Vor hundert Jahren starb am 08. Februar 1921 Peter Kropotkin, der den kommunistischen Anarchismus mit seinem revolutionären Werk „Die Eroberung des Brotes“ prägte und mit seiner „Gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ ein wissenschaftliches Werk zur Natur und Menschheitsgeschichte hinterließ, das bis heute inspiriert.
Gegenseitige Hilfe und Selbstorganisation als Überlebensstrategien
Zwei Bemerkungen vorweg: Es geht hier nicht darum, Kropotkins Werk als Gegenentwurf zu Darwins Evolutionstheorien „On the Origins of Species“ darzustellen. Weder hat Darwin seine Ausführungen auf die Menschheit übertragen, – den sogenannten „Sozialdarwinismus“ haben andere verbrochen, – noch hat Kropotkin Darwins Forschungen widerlegen wollen. Er sah sein Werk vielmehr als auf die Menschheit bezogene Ergänzung. Eine Ergänzung zu Darwins „Survival of the fittest“ und gleichzeitig als Ergänzung zu Marxens Konzentration auf die Ökonomie. Zum weiteren hat Kropotkin seine Beispiele aus der Tierwelt nicht wie etwa in Wuketits‘ Vorwort zur 2012 Ausgabe der Trotzdem Verlagsgenossenschaft nahegelegt wurde, auf die Natur des Menschen übertragen, sondern er stellte Parallelbeispiele dar, um ein ganz anderes Ziel zu verfolgen: „So kam ich (…) zu der Erkenntnis, daß der Anarchismus mehr zu bedeuten hat, als eine bloße Aktionsmethode oder nur eine besondere Auffassung von einer freien Gesellschaftsordnung. Er stellte sich mir bald dar als Teil einer natürlichen und sozialen Philosophie, die in ganz anderer Weise als die bisher in den anthropologischen und soziologischen Wissenschaften angewandten metaphysischen und dialektischen Methoden zu entwickeln war.“ (1) Kropotkin erkannte in den Überlebensstrategien von Unterdrückten in der Menschheitsgeschichte einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit, den er in die Betrachtung aufgenommen sehen wollte. Diese Überlebensstrategien funktionierten nicht zufällig mittels Gegenseitiger Hilfe und der Selbstorganisation von Menschen. Damit erweiterte er Darwins Perspektive aus dessen Werk „The descent of man, and selection in relation to sex“ (1871), der sich mit Blick auf die Menschheitsentwicklung nur auf das Individuum bezog, um die soziale Komponente.
Grundlagen der anarchistischen Prinzipien
1887 hatte Kropotkin in der Londoner Zeitschrift Freedom den Fingerzeig gegeben, der für anarchistisches Verhalten im Hier und Jetzt weiterhilft. In seinem Artikel „Act for yourselves“ gab er auf die häufig gestellte Frage: „Wie wirst Du eine zukünftige Gesellschaft nach anarchistischen Prinzipien organisieren?“ folgende Antwort: „Wenn die Frage an Herrn Bismarck oder an irgendjemand gestellt würde, der meint, dass eine Gruppe von Menschen in der Lage ist, die Gesellschaft so zu organisieren, wie sie selbst es wünschen, wäre sie sehr natürlich. Aber in den Ohren eines Anarchisten klingt sie sehr befremdlich und die einzige Antwort, die wir geben können ist: ‚Wir können Euch nicht organisieren. Es wird an Euch liegen, welche Organisation Ihr wählt.‘“(2)
In der GWR 455 hat der Fotograf Theo Heimann seine Überzeugung mit den Worten zusammengefasst: „Menschlich und fair miteinander umgehen und die anderen lassen, wie sie sind, Kooperation statt Konkurrenz, Gegenseitige, soziale Hilfe, das ist für mich schon Anarchismus.“ Das klingt sehr nach Kropotkin und ist auch immer mein eigener Ansatz zum Handeln und Verhalten im Kapitalismus gewesen. Mensch kann immer etwas tun, kann sich entscheiden, kann aus Überzeugung Anpassungen aller Art widerstehen, egal wann und wo Manchmal ist es auffällig anarchistisch, in dem eine politische Aktion durchgeführt wird, manchmal ist es eine Äußerung, sei es schriftlich oder mündlich, aber viel häufiger sind es einzelne Verhaltensweisen, in denen wir Autoritäten ablehnen, entlarven, unterlaufen, kritisieren; in denen wir Unrecht oder Intoleranz gegen Schutzbedürftige, Minderheiten, Flüchtlinge bekämpfen und vieles andere mehr. Wir haben die Augen offen für Lücken im System, für größere und kleinste Freiräume, Entscheidungsspielräume, die wir erkennen und nutzen, um eine bessere Gesellschaft voranzubringen. Das war nicht immer die Überzeugung von revolutionär gesinnten Menschen Nur zu oft wurde daran gedacht, die gesellschaftlichen Zustände ins Unerträgliche laufen zu lassen, um dann aus der Not und dem Elend der Unterdrückten die Revolution zu erwarten. Die Geschichte hat gezeigt, dass es besonders schwierig ist, in solchen Situationen mehr als autoritäre Systeme entstehen zu lassen. Der Hang zum Terrorregime wurde seit Robespierre mit unterschiedlichen Argumenten mehrfach wiederholt.
