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Myanmar – Ein flüchtiger Moment der Hoffnung

Der gewaltfreie Aufstand

| Daniel Korth

Foto: သူထွန်း (CC BY-SA 4.0) via Wikipedia - Bearbeitung: Online-Red.

Am 1. Februar 2021 putschte das burmesische Militär gegen die mit überwältigender Mehrheit wiedergewählte Regierung unter Aung San Suu Shi. Auf diese Weise wollten die Generäle die kurze Epoche relativer Freiheit beenden, die sie selbst vor zehn Jahren begonnen hatten. Jedoch entwickelte sich nach einigen Tagen ein gewaltfreier Aufstand, der bis heute anhält. Über die Situation in Myanmar schreibt Daniel Korth, der zwischen 2014 und 2017 als Fachkraft des Zivilen Friedensdienstes in Myanmar lebte (GWR-Red.)

Wirft man einen Blick in die Geschichte Myanmars, so stellt man fest, dass das Militär im Grunde seit 1962 nicht aufgehört hat, das Land zu beherrschen. Im März 1962 putschte General Ne Win gegen die damalige Regierung. Bis 1974 regierte er das Land durch einen Militärrat. Dann wurde ein Einparteiensystem etabliert. Ne Win und ranghohe Offiziere nahmen ihren Abschied aus der Armee und regierten fortan als „Partei Sozialistisches Programm Burma“. In dieser Zeit machten sie Myanmar zu einem der ärmsten Länder der Welt. 1988 führte ein Aufstand gegen die Misswirtschaft und politische Unterdrückung zu landesweiten Protesten. Sicherheitskräfte töteten tausende Demonstrant*innen und erneut putschte das Militär, diesmal unter General Saw Maung. Zwei Jahre später hielt der „Staatsrat für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung“ freie Wahlen ab. Als diese jedoch von der Oppositionspartei „Nationale Liga für Demokratie“ (NLD) haushoch gewonnen wurde, erklärte das Regime die Wahlen für ungültig, schlug die Proteste nieder und inhaftierte die Oppositionspolitiker*innen.

Gesicht und Vorsitzende der NLD war Aung San Suu Kyi, die 1988 aus Oxford nach Burma zurückgekehrt war. Als Tochter des Nationalhelden General Aung San, der 1948 die Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien erreichte, verfügte sie über großes symbolisches Kapital und trat in dieser Zeit im Kampf um die Demokratie unter persönlichen Opfern und Gefahr für ihr eigenes Leben für gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam ein.

Westliche Staaten reagierten auf die Ereignisse mit der politischen und moralischen Ächtung Myanmars, den Entzug von Handelsvorteilen und Entwicklungshilfe sowie Visa-Sperrlisten für annähernd 1.200 Spitzenpolitiker und Militärs nebst allen Familienangehörigen. Diese Sanktionen sollten die Militärregierung bestrafen, möglichst zum Rücktritt zwingen und so den Sieg der Demokratiebewegung herbeiführen. Die Sanktionspolitik führte jedoch nur dazu, dass der frühere westliche Einfluss in Myanmar fast auf Null sank und sich das Land an China, Indien, Russland und den Anrainerstaaten orientierte. (2)

Um 2008 entschloss sich das Militär wieder in den Hintergrund zu treten. Eine neue Verfassung wurde geschrieben, die die Macht der Armee auch unter einer demokratisch gewählten Regierung sichern sollte. Erneut traten ranghohe Offiziere zurück und gründeten diesmal die „Unionspartei für Solidarität und Entwicklung“ (USDP). Diese gewann die Wahlen 2010, welche von der NLD boykottiert wurden. Der Militärrat wurde am 30. März 2011 aufgelöst und die USDP begann unter dem ehemaligen General, Thein Sein, Reformen umzusetzen. Aung San Suu Kyi wurde aus dem Hausarrest entlassen und mehr als 200 politische Gefangene amnestiert. Die Regierung schloss Waffenstillstandsabkommen mit bewaffneten Gruppen verschiedener ethnischer Minderheiten, ließ Gewerkschaften und Streiks zu und lockerte die Zensur der Presse. Die Gründe, warum sie dies taten, sind genauso unbekannt, wie die Gründe aus denen sie diesen Prozess nun zu beenden suchen.

