Wie aus einer Selbsthilfegruppe eine Szene entstanden ist

Eine Analyse der Incel-Ideologie

| Nicolai Hagedorn

Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Ventil Verlag, Mainz 2020, 280 Seiten, 16,00 €, ISBN 978-3-95575-130-2

Veronika Kracher ist nicht zu beneiden. Offenbar hat sie sich monate- wenn nicht jahrelang an den dunkelsten, widerwärtigsten Orten des Internets herumgetrieben, die so verachtens- wie bemitleidenswerten Ausflüsse frustrierter Männer in so genannten Incel-Foren verfolgt und über eine Szene recherchiert, die für jeden fühlenden Menschen nur die Hölle auf Erden darstellen kann. Immerhin, es hat sich gelohnt. Ihr Buch „Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ hat für einiges Aufsehen gesorgt. Kracher hat nicht nur die erste größere deutschsprachige Recherche zu dem Thema vorgelegt, sondern es damit auch bis in die ZDF-“Kulturzeit“ und die ARD-Sendung „titel thesen temperamente“ geschafft – völlig zu Recht, das Buch ist überaus lesenswert.

Zunächst einmal: „Incels“ steht für „involuntary celibate“, also ungefähr „unfreiwillig zölibatär“ und ist die Selbstbezeichnung hauptsächlich junger Männer, die keinen Sex haben, obwohl sie gerne welchen hätten. In Zeiten des Internets hat man sich natürlich schnell vernetzt und bald ist, wie Kracher zeigt, aus einer Selbsthilfegruppe eine Szene entstanden, die eine Ideologie voller Widersprüche hervorbringt, sich dabei als leer ausgehendes Opfer eines einerseits sexbesessenen, andererseits über alle Maßen wählerischen Weltfrauentums geriert und sich gleichzeitig für die erleuchtete Krone der Schöpfung hält. Was ihre Mitglieder dazu führt, sich jungfräulichen Sex mit dreizehnjährigen Mädchen herbeizuwünschen und sich eine Phantasiewelt zurechtzuhalluzinieren, die bevölkert ist von „Chads“, die alle Frauen haben können, während alle anderen Männer keine mehr abbekommen. Es ist also kompliziert und das vielleicht größte Verdienst des Buches ist es, den Wahnsinn sowohl chronologisch, als auch analytisch zu ordnen und in den Griff zu bekommen.

Bestürzende Berühmtheit erlangten die Incels im Zuge mehrerer von Mitgliedern der Community verübten Terroranschläge. Kracher geht auf mehrere davon ein, insbesondere auf den Anschlag des wohl berühmtesten Incel, Elliot Rodger, der bei seinem Terrorakt 2014 in Santa Barbara 6 Menschen ermordete und der, wie Kracher schreibt, in der Community als Heiliger und Held verehrt wird. Kracher macht sich viel Mühe damit, das von Rodger hinterlassene Manifest zu analysieren. Dabei offenbart sich die große Stärke des Buches und allerdings auch eine Schwäche des Textes, dem ein etwas strengeres Lektorat gut getan hätte. Kracher will vollkommen verständlicher Weise nicht in den Verdacht geraten, so etwas wie Verständnis für die Täter aufzubringen oder deren Taten zu relativieren. Ihr mitunter distanzloser Stil hat unbestreitbar den Vorteil, dass man zumindest ihren Ausführungen gerne folgt, auch wenn der Gegenstand bis zum Äußersten unerträglich ist, aber Formulierungen wie „Ich habe es gelesen, damit ihr es nicht müsst“ sind der Ernsthaftigkeit und der inhaltlichen Klasse ihrer Betrachtung nicht recht angemessen. Denn Krachers Analyse ist ausführlich, präzise und nachvollziehbar. So zeigt sie sehr anschaulich die extreme Ambivalenz in Rodgers Denken. Er schreibe einerseits „von seiner überlegenen Intelligenz, dem Reichtum seiner Familie, seiner Distinguiertheit, davon, dass ihm Dinge und Frauen zustehen, weil er ein ´Supreme Gentleman´ ist, dieses Gefühl schwindet jedoch, wenn er damit konfrontiert wird, dass andere ihm, in egal welchem Aspekt, überlegen sind.“

Überhaupt gilt für Krachers Buch: Je analytischer der Text wird, desto besser ist er. Statt unnötig zu psychologisieren, versucht sie, den extremen Männlichkeitskult der Incels in den Gesamtkontext gesellschaftlicher Verhältnisse zu stellen: „Nun ist es auch so, dass diese kapitalistischen und patriarchalen Verhältnisse dazu beitragen, dass man, statt sie progressiv zugunsten einer freien und solidarischen Gesellschaft überwerfen zu wollen, eher autoritäre Charakterzüge entwickelt; (…) Es ist also naheliegend, ohnehin schon gesellschaftlich designierte Feindbilder wie Frauen oder Juden für das eigene Leid verantwortlich zu machen, anstatt die jedem einzelnen Individuum gegenüber barbarische kapitalistische Gesellschaft (…).“ Womit der Zusammenhang zwischen einer anscheinend verrückten Internetgemeinde und den ja ebenfalls gebrochenen Psychen der Mehrheitsgesellschaft hergestellt ist und die Incel-Ideologie nur als Übertreibung des ganz normal-monadischen spätkapitalistischen Alltagsunbehagens erscheint. So rät Kracher der männlichen Leserschaft, sie solle es hinnehmen, „dass ihre Psychosozialisation innerhalb dieser Verhältnisse total verkorkst (worden) ist. Es ist verdammt schwer, sich trotz der permanenten Vermittlung, eigentlich der Gipfel der Vernunft zu sein, (…) der Erkenntnis zu stellen, dass man in Bezug auf Frauen ein sexualneurotisches, paranoides, ängstliches und im Resultat sexistisches Wrack ist, das sich permanent von Frauen bedroht fühlt und sie deshalb patriarchaler Herrschaft unterwerfen muss.“

Im letzten Teil versucht sie eine konstruktive Synthese, sucht nach Anknüpfungspunkten an Strategien zur Verhinderung dessen, was als toxische Männlichkeit in den Incels eine Extremform findet und verweist auf die Erziehung, dabei insbesondere auf „Gewaltfreiheit und Achtung vor Grenzen“, aber: „Letztendlich ist der einzige konsequente Kampf gegen die Incel-Ideologie der Kampf für eine solidarische, egalitäre und von den Zwängen des patriarchalen Kapitalismus befreite Welt.“ Die Lektüre sei hiermit ausdrücklich empfohlen.