Aktionszeitung A-Feminismus

Warum feministisch streiten?

| Koschka Linkerhand

Seit Oktober 2019 wird Chile von sozialen Revolten und ihrer brutalen Unterdrückung durch die Staatsmacht erschüttert. Während Polizei und Militär DemonstrantInnen mit Gummigeschossen und ätzender Flüssigkeit aus Wasserwerfern malträtieren und zahllose Menschen inhaftieren, foltern, vergewaltigen und ermorden, wird explizit feministischer Protest laut. Eine Performance der Gruppe Las Tesis, bekanntgeworden unter dem Schlagwort #UnVioladorEnTuCamino („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“), prangert die patriarchale Gewalt des Staates wie auch in der Familie an.

Wie können wir uns gegenüber diesen Ereignissen verhalten, die sich buchstäblich auf der anderen Seite der Welt ereignen? Allzu oft erschöpft sich die Solidarität in Betroffenheit, dem Gefühl der eigenen Ohnmacht und passiver Ehrfurcht vor der Courage solcher Feministinnen – als wäre ihre Sache zu weit entfernt, als dass man sich in Europa oder in Deutschland produktiv damit auseinandersetzen könnte.

Im Fall der Performance von Las Tesis aber ist es geglückt, dass sie von Feministinnen an vielen Orten aufgenommen und reinszeniert wurde: in New York, Rom, Istanbul, in vielen deutschen Städten. Ganz offensichtlich geht es um die gesellschaftliche Situation von Frauen: um sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Femizide und eine Rechtsprechung, die männliche Täter schützt.

 

Formen der feministischen Kollektivierung suchen

Diese Formen von Gewalt gegen Frauen kennzeichnen das Geschlechterverhältnis im globalen kapitalistischen Patriarchat. Sie betreffen alle Menschen, die als Frauen vergesellschaftet werden, aber auch Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuelle sowie Männer, die als unmännlich gelten.

Die argentinisch-brasilianische Feministin Rita Segato, auf die sich die Gruppe Las Tesis bezieht, spricht von der Herrschaft des weißen Mannes, dem alle anderen sich angleichen müssen, wenn sie nicht mehr das bloße Objekt seiner Ausbeutung sein wollen. In ähnlicher Form wird diese Analyse von vielen westlichen Feministinnen geteilt. Segato betont besonders das verheerende Erbe des Kolonialismus, das die jetzige frauenfeindliche Diskriminierung in Lateinamerika hervorgebracht habe. Sie plädiert nicht dafür, zu einem vorkolonialen Zustand zurückzufinden, sondern im Hier und Jetzt Formen der femi-
nistischen Kollektivierung zu suchen, die der Gewalt des rassistischen und sexistischen Staates sowie der Ehemänner und Väter entgegentreten könnte.

 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede diskutieren

Segatos Fokus ist ein guter Punkt, nicht nur über die globale Frauenunterdrückung nachzudenken, sondern auch darüber, worin sich die Situation der Chileninnen von der in Deutschland unterscheidet. Neben der Kolonialgeschichte könnte das eine offener machistische Gesellschaft sein, in der sich patriarchale Unterdrückung unverhüllter zeigt – während sich hierzulande hartnäckig die Illusion der längst erreichten Gleichberechtigung hält. Damit wird zusammenhängen, dass der feministische Protest in Chile, auch aufgrund der Erfahrungen mit der Pinochet-Diktatur, eine stärker generationenübergreifende Tradition hat und von den Kämpfen indigener Frauen beeinflusst ist.

Feministisch streiten bedeutet, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der gesellschaftlichen Situation von Frauen herauszufinden – auch in der Schnittmenge zu Queers und rassistisch Verfolgten. Darüber können wir eine gemeinsame theoretische Basis erarbeiten, von der aus eine taugliche feministische Praxis diskutiert werden kann. Ein Teil davon ist die kritische Aneignung von Aktionsformen, die andere Feministinnen auf die Beine gestellt haben.

Die Gruppe Las Tesis wünscht sich, dass ihre Performance übersetzt und mit Forderungen gefüllt wird, die den jeweiligen Akteurinnen vor Ort sinnvoll erscheinen. Zu einer solchen Auseinandersetzung gehört vielleicht auch die Frage: Inwieweit ist es bloße Symbolpolitik, die Performance auf einem deutschen Marktplatz aufzuführen – ein gefälliges Spektakel, das unsereine kaum etwas kostet? Gibt es möglicherweise geeignetere Formen, die feministischen Proteste in Chile zu unterstützen?

 

Streitpunkte der feministischen Theoriebildung

Feministisch streiten bedeutet, die eigene Position zu schärfen und klar zu vertreten, im Vertrauen auf ein gemeinsames Nachdenken, das verschiedene Perspektiven miteinander verbindet: über feministische Theoriebildung. Dass mitunter eigene Schlüsse durch die Erfahrungen anderer Feministinnen in Frage gestellt werden, mag zu Aggressionen und Verletzungen führen. Statt hier in undiskutierbaren identitätspolitischen Setzungen zu verharren, gilt es zu fragen, wie solche Kränkungen mit dem gesellschaftlichen Frausein zusammenhängen, und nach Wegen zu suchen, dennoch miteinander politisch zu arbeiten. Es gilt, innerfeministische Differenzen nicht glattzubügeln oder vor der Komplexität der Verhältnisse zu kapitulieren, sondern einander im produktiven feministischen Streit ernst zu nehmen – im Interesse einer möglichst umfassenden und welthaltigen Kritik des kapitalistischen Patriarchats.

Die Stärke und Überzeugungskraft der feministischen Bewegung hängen entscheidend von unserer Fähigkeit ab, miteinander zu streiten. Ich denke, alle Feministinnen teilen das Ziel, uns vom patriarchalen und kapitalistischen Geschlechterverhältnis zu befreien. Wie genau diese Befreiung aber aussehen soll, wie sie erreicht werden kann, welche Formen des Protests und welche theoretischen Annahmen sich als zielführend erweisen: All das sind offene Streitpunkte, die sich nicht automatisch aus einem gemeinsamen Wollen klären. Rita Segato schreibt: „Die Unvorhersehbarkeit der Geschichte ist die einzige geltende Utopie der Gegenwart.“

Koschka Linkerhand ist Redaktionsmitglied der outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik, Autorin des Romans Die Irrfahrten der Anne Bonnie und Herausgeberin des Sammelbands Feministisch streiten.