Die Geschichte des Nationalsozialismus neu schreiben?

| Elisabeth Voß

Lerke Gravenhorst, Ingegerd Schäuble, Hanne Kircher, Jürgen Müller-Hohagen, Karin Schreifeldt: Fatale Männlichkeiten – Kollusive Weiblichkeiten. Zur Furorwelt des Münchner Hitler. Folgen über Generationen. Marta Press, Hamburg, 2020, 324 Seiten, 42 Euro, ISBN 978-3-944442-51-8

Die Autor*innen Lerke Gravenhorst, Ingegerd Schäuble, Hanne Kircher, Jürgen Müller-Hohagen und Karin Schreifeldt haben für ihr Buch „Fatale Männlichkeiten – Kollusive Weiblichkeiten. Zur Furorwelt des Münchner Hitler. Folgen über Generationen“ sieben Jahre lang daran gearbeitet zu verstehen, wie es zum „gigantischen Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus“ kommen konnte. Jede*r von ihnen hatte sich vorher bereits über viele Jahre mit dieser Frage beschäftigt, Schäuble und Gravenhorst als Wissenschaftlerinnen, Schreifeldt und Müller-Hohagen als Psychotherapeut*innen und Kircher als Künstlerin.
In der einleitenden „Einladung an die Lesenden“ erläutern sie ihre Arbeitsweise und Fragestellung. Von der Schwere ihres Themas ließen sie sich persönlich erschüttern und verstanden diese persönliche Betroffenheit als Teil ihres gemeinsamen Erkenntnisprozesses. Sie gaben sich die Bezeichnung „Resonanzgruppe“, um die besondere Qualität ihrer Zusammenarbeit zu beschreiben: „Zwischen uns war eine verlässliche große Übereinstimmung gewachsen, eine Übereinstimmung im Persönlichen wie im Fachlichen, oder um es mit dem uruguayischen und von der dortigen Militärdiktatur verfolgten Psychoanalytiker Marcelo Viñar zu sagen: ‚en la intimidad del trabajo y amistad‘ – ‚in der Verbundenheit von Arbeit und Freundschaft‘.“
Diese Herangehensweise hat mich sofort angesprochen, denn eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist ja nicht irgendein Thema, sondern beinhaltet etwas zutiefst Verstörendes, das sich hinter Sachlichkeit nur mühsam verbergen lässt. Es würde auffällig still oder unerwartet aggressiv, sobald es „um die gigantische NS-Schuld und die millionenfache Beteiligung“ daran ginge, sowie um die Frage nach den Kontinuitäten bis heute, stellen die Autor*innen fest. Dass sie ihre eigene Betroffenheit nicht nur zulassen, sondern sie für das eigene Verstehen produktiv nutzen, dabei den Blick vor allem auf die Geschlechterfrage richten und nach den Auswirkungen bis heute fragen, hat mich für diese Buchbesprechung motiviert. Mich interessiert weniger der frühe Hitler selbst, sondern die patriarchale Gewalt und was sich für heute daraus lernen lässt.

Bedeutung der Begriffe „fatal“ und „kollusiv“

Den Begriff „fatal“ verstehen die Autor*innen „wie im englischen Sprachgebrauch, wo es ‚tödlich‘ bedeutet“. Mit „fatalen Männlichkeiten“ meinen sie nicht jede Männlichkeit, sondern „prägende Traditionen – Grundprinzipien bereits der deutschen Kolonialpolitik, Erziehungsmuster der schwarzen Pädagogik, die auch den Protagonisten des Nationalsozialismus betrafen –, ohne die ein Zivilisationsbruch von diesen Ausmaßen in Gedanken und Taten gar nicht möglich geworden wäre.“ Damit formulieren sie gleich zu Beginn ihre Hauptthese und präzisieren: „Fatale Männlichkeiten verstehen wir als gegen Menschlichkeit, ganz wesentlich gegen Weiblichkeiten, aber auch gegen nicht-fatale Männlichkeiten gerichtet, angetrieben durch Vernichtungswut in der Identifikation mit am Tod orientierten Männlichkeiten (Töten ist Selbstzweck).“ Die Fixierung auf die „Rasse“ sehen sie als „spezielle Ausformung“ dieser Männlichkeit. Sie beziehen sich damit auch auf Klaus Theweleit, der in „Männerphantasien“ (zuerst 1977/78 erschienen, 2019 neu aufgelegt) untersucht hat, wie Männergewalt und Männerkörper den Faschismus ermöglicht hatten.
Im Zusammenwirken der Geschlechter beschreiben sie die Rolle der Frauen als kollusiv, im Sinne von „‘Kollusion‘, abgeleitet vom lateinischen ‚colludere‘ = zusammenspielen“. Diese „kollusiven Weiblichkeiten“ verstehen sie „als das untrennbar mit fataler Männlichkeit verwobene Pendant, ihre andere Seite, dies allerdings nicht ‚auf Augenhöhe‘, sondern nur im Rahmen eines strukturellen Machtgefälles zwischen den gesellschaftlichen Konstrukten ‚Mann‘ und ‚Frau‘.“ Damit meinen sie nicht das biologische Geschlecht oder einzelne Personen, „sondern die in der Gesellschaft verbindlichen Rollen- und Identitätsbilder und -vorbilder für Frauen und Männer“, aus denen sie die Entstehung des Nationalsozialismus ableiten.