Für mich ist das Problem der Nachfolge in einem autoritärem System der wahrscheinlichste Grund. Der ehemalige Militärchef, General Ne Win, wurde, als er alt geworden war, im Jahr 2002 vom neuen starken Mann, General Than Shwe, entmachtet. Ne Win selbst wurde unter Hausarrest gestellt, seine Familienangehörigen inhaftiert. 2010 war Than Shwe 18 Jahre im Amt, 77 Jahre alt und musste fürchten, dass es ihm ebenso ergehen würde. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Übergang zu einer „disziplinierten Demokratie“, den das Militär seit 2003 versprach, als Versuch Than Shwes verstehen, die Macht auf mehrere Schultern zu verteilen, um das Aufkommen eines neuen starken Führers innerhalb des Militärs zu verhindern, der ihm und seiner Familie gefährlich werden könnte. (3) Ironie der Geschichte, der jetzige Oberbefehlshaber und Architekt des Putschs, General Min Aung Hlaing, ist heute 65 Jahren alt und hat sein vorgeschriebenes Ruhestandsalter erreicht. Vielleicht versucht er durch den Staatsstreich seine Macht und die Pfründe seiner Familie zu erhalten.

Eine Gesellschaft im Übergang

Der Reformprozess seit 2011 war auch der Grund, warum ich 2014 als eine der ersten Fachkräfte des zivilen Friedensdienst nach Myanmar gehen und dort in einer lokalen NGO arbeiten konnte. In dieser Zeit war das Bedrohungsgefühl der Menschen noch groß. Wenn wir mittags in einem Tea-Shop essen gingen, vermieden es meine einheimischen Kolleg*innen, über Politik zu sprechen. Sie waren es gewohnt, bespitzelt zu werden. Die Leute trauten der Veränderung nicht. Und doch glaube ich, innerhalb der vier Jahre, die ich im Land gelebt habe, beobachtet zu haben, dass die Leute freier wurden. Ich kann nicht sagen, ob meine konkrete Arbeit eine große Wirkung hatte. Aber ich glaube, dass der Kontakt mit Menschen, die nicht unter einer Diktatur aufgewachsen sind und die sich selbstverständlich und ohne Angst bewegen konnten, etwas verändert hat. Selbst der Tourismus mag in dieser Hinsicht hilfreich gewesen sein.

Gefährlicher als der Straßenprotest ist für das Militär die umfangreiche Bewegung des zivilen Ungehorsams, die das Land zum Stillstand gebracht hat. Millionen Menschen boykottieren alles, was mit dem Militär zu tun hat.

Auch die wirtschaftlichen Veränderungen waren augenfällig. Als ich 2014 meine Arbeit begann, musste ich für eine Simcard noch 200 USD zahlen. Ein Jahr später war der Preis auf 1 USD gesunken. In Yangon wurde überall gebaut. Ich sah den Bau neuer Pubs und Shopping Malls mit gemischten Gefühlen, aber für viele Einheimische Yangons bedeutete er, dass das Land nach Jahren der Isolation und des wirtschaftlichen Niedergangs im Aufbruch war. Insbesondere bei Jugendlichen war die Hoffnung auf ein besseres Leben groß.

2015 fanden dann die ersten freien Wahlen mit Beteiligung der Opposition statt. Sie führten zu einem Erdrutschsieg und der Regierungsübernahme der NLD. Ich erinnere mich, dass bei den Wahlen 2015, zwar viele Menschen zu Wahlveranstaltungen der militärnahen „Unionspartei für Solidarität und Entwicklung“ (USDP) gingen, aber allein in der Wahlkabine, wo sie niemand kontrollieren konnte, mit 80% der Stimmen die NLD wählten. Auch damals wäre ein Putsch möglich gewesenen. Ich weiß noch, wie unsere kleine Gruppe deutscher Friedensarbeiter*innen besprach, wie wir uns in diesem Fall verhalten sollten. Die Anerkennung der Wahl durch das Militär nährte die Hoffnung, dass sie es diesmal mit dem Übergang zur Demokratie ernst meinten.Warum hat das Militär dann bei der jetzigen Wahl geputscht? Wie oben erwähnt, scheint es mir am wahrscheinlichsten, dass die Führungsriege des Militärs sich auf diese Weise vor einer Entmachtung aus den eigenen Reihen schützen will. Um so mehr, als dass es hier nicht nur um ein Amt geht, sondern auch um den wirtschaftlichen Besitz, den sie sich mit Hilfe ihrer Macht angeeignet haben und der bedroht ist, sobald sie nicht mehr über diese Macht verfügen. Vielleicht hat die Militärführung auch nur gemerkt, dass ihnen die Kontrolle über das Land langsam entglitt. Zwar sichert die Verfassung von 2008, die sie selbst geschrieben haben, ihnen weitreichende Befugnisse zu, aber im wirklichen Leben verloren die Menschen ihre Furcht vor dem Militär und gewöhnten sich an die neuen Freiheiten. Was auch der Grund sein mag, mit dem landesweiten Aufstand haben die Militärs nicht gerechnet.

