„Frieden als Tat“

Vom christlichen Pastor zum anarchistischen Antimilitaristen: das bewegte Leben von Bart de Ligt

| Thomas Tews

Am 3. September jährte sich zum 82. Mal der Todestag des niederländischen Antimilitaristen Bart de Ligt (1883–1938), einem der maßgeblichen Köpfe der internationalen antimilitaristischen Bewegung der 1920er und 1930er Jahre.

De Ligt wurde als Sohn eines calvinistischen Pastors am 17. Juli 1883 in Schalkwijk in den Niederlanden geboren und streng calvinistisch erzogen. 1903 begann er ein Studium der Theologie an der Universität Utrecht. Dort wurde sein Interesse an pazifistischen Fragen geweckt und er veröffentlichte 1904 seinen ersten Artikel über Kriegsdienstverweigerung in einer Studierendenzeitung. Nach seinem Studium war de Ligt von 1910 bis 1915 als Pastor in dem kleinen Ort Nuenen tätig. Im Jahr seines Stellenantrittes trat er in den seit 1907 bestehenden „Bond van Christen-Socialisten“/BvCS (Bund der Christen-Sozialisten) ein.

Zwei Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfassten de Ligt und seine politischen Freunde im BvCS Année R. de Jong und Truus Kruyt-Hogerzeil ein Manifest mit dem Titel „De Schuld der Kerken“ (Die Schuld der Kirchen), in dem sie die Kirchen ob ihres Schweigens vor der Kriegsgefahr anklagten: „Es konnte nicht anders kommen. Wir haben das selbst über unser Haupt gebracht. Und es sind vor allem die Gläubigen, vor allem die Kirchen, und besonders diejenigen, die die Leitung haben in den Kirchen, der Papst, die Kardinäle, die Bischöfe, die Geistlichen überhaupt, die Predikanten, die Vorsteher der christlichen Gemeinden, auf denen die Schuld ruht, dass sich jetzt die rote Verdammnis, blutvergießend, blitzend und brennend über Europa beginnt zu vollziehen.“ (1) Das Manifest wurde an alle niederländischen Predikanten (Pastoren) verschickt, bis es von der militärischen Führung in Eindhoven beschlagnahmt wurde.

Wegen seiner antimilitaristischen Predigten und seines Engagements im BvCS wurde de Ligt im Juni 1915 auf Anordnung der Militärbehörde aus den Provinzen Noord-Brabant, Limburg und Zeeland verbannt, was für ihn das Ende seiner Anstellung als Pastor bedeutete. Er kehrte zurück nach Utrecht und widmete sich fortan ganz der antimilitaristischen Arbeit im BvCS. Im Mai 1915 gab sich der BvCS, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht nur als organisatorischer Zusammenschluss, sondern als politische Partei verstand (weshalb er in einem Wahlbündnis zu den Wahlen 1918 antrat), ein neues Grundsatzprogramm, dessen Ausarbeitung vor allem de Ligts Verdienst war. Gemäß diesem neuen Grundsatzprogramm war der BvCS die erste Partei, die für sofortige, absolute und einseitige Abrüstung eintrat. Im Sommer 1915 verfasste der BvCS ein „Dienstverweigerungsmanifest“, das an das Gewissen jedes Einzelnen appellierte und zur Verweigerung des Militärdienstes aufrief: „Wir erklären öffentlich, dass wir uns mit ganzer Seele gegen alles kehren, was zum Militarismus gehört, auch gegen ein sogenanntes Volksheer. Sofern man uns je als zu einer bewaffneten Landesverteidigung verpflichtet ansehen sollte, hoffen wir die Kraft zu besitzen, um jede unmittelbar persönliche Teilnahme zu verweigern, die Kraft, uns lieber der Gefängnisstrafe zu unterziehen, ja selbst erschießen zu lassen, als an unserem Gewissen, unserer Überzeugung oder an dem, was wir als das höchste Gesetz allgemeiner Menschlichkeit anerkannt haben, Verrat zu üben… Die persönliche Dienstverweigerung hat großen sittlichen Wert und trägt dazu bei, dass wir zu einer Dienstverweigerung der Massen gelangen.“ (2)

Dieses Manifest erlangte große Verbreitung und wurde ideologieübergreifend von linken Sozialdemokraten, antimilitaristischen Anarchisten, Tolstoijanern und Neomarxisten unterstützt. Auch Ferdinand Domela Nieuwenhuis, der 1904 die „Internationale Anti-Militaristische Vereeniging“ (IAMV / Internationale Anti-Militaristische Vereinigung) gegründet hatte, zählte zu den Unterzeichnern.