Jede*r konnte wissen, was Hitler wollte

Den Hauptteil des Buches hat Lerke Gravenhorst verfasst, mit Bezug zu den anderen, so dass sie es als Gemeinschaftswerk versteht. Mit einer Fülle von Zitaten – sowohl von Hitler selbst, von Zeitzeug*innen als auch aus verschiedenen Forschungsarbeiten – zeigt sie, wie bereits der junge Hitler „von Vorstellungen des Furors – also von paranoider Raserei – erfasst“ wurde. In quälender Ausführlichkeit dokumentiert die Autorin verbale Ausfälle Hitlers voller Gewalt und unbedingtem Vernichtungswillen, zeigt wie er fast lustvoll bluttriefende Fantasien mit unmenschlicher Härte ausmalt. Akribisch weist sie nach, dass es immer wieder um Männlichkeit geht, zitiert Hitler aus dem Jahr 1927 mit: „Der Nationalsozialismus ist eine männliche Lehre des Kampfes, zugleich eine männliche Lehre der Ordnung.“
Schon damals hatte der spätere Reichskanzler einen Plan. Es ging ihm um die „Auslöschung der Judenheit“, er bezeichnete Juden schon in den frühen 20er Jahren als „Rassentuberkulose der Völker“, entmenschlichte sie durch Bilder von Bazillen und Parasiten. „Judenjungen“ würden mit „deutschen Mädchen“ Kinder zeugen, und dieses „fremde Volksgift“ würde das „deutsche Blut“ vergiften, woran das Volk zugrunde gehen würde. Mit den Juden verachtete Hitler auch die Ideen von Demokratie und gleichen Rechten für alle Menschen, was ihm als Verweichlichung galt, während er dem vermeintlichen Naturrecht des Stärkeren anhing. Ein weiterer Plan war die Germanisierung des „Bodens“ im „Osten“, in der Sowjetunion, um den Bolschewismus und Marxismus zu vernichten und den Boden dem „deutschen Volk“ zu sichern. Auch der Mord an kranken und behinderten Menschen ließ sich schon früh aus Hitlers Äußerungen erkennen. Das Kümmern um „wertlose Leben“ bezeichnete er als „moderne Humanitätsduselei“, während es in der Natur eine Auslese gäbe.
All dies zu lesen ist quälend, manche besonders gewaltvollen Zitate wiederholt die Autorin unter verschiedenen Gesichtspunkten. Irgendwann stellte sich mir das Gefühl ein: „Es ist genug, ich habe es verstanden, bitte nicht noch mehr davon“. Es fiel mir schwer, weiterzulesen. Gravenhorst macht unmissverständlich deutlich, dass Hitler bereits nach dem Ersten Weltkrieg seine Vernichtungsabsichten deutlich formulierte. Klare Ansagen zur geplanten „Ausmordung der Judenheit“ finden sich in so vielen Quellen, dass die Beweislast eindeutig ist: Seine mörderischen Pläne hat Hitler schon früh offen ausgesprochen, jede*r konnte wissen, was er vorhatte.

Gewaltvolle weiße Männlichkeit

Nach diesen ausführlichen Darstellungen enttäuscht das nur sechs Seiten lange Kapitel über „kollusive Weiblichkeiten“. An zwei Beispielen, Winifred Wagner und Elsa Bruckmann, beschreibt Gravenhorst knapp, wie beide von Hitler fasziniert waren und ihn nach dem gescheiterten Putschversuch 1923 unterstützten. Ein Verständnis der anfangs nahegelegten gesellschaftlichen Dynamik von Geschlechterverhältnissen vermittelt sich darüber nicht.
Das nächste Kapitel behandelt die damals bereits vorhandenen Vorbilder Hitlers, die als „Transmissionsriemen“ für ein „Bewusstsein von der realistischen Möglichkeit eines kollektiven Tötens jenseits des militärischen“ gesehen werden können. Ein Vorbild war der Völkermord in „Deutsch Südwestafrika“ – heute Namibia, die „gnadenlose Vernichtung der Herero und Nama sowie der San“ durch Deutsche. Ein anderes Vorbild war der von Deutschen unterstützte türkische Völkermord an den Armeniern. Beides von Männern geplant und durchgeführt, die sich einer Herrenrasse zugehörig wähnten. Dass Hitler die Täter kannte und bewunderte, wird vielfach belegt. Nach einer kurzen Zeit auf der Seite der Räterepublik hatte er sich den Freikorps angeschlossen, die von kolonialer Gewaltverherrlichung geprägt waren und 1919 die Münchner Räterepublik blutig niederschlugen. Lerke Gravenhorst identifiziert auch bei manchen Revolutionsführern Ansätze von fataler Männlichkeit, als sie sich weigerten, mit den Freikorps zu verhandeln, um ein Blutbad zu vermeiden.
In einem weiteren Kapitel wird Hitlers Kindheit als Wurzel seines mörderischen Hasses betrachtet, die Schläge und Demütigungen durch seinen Vater und der fehlende Schutz durch die Mutter. Anschließend resümiert die Autorin kurz im Namen der Resonanzgruppe, dass es notwendig sei, sich mit den Gefahren der „nicht mehr zu übersehenden fatal-männlichen Zerstörungsgewalt“ – die nicht mit Männlichkeit identisch sei – auseinanderzusetzen, „wenn Mord und Totschlag als weltzerstörende Strategie abgewendet werden sollen.“