Der Protest auf den Straßen

„In den ersten Wochen war der Protest vor allem in Yangon ausgelassen und fröhlich … Mit der Ausgelassenheit war es spätestens am Sonntag, dem 28. Februar, vorbei. Seither gehen die Sicherheitskräfte landesweit brutal gegen die Proteste vor. Allein am Mittwoch, den 3. März, wurden 38 Demonstrant*innen getötet“ (4) Seit Februar ermordete die Armee 261 Menschen. 2.682 wurden inhaftiert. (5)

 

„Jeden Tag, meist so zwischen acht und neun Uhr, gehen die Demonstrant*innen auf die Straße und errichten Barrikaden, nach einigen Stunden greift die Polizei ein, manchmal unterstützt vom Militär. Sie stürmt gegen die unbewaffneten Demonstrant*innen, setzt Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse ein, manchmal wird auch scharf geschossen. Die Demonstrant*innen fliehen in die Seitengassen und in Häuser, verfolgt von der Polizei. Sobald die Polizei die Verfolgungsjagd aufgibt, kommen die Demonstrant*innen wieder auf die Straße und errichten die Barrikaden erneut, mit tatkräftiger Hilfe der Anwohner*innen. Am späten Nachmittag ziehen sich beide Seiten zurück, die Straßenmärkte öffnen für einige Stunden, aber die Straßen sind weitaus leerer als sonst. Allerdings sind sie gepflastert mit ausgekreuzten Fotos des Armeechefs Min Aung Hlain, so dass die Passant*innen auf ihn treten können. Neben Protestgraffiti und Postern werden seit Neuestem auch Fotos von Polizeispitzeln aufgehängt. Nach Einbruch der Dunkelheit schotten sich die Stadtteile ab, igeln sich ein hinter Barrikaden, die mit jedem Tag befestigter werden. Sie wurden von Anwohner*innen errichtet, um die Polizei – und Kriminelle – rauszuhalten, nachts patrouillieren Nachbarschaftswachen. Täglich um 20 Uhr werden eine Viertelstunde lang lautstark Töpfe und Pfannen geschlagen, um symbolisch die Junta zu vertreiben, danach folgen Protestlieder. Das Internet wird landesweit um Mitternacht oder spätestens um ein Uhr abgestellt, um neun Uhr morgens geht das Land wieder online. So fängt jeden Morgen der Zyklus von vorne an.“ (6)

Die Bewegung zivilen Ungehorsams.

Gefährlicher als der Straßenprotest ist für das Militär die umfangreiche Bewegung des zivilen Ungehorsams, die das Land zum Stillstand gebracht hat. Millionen Menschen boykottieren alles, was mit dem Militär zu tun hat. Die Bewegung begann „mit dem Auszug von Ärztinnen und Ärzten aus den öffentlichen Kliniken, erfasste aber bald auch Staatsangestellte in vielen anderen Einrichtungen, ganze Berufsverbände (z.B. Ingenieure), eingeschlossen Ministerien in Naypyitaw, einer Stadt, die das Militär sich als vorgeblich „protestsichere“ neue Hauptstadt erst 2005 neu eingerichtet hatte.“ (7) Jedoch ist der Generalstreik ein zweischneidiges Schwert. Die Bewegung des zivilen Ungehorsams trifft auch die Bevölkerung. Z.B. hat der Streik im Bankensektor zu einer Schließung fast aller Bankfilialen und einer Bargeldknappheit geführt, die auch die Abwicklung von Gehaltszahlungen beeinträchtigt. Organisiert wird die Bewegung über bestehende Netzwerke und soziale Medien. Berufsgruppen, Gewerkschaften, Studierendengruppen und Nachbarschaften spielen eine Rolle. Diese Führungslosigkeit ist in der aktuellen Situation von Vorteil, weil die Bewegung nicht auf einen Schlag enthauptet werden kann. Sie mag sich aber auch als Nachteil erweisen, wenn es darum geht, wer mit dem Militär verhandeln soll.

