Belarus

Das Ende des alten weißrussischen Mannes?

Der Aufstand gegen Lukaschenko

| Mathias Schmidt

Protest Demo gegen Lukashenko, 16 August. Minsk, Belarus - Foto: Homoatrox / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)

Die belarussische Bevölkerung hat genug. Seit 1994 regiert Alexander Lukaschenko das Land mit harter Hand. Jetzt regt sich beträchtlicher Widerstand.

Mit seinem russischen Amtskollegen Putin teilt er die Einschätzung, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei. Doch während Putin seine Amtszeit auf ewig verlängert, dreht Lukaschenko die Zeit vollständig zurück. Er zermalmte die zarten Sprossen der Demokratie und re-sowjetisierte Belarus – natürlich mit ihm an der Spitze. Für junge Menschen ist Lukaschenko eine aus der Zeit gefallene Witzfigur. Er taugt ihnen als anachronistisches sowjetisches Meme, nicht als Autoritätsperson. Eine offene oppositionelle Haltung in Belarus war bisher mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden. Die Repressionen des Staates sind hart, die Macht Lukaschenkos begründet sich auf der Kontrolle und Bevorzugung von Geheimdienst, Militär und Polizei.

Eine Wahl mit Folgen

Laut offiziellem Wahlergebnis haben 80% der Wähler*innen für Lukaschenko gestimmt. Dass die Wahl eine Farce ist, war vielen Wähler*innen von Anfang an klar. So wunderten sich nur wenige Menschen über die heimlich gefilmten Videos, in denen zu sehen ist, wie Stimmzettel aus den Wahlbüros entsorgt wurden. Da es in Belarus keine offiziellen Umfragen gibt, behalf sich die Zivilgesellschaft mit einer – vermutlich nicht ganz repräsentativen – Online-Umfrage, nach der lediglich drei Prozent der Bevölkerung tatsächlich hinter dem Regime stehen. Die dreiste und selbstgerechte Inszenierung des Regimes, die aufgestaute Wut über Korruption, Wirtschaftskrise und schlechtes Corona-Krisenmanagement brachte nach den Wahlen Tag für Tag mehr Menschen zu Demonstrationen auf die Straßen.

Die Antwort der Staatsgewalt war brutal: Tausende wurden verhaftet, sogenannte „Sicherheitskräfte“ schossen mit scharfer Munition in die Menschenmenge, in den Gefängnissen wurden Oppositionelle misshandelt und gefoltert. Das Internet wurde gesperrt, um Proteste zu erschweren. Seitdem koordiniert sich die Opposition über Messengerdienste und Social Media.Einige Tage schien der Machtapparat die Oberhand zu behalten. Mit dem Streik der Arbeiter*innen in staatlichen Unternehmen wendete sich jedoch das Blatt.

Große Teile der Belegschaften kündigten auf betrieblichen Versammlungen ihren regimetreuen Managern den Gehorsam. Immer mehr Menschen strömten zu direkten, gewaltfreien Aktionen auf die Straßen: Hupende Autokorsos, bewusst langsames Autofahren, Menschenketten mit Blumen an den Hauptstraßen, massenhafte Besuche von Angehörigen in den Gefängnissen, sowie lautes Singen in öffentlichen Verkehrsmitteln sind beliebte Aktionsformen. Vergangenes Wochenende zogen abertausende Menschen auf den Unabhängigkeitsplatz in Minsk und forderten Lukaschenko zum Rücktritt auf. Es könnte die größte Demonstration der Geschichte des Landes gewesen sein.

„Nationale Befreiung“ oder Demokratiebewegung?

Gewiss ist eine Demokratisierung dieser „letzten Diktatur Europas“ wünschenswert. In der Ablehnung Lukaschenkos ist sich die Mehrheit einig. Doch was möchte sie stattdessen? Einige Leute befürworten eine nicht näher definierte „direkte Demokratie“, andere wünschen sich ein parlamentarisches Stellvertretersystem, wieder andere könnten sich mit Reformen im bestehenden System zufrieden geben.

Auf den Bildern und Videos, die über den Messenger „Telegram“ gesendet werden, sieht man auf den oppositionellen Demonstrationen vor allem weiß-rot-weiße Fahnen. Diese Symbolik knüpft an die kurzlebige und erstmals unabhängige „Weißrussische Volksrepublik“ von 1918 an. Zuletzt wurde diese Fahne der „Republik Belarus“ von 1991 bis 1995 verwendet, bevor Lukaschenko sowjetische Symboliken wieder einführte. Ob die Verwendung dieser Fahne ein Bekenntnis zur Demokratie oder zur Nation ist, lässt sich schwer bestimmen. Die Idee der Nation als Schicksalsgemeinschaft und die Vorstellung, dass es ja nicht schlimmer werden könne, als es schon ist, scheint das verbindende Element der Protestierenden zu sein. In der Rhetorik des Protestes wird das Regime gelegentlich als Besatzermacht bezeichnet, von denen eine nationale Unabhängigkeit zu erstreiten sei.

Bei diesen inneren belarussichen Angelegenheiten steht Russland als Elefant im Raum. Seit dem Zerfall der Sowjetunion beobachtet der Kreml sehr genau, was in seinen ehemaligen Kolonien geschieht. Belarus war zeitweise ein geschätzter, nun ein eher geduldeter Partner Russlands. Im Falle des Sturzes von Lukaschenko werden die zwischenstaatlichen Beziehungen neu definiert. Ein zweiter Donbass-Konflikt wäre möglich, zumal bereits im Vorfeld der Wahlen Söldner des russischen Militärunternehmens „Gruppe Wagner“ in Belarus entdeckt wurden. Innerhalb Russlands gibt es Stimmen, die fordern, dass man im Nachbarland doch für Ordnung sorgen müsse. Laut der russischen oppositionellen Internetzeitung „Meduza“ seien bereits russische Militärkonvois ohne Hoheitsabzeichen in Belarus eingetroffen. Die Situation in Belarus kann sich täglich neu entscheiden. Egal wie es ausgeht: Die überwältigende Menge an Protestierenden zeigt, dass die Zivilgesellschaft stärker ist als der Staat – wenn und solange sie sich organisiert.

Von Seiten der weißrussischen Opposition hat uns folgender Spendenaufruf erreicht, den wir hier gerne verlinken.

Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion. Schnupperabos der monatlichen Printausgabe zum Kennenlernen gibt es hier