Wie macht man ein Dorf demenzfreundlich?
Kropotkin arbeitete an der Gegenseitigen Hilfe sieben Jahre lang, immer wieder von anderen Veröffentlichungen und Ereignissen wie dem Burenkrieg unterbrochen. Von 1890 bis 1896 veröffentlichte er Artikel in der Zeitschrift „Nineteenth Century“. 1902 erschien sein Werk „Gegenseitige Hilfe“ zum ersten Mal als Buch. Seitdem gibt es dieses Wort, das bis heute mehr und mehr Resonanz gefunden hat; auch in der Arbeitswelt, in der die vorherrschenden Chefstrukturen und Herrschaftsallüren durch die Delegation von Verantwortung in Teams herausgefordert werden. Natürlich geschieht dies im Kapitalismus nicht aus idealistischen Gründen, sondern weil erkannt wurde, dass es effizientere, gewinnbringendere Ergebnisse liefert. Aber genau dies waren auch Kropotkins Beispiele, wenn er von den mittelalterlichen Gilden oder von den Hilfssystemen der Dorfgemeinschaften sprach. Wenn etwas erfolgreich ist und zugleich den Beteiligten mehr Rechte und Akzeptanz verschafft, befindet sich die Gesellschaft auf einem vielversprechenden Weg. Wie macht man ein Dorf demenzfreundlich? Das funktioniert nur mit viel Aufklärung und der Bereitschaft zuzuhören. Will man dementiell Erkrankte nicht wegsperren, sondern in ihrem bisherigen Umfeld leben lassen, funktioniert es nur über Gegenseitige Hilfe und gegenseitiges Verstehen. Gleichzeitig zeigt es den Bedarf im Kapitalismus, der jede Tätigkeit zur Ware gemacht hat, für die bezahlt werden muss. Gerade im Sozialbereich wurde der Warencharakter vorangetrieben und ist dennoch bereits an seine Grenzen gestoßen, so dass wieder nach Ehrenamtlichen geschrien wird, weil nicht mehr alles bezahlbar ist, weder von den Hilfsbedürftigen selbst noch von der öffentlichen Hand und den Steuerzahlern.
Positives Menschenbild Kropotkins
Was hat aber dazu geführt, dass Kropotkins naturwissenschaftliches Werk, dennoch bis heute einflussreich geblieben ist? Die Antwort ist recht einfach Grundlegend ist sein positives Menschenbild, das er im Unterschied zu anderen Anarchisten naturwissenschaftlich begründete. Damit lieferte er den von den Vertretern von Macht und Arroganz verteufelten „Gutmenschen“ bis heute wichtige Argumente. Weshalb also den pejorativ gehandelten Begriff nicht annehmen und positiv umwenden? Schon Oskar Kanehl war Meister darin, Verunglimpfungen ins Gegenteil zu verkehren, vergleiche sein Gedicht „Wir sind der Pöbel, Gott sei Dank“. Es geht uns wie schon Kropotkin nicht um die Meinung, dass Natur und Mensch grundsätzlich gut sind, wir wissen sehr wohl, zu was Menschen in der Lage sind Schon Kropotkin wies darauf hin, wie wichtig Beeinflussung und Erziehung sind, bei der Frage, welcher Teil des menschlichen Potentials geweckt wird: „Wenn Menschen nicht auf dem Schlachtfeld zum Rasen gebracht werden, ´können sie es nicht aushalten´, Hilferufe zu hören, ohne Hilfe zu leisten.“ Auf den Einwand, dass es Gegenbeispiele gibt, bei denen Menschen teilnahmslos einem Ertrinkenden zusahen, ohne einzugreifen, entgegnete er: „Die Antwort ist einfach genug. Der Mensch ist ein Produkt sowohl seiner ererbten Instinkte wie seiner Erziehung. Unter den Bergleuten und Seeleuten erzeugen ihre gemeinsamen Beschäftigungen und ihr tägliches Zusammenleben ein Gefühl der Solidarität, und die Gefahren, in denen sie leben, erhalten die Tapferkeit. In den Städten dagegen zieht der Mangel an gemeinsamen Interessen Gleichgültigkeit groß.“ (3)
„Tapferkeit“ zum Eingreifen. Das positive Menschenbild Kropotkins ist deshalb nicht naiv, wie es häufig unterstellt wurde, sondern geht vielmehr von der Einsicht aus, dass der Mensch die Solidarität mit den Mitmenschen als tragfähiger, nachhaltiger und letztlich gewinnbringender erlebt und dass eine grundsätzliche Haltung, die Hilfe anbietet, bereichert. Kropotkin lieferte in seiner Arbeit auf 29 Seiten aus dem Tierreich und auf 180 Seiten aus der Menschheitsgeschichte eine Vielzahl an Beispielen; nicht alle sind aus einem europäischen Blickwinkel leicht zu akzeptieren, aber sie sind dazu geeignet, den Leser*innen ihre eigenen Ansprüche als soziale Wesen ins Bewusstsein zu rufen und sie im Hier und Jetzt zum alltäglichen Handeln zu ermutigen.