Hoffnung

Welche Hoffnung gibt es für Myanmar? Westliche Staaten haben kaum Einfluss im Land, weder politisch noch wirtschaftlich. Deutschland hat z.B. die Entwicklungszusammenarbeit bereits 2020 aufgrund der Vertreibung der Rohingya ausgesetzt. Myanmars Wirtschaftsbeziehungen liegen bei seinen Nachbarn. Das sind China und die ASEAN Staaten. Die ASEAN Staaten verfolgen traditionell eine Politik der Nicht-Einmischung untereinander. Jedoch haben Malaysia und Indonesien den Putsch kritisiert und Singapur bemüht sich, das Militärregime und die gestürzte Zivilbewegung zu einem Dialog zu bewegen. China kann als autoritäres Regime einerseits kein Interesse am Erfolg einer zivilen Aufstandsbewegung haben, siehe Hongkong. Andererseits hat Peking gut mit der NLD-Regierung zusammengearbeitet und braucht für das Projekt der „Neuen Seidenstraße“ Stabilität im Nachbarland. Selbst wenn das Militär die Demokratiebewegung blutig niederschlägt, ist es fraglich, ob es danach die Voraussetzungen für ein solches Infrastruktur- und Wirtschaftsprojekt schaffen kann.

Schließlich ist da das burmesische Militär selbst, an dem die letzten zehn Jahre der Öffnung vielleicht nicht spurlos vorüber gegangen sind. Vielleicht fragen sich manche in den Streitkräften, ob sie einen Weg mitgehen sollen, der das Land in eine lange Krise führen wird und auf dem die Armee viel verlieren kann. Zumal die enorme Fehleinschätzung der Proteste die Position der gegenwärtigen Militärführung geschwächt haben dürfte. (8) Am Ende bleibt die Hoffnung auf die Kraft der gewaltfreien Bewegung und des zivilen Ungehorsams an dem alle Religionen, alle ethnischen Gruppen und alle Generationen des Landes mitwirken. „Es sind 45 Tage seit dem Staatsstreich. Zorn und Trauer entfachen den kleinen Funken der Hoffnung in uns. Er wird hell brennen, und wir werden diesen Kampf gewinnen“ (9)

(1) Wendy Law-Yone, „Das Militär kann nicht verlieren“, www.zeit.de/kultur/2021-03/myanmar-putsch-militaer-demonstrationen-schrifstellerin-wendy-law-yone
(2) Vgl. Arthur Revel, „Die deutsch-myanmarischen Beziehungen vor und nach 1988. Viel verloren, wenig gewonnen?“, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2008.
(3) Hennig Effener, „Parlamentswahlen in Burma/Myanmar. Zementierung der Militärherrschaft oder Chance auf Veränderung?“, Friedrich Ebert Stiftung, Oktober 2010
(4) Anonymer Verfasser, „Ein Monat Putsch. Ein Monat Widerstand.“ In: Blickwechsel, Stiftung Asienhaus, März 2021, www.asienhaus.de/nc/aktuelles/detail/blickwechsel-ein-monat-putsch-ein-monat-widerstand/
(5) Assistance Association for Political Prisoners (Burma), www.aappb.org
(6) Anonymer Verfasser, „Ein Monat Putsch. Ein Monat Widerstand.“
(7) Alex Harneit-Sievers, „Putsch in Myanmar: 28 Days Later“, Heinrich Böll Stiftung, 1. März 2021 www.boell.de/de/2021/03/01/putsch-myanmar-28-days-later
(8) Vgl. ebenda
(9) Freedom Memoirs – Day 45, www.mohingamatters.com/freedom-memoirs

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.