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„Ihr Mächtigen seht ungerührt auf eure Sklaven“

Buchbesprechung: Widerständige Musik an unmöglichen Orten

| Heidi Artich  

Lebens-Laute - wer wollte es nicht bemerken, welch feine und wohlklingende Mehrfachbedeutungen hier schlummern, der Vielfalt des Lebens gemäß: Lauter wollen wir werden – und auch hier schon wieder mindestens eine Doppelbedeutung, und so ließe sich trefflich weiter fabulieren…

Mit dem Buch „Lebenslaute. Widerständige Musik an unmöglichen Orten“ des Verlages Graswurzelrevolution ist den Autoren unter der Redaktion von Gerd Büntzly, Hedwig Sauer-Gürth, Katja Tempel, Andreas Will und Sabine Will ein fast enzyklopädisches Lebenswerk gelungen, das nicht nur eine Mahnung zur Bewahrung und weiteren Gestaltung demokratischer Verhältnisse darstellt, die heute, in einer Zeit gewalttätiger Ausbrüche und Hetze gegen alle die, die sich der Demokratie verpflichtet fühlen, in Gefahr geraten sind. Ebenso stellt Lebenslaute hier ein lebendiges Zeugnis jüngerer deutscher Geschichte vor sowie viele Hintergründe und Ereignisse, die lohnten, auf Titelseiten zu erscheinen, um dem noch immer zaudernden und furchtsamen Mitmenschen Erhellendes und Aufrüttelndes an die Hand zu geben, um junge Menschen zu begeistern und zu aktivieren, um Klischees und Schubladendenken aufzubrechen und gleichzeitig die Freuden und Leiden basisdemokratischer Ansprüche zu leben.

Das Buch verbindet in historischer Reihenfolge, beginnend im Jahr 1986 und endend im Jahr 2018, politischen Protest mit musikalisch-künstlerischer Aktion an brisanten Orten, die dem Klassik-Normalverbraucher wohl eher suspekt, wenn nicht unerhört erscheinen.

Vom Raketendepot Mutlangen über das atomare Gorleben, das Waffenwerk Oberndorf, das Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt bis in den Hambacher Forst: Musizieren, wo es brennt!

Besonders interessant sind die persönlichen Beiträge einzelner Beteiligter, die einen Einblick in das mit großem Engagement und keineswegs immer ohne Zweifel betriebene Einbringen des ganzen Ichs verdeutlichen. Alles wird von unten organisiert, alles lebt vom Mitmachen, Organisieren, Streiten, Suchen, Finden, von Gewinn und Verlust, von Lachen und Weinen, von unaussprechlich intensivem Arbeiten und dem künstlerisch hohen Anspruch unter oft nervenaufreibenden Bedingungen. Chapeau!

Und das Beste ist, wenigstens aus der Sicht geplagter feingeistiger Lehrpersonen, der immense Bildungsfaktor, der dem Lebenslaute-Buch innewohnt: Bachs Bauernkantate als wahrhaftige Begleitmusik für die Befreiung des Ackers, seine Brandenburgischen Konzerte für eine endlich friedliche Nutzung der Wittstocker Heide, denn „Waffenhandwerk schafft nur Unheil“ (Georg Friedrich Händel) oder auch Theodorakis‘ Liturgie, den in Kriegen getöteten Kindern gewidmet, die immer wieder von derartiger Brisanz ist, dass einem der Atem stockt. All diese Meisterwerke werden hier in Zusammenhänge gestellt, die Lehrbuchweisheiten kritisch befragen und die die Musik aus den Hochkulturhimmeln zu den Menschen befördern – mit Leidenschaft und großartiger Qualität präsentiert. Auch die Lieder, Texte, Neudichtungen; die Mischung von Stilen und die immer wieder auftauchende Hommage an das länderübergreifende Element der Musik bewahren die Inhalte vor verstaubten Auffassungen und dem lebensfremden Umgang mit ihnen: Töne und Klänge statt Grenzen und Zwänge – wie wahr!

Sicherlich wird es selbst musikalisch-künstlerisch „Eingeweihte“ (oder gerade jene?) nicht in jedem Falle vergnüglich stimmen, dass diese schöne, zumeist klassische Musik an so unerfreulichen, gar hässlichen Orten aufgespielt wird Diesen „Tabubruch“ will nicht jeder mitmachen. Nun, auch das bleibt dem demokratischen Diskurs anheimgestellt, denn die Gedanken sind frei, und mir scheint, dass heftig Widersprüchliches gegen den allgemein lethargischen Zeitgeist umso notwendiger ist: „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ – der so oft als schönste Arie der Musikgeschichte gepriesene Wutausbruch der Königin der Nacht, der so ambivalent-elegant daherkommt, führt diesen Geist des Hinter-die-Fassade-Sehen–Müssens grandios vor. Es wird noch vieler Lieder, Tänze, Konzerte und mutiger Menschen bedürfen, die längst erkannt haben, o, welche Lust es ist, in freier Luft den Atem einzuheben…

Auf jeden Fall bringen die Lebenslaute-Aktionen in diesem Buch vielerlei Themen und Künste zusammen: Musikalisch-Literarisches, Malerisch-Zeichnerisches, kulinarisch Vielfältiges, organisatorisch Herausforderndes, gesellschaftlich Relevantes sowie menschlich Bewegendes: Aufspielen statt aufrüsten! Machet die Tore weit – music for free movement! Andante an der Kante!

Mögen dem Buch der widerständischen Musik viele Leser, Hörer und weitere Mitstreiter beschieden sein; mögen Menschen sich ihrer Kraft und ihres Selbst bewusst werden, denn „Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind“ (Heinrich Mann) – auch an unmöglichen Orten…

Titel: Mozart: Arie des Allazim aus „Zaïde“, KV 344

 

Lebenslaute (Hg.): Widerständige Musik an unmöglichen Orten. 33 Jahre Lebenslaute, Verlag Graswurzelrevolution 2019, 249 S., 180 fast durchgängig farbige Fotos und zahlreiche Dokumente, mit DVD, 25,00 Euro, ISBN 978-3-939045-39-7

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.