Anarchistischer Antimilitarismus

Aus Enttäuschung über die offizielle Kirche trat de Ligt 1916 aus der Kirche aus. In den darauffolgenden Jahren entwickelte er das Konzept einer aktiven gewaltlosen Kampfesweise, für die er den Begriff der „geistigen Streitbarkeit“ prägte. Der Begriff sollte deutlich machen, dass gewaltloser Kampf nichts mit Passivität oder mangelnder Auseinandersetzungsbereitschaft zu tun habe, und so einen Weg aus dem scheinbaren Dilemma von Wehrlosigkeit oder Gewalt in den Konzeptionen revolutionärer Umgestaltung weisen. Als später Mahatma Gandhi den Begriff der „soulforce“ prägte, sah de Ligt darin ein analoges Verständnis zu seiner „geistigen Streitbarkeit“.

Durch die gemeinsame antimilitaristische Arbeit mit politisch Andersdenkenden, Neomarxisten und Anarchisten gerieten de Ligts bisherige Grundüberzeugungen, vor allem sein christliches Grundverständnis, ins Wanken. Als Konsequenz trat er 1919 aus dem BvCS aus und gründete zusammen mit der Anarchosyndikalistin und Pazifistin Clara Wichmann im selben Jahr den „Bond von Revolutionnair Socialistische Intellectueelen“ (Bund Revolutionär-Sozialistischer Intellektueller), der allerdings nur ein Jahr lang existieren sollte. In der Folgezeit arbeitete de Ligt gemeinsam mit Wichmann weiter an seiner Theorie der Gewaltlosigkeit und der „geistigen Streitbarkeit“. Dabei ging es ihm darum, aufzuzeigen, dass niemals durch Gewalt, sondern nur durch Gewaltlosigkeit eine höhere Stufe der menschlichen Entwicklung erreicht werden könne. Die Ablehnung dogmatischer Wahrheiten und autoritärer Strukturen brachten de Ligt dem Anarchismus nahe, wobei ihn insbesondere Schriften von Michail Bakunin, Gustav Landauer und John Ruskin beeinflussten.

1921 zählte de Ligt zu den wichtigsten Initiatoren der Gründung des „Internationaal Anti-Militaristisch Bureau“/IAMB (Internationales Anti-Militaristisches Büro) als Nachfolgeorganisation der IAMV. In seinen Publikationen der Jahre 1921 und 1922 verteidigte de Ligt die seines Erachtens notwendige Gewaltlosigkeit im politischen und revolutionären Prozess. Seine immer deutlicher werdende anarchistisch-antimilitaristische Orientierung zeigte sich in einer von ihm verfassten Einleitung zu dem 1923 in Rotterdam erschienenen Buch von J. Giesen „Nieuwe geschiedenis. Het antimilitarisme van de daad in Nederland“ (Der Neuanfang der Geschichte. Der Antimilitarismus der Tat in den Niederlanden). Darin vertrat de Ligt die These, dass der Krieg in der Gegenwart fortschrittshemmend geworden sei, denn „eins hat die Erfahrung von 1914 ein für alle Mal gezeigt: dass das Weltleben wirtschaftlich so eins geworden ist, dass sein Auseinanderreißen durch Krieg weltlebensgefährlich ist.“ (3)

Im Jahr 1923 erschien de Ligts Schrift „Directe actie“ (Direkte Aktion), in der er als einer der Ersten den Begriff der direkten Aktion, der in den 1920er Jahren im Zentrum der anarchistischen Theoriediskussionen stand, mit dem Begriff der Gewaltlosigkeit identifizierte, wobei ihm zufolge eine solche direkte Aktion beispielsweise in der Kriegsdienstverweigerung bestehen konnte.

1925 verließ de Ligt die Niederlande und zog mit einer Familie in die Schweiz, in die Nähe von Genf, wo er begann, sich längerfristigen wissenschaftlichen und historischen Arbeiten zu widmen. Dabei war sein Hauptanliegen die Erarbeitung der historischen Grundlagen, Voraussetzungen und Methoden der neuen gewaltlosen Kampfesweise der direkten Aktion. Ein Ergebnis war ein zweibändiges Werk, das zuerst 1931/1933 unter dem Titel „Vrede als daad“ (Frieden als Tat) erschien und dessen Ziel die „geschichtliche und systematische Zusammenfassung der Erscheinungen direkter Aktionen gegen den Krieg“ (4) war.