Eine Therapiegruppe von Gutsituierten

Im Anschluss an den dokumentarischen Teil folgen persönliche Reflexionen der Autor*innen, „Nachkommen von Menschen, die damals mitgemacht haben“, die sich von ihrem Entsetzen erschüttern lassen, den „Dreck!!!!“ von sich weisen. Eigentlich hatten sie mehr über die Auswirkungen heute ausarbeiten wollen, der starke Fokus auf die Person Hitler war nicht geplant gewesen. Nach den erdrückenden Beweisen fataler Männlichkeit fordert Lerke Gravenhorst nichts Geringeres, als dass die Analyse der Resonanzgruppe „den Anfang eines großen Um-Schreibens, ja, eines Neu-Schreibens des nationalsozialistischen Welteroberungs- und Zerstörungsprojektes“ darstellen müsse, auch wenn dies „eine Anmaßung“ sei. Sie habe gemeinsam mit Ingegerd Schäuble „eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit ausgebildet“, auf Grundlage eines „feministisch sensibilisierten Humanismus“.
Hanne Kircher hat das Grauen durch Bilder „von Lähmungen zu Lösungen“ verarbeitet, die im Buch abgedruckt sind. Drei davon zum Thema „Umwandlung von Dreck!!!! in Herzensenergie“. Mein schon zuvor leicht spürbares Unbehagen wird unübersehbar, verstärkt durch die psychologischen Überlegungen von Karin Schreifeldt und Jürgen Müller-Hohagen, die vom „Vertrauen in die Gruppe“ sprechen, in der sie sich einen „angstfreien Raum“ geschaffen hätten. Durch diesen persönlichen Zugang, den ich anfangs reizvoll fand, fühle ich mich zunehmend in die Rolle einer Zuschauerin versetzt, die Gutsituierten dabei zusehen darf, wie sie das Grauen des 
Nationalsozialismus zum Anlass einer gruppentherapeutischen Auseinandersetzung nehmen, dabei ohne jedes persönliche Lebensrisiko in emotionale Tiefen hinabsteigen, um ihre ambivalenten Gefühle kollektiv auf kreative und intellektuelle Weise zu bearbeiten.

Gemischte Gefühle und Ermutigung

Es gibt viele gedemütigte Kinder, die daraufhin Gewaltfantasien entwickeln. Auf die Frage, warum Hitlers verbale Gewalttätigkeit von so vielen willig aufgenommen und umgesetzt wurde, und was das mit gesellschaftlichen Geschlechterprägungen zu tun hat, gibt das Buch keine Antwort. Es bleibt im Erschrecken über das akribisch Herausgearbeitete stecken und zeigt lediglich in Ansätzen dessen Bewältigung in einer privilegierten Kleingruppe.
Die Mühsal der vorliegenden Arbeit will ich nicht kleinreden oder gar abwerten. Nur hatte ich aufgrund des Buchtitels etwas anderes erwartet. Vielleicht knüpfen ja andere daran an und vertiefen die Auseinandersetzung mit gewaltvollen Geschlechterverhältnissen. Von den Gedanken aus dem letzten Teil des Buches kann ich mich inspirieren lassen. Ich nehme die Ermutigung mit, bei mir selbst und meinen eigenen Empfindungen zu bleiben, gerade auch erschütternde Themen an mich heran zu lassen, sie mir nicht durch distanzierte Sachlichkeit vom Leib zu halten, sondern – auch entgegen gesellschaftlicher Prägungen und Erwartungen – bei mir zu bleiben, in der Hoffnung, dass sich das „geheimnisvoll Eigene der Vielen“ zu einer „Gemeinschaft der Suchenden“ zusammenfüge. So ausgesöhnt kann ich mich dem Fazit der Autor*innen anschließen: „Statt der damals praktizierten fatalen Männlichkeit und der ihr kollusiv verbundenen Weiblichkeit eine von Demut getragene Einsicht in die Begrenztheit, Widersprüchlichkeit und Fragilität unserer menschlichen Existenz zu leben und von da aus neue Wege solidarischen Miteinanders zu entwickeln, ist weiterhin eine der ganz großen Aufgaben für Gegenwart und Zukunft in Deutschland und weltweit.“