskräfte“ auftauchten und mit „unseren“ Polizisten heftig diskutierten. Erst später erfuhren wir, dass zwischen der Berliner und der Bundespolizei lange Zeit unklar war, wer für unsere Aktion eigentlich zuständig sei. Schließlich hat sich die Bundespolizei durchgesetzt; das war für uns positiv, weil die Bundespolizei ein deeskalierendes Verhalten bevorzugte.

Winfrid Eisenberg

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.