Internationaler Antimilitarismus

De Ligt wandte sich ab dem Jahr 1928 verstärkt internationalen Fragen des Antimilitarismus zu, knüpfte viele Kontakte und vertrat seine politischen Ansichten und die des IAMB auf zahlreichen internationalen Kongressen, vor allem der „War Resisters’ International“ (WRI / Internationale der Kriegsdienstgegner/-innen), die zu einem wichtigen Sammelbecken antimilitaristischer Organisationen geworden war. So machte sich de Ligt in den Jahren zwischen 1928 und 1934 in der internationalen antimilitaristischen Szene einen Namen. Im Juli 1934 präsentierte de Ligt auf der WRI-Konferenz in Welwyn in England seinen „Plan of campaign against all war and all preparation for war“ (Mobilisierungsplan gegen jeden Krieg und jede Kriegsvorbereitungen), der unter anderem direkte Aktionen in Form von Sachbeschädigung zur Störung der Rüstungsproduktion vorsah. Der Plan wurde zwar nicht verabschiedet, aber als Diskussionspapier an die nationalen Organisationen verwiesen.

Zu de Ligts internationalem Engagement zählte auch ein offener Briefwechsel mit Gandhi, in dem er Gandhi vorwarf, dass er entgegen seines eigenen Gewaltlosigkeitsprinzips einerseits im Ersten Weltkrieg im Rote-Kreuz-Korps auf Seiten der Engländer mitgekämpft und auch indische Freiwillige zur Beteiligung am Krieg aufgerufen habe und andererseits sich nun nicht genug von der Forderung der Indischen Kongresspartei nach eigener nationaler Bewaffnung abgrenze. Gandhi antworte in drei Briefen, in denen er seine Haltung mit der besonderen Situation Indiens als abhängiges Land rechtfertigte. Erst später grenzte sich Gandhi deutlicher vom indischen Nationalismus ab.

Bis zuletzt hielt de Ligt an seinem Konzept prinzipieller Gewaltlosigkeit fest, so in seinem 1937 in London erschienenen Buch „The Conquest of Violence“ (Der Sieg über die Gewalt), in dem er die Hypothese „The more violence, the less revolution; the more revolution, the less violence“ (5) (Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution; je mehr Revolution, desto weniger Gewalt) vertrat.

De Ligts letzte Handlung war die Gründung der Friedensakademie in Paris, die von vielen bekannten Persönlichkeiten, zu denen er im Laufe seines Lebens Kontakt aufgenommen hatte, wie Albert Einstein und Bertrand Russell, unterstützt wurde. Im August 1938 fand die erste Sommerschule der Friedensakademie statt, zu der de Ligt einen Einführungsvortrag über sein Konzept einer Friedenswissenschaft geschrieben hatte, aber aufgrund einer Erkrankung nicht mehr an ihr teilnehmen konnte. Wenig später, am 3. September 1938, ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, starb de Ligt in Nantes in Frankreich.

(1) Zitiert nach: Nikola Bock: Pazifismus zwischen Anpassung und „freier Ordnung“. Friedensdiskussionen in der Weimarer Republik und die Gewaltfreiheitstheorie des holländischen Pazifisten Bart de Ligt (1883–1938). Bormann und von Bockel Verlag, Hamburg 1991, S. 44 f.

(2) Zitiert nach: Bart de Ligt: Kriegsbekämpfer in den Niederlanden, in: Franz Kobler (Hrsg.): Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus. Rotapfel-Verlag, Zürich und Leipzig 1928, S. 198–214, hier: S. 208 f.

(3) Zitiert nach: Bock 1991 (s. Anm. 1), S. 65.

(4) Zitiert nach: Gernot Jochheim: Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung. Zur Entwicklung der Gewaltfreiheitstheorie in der europäischen antimilitaristischen und sozialistischen Bewegung 1890–1940, unter besonderer Berücksichtigung der Niederlande. Haag und Herchen Verlag, Frankfurt/Main 1977, S. 283.

(5) Zitiert nach: Bock 1991 (s. Anm. 1), S. 61.