Unser schickSAAL* ist nicht der Kapitalismus

Ein libertäres Hostel in Lübeck

| Kollektiv schickSAAL*

Das Kollektiv schickSAAL* in Lübeck ist ein gutes Beispiel für basisorientierte und solidarisch-libertäre Zusammenarbeit in einem kapitalismuskritischen Projekt. Das Hostel samt Café und Kneipe in der Lübecker Innenstadt will ein Ort sein, an dem Gäste und Kollektivistas* Solidarität, Menschlichkeit, Achtsamkeit und Respekt leben und üben können. Ein perfekter Rückzugs- und Erholungsort für Libertäre, die ein kollektives Zusammensein erleben möchten. Für die Graswurzelrevolution berichten Mitglieder des Kollektivs über die Entstehung, Grundsätze und das Funktionieren des schickSAAL*s (GWR-Red.)

Das Kollektiv schickSAAL* hat sich nach dem „Sommer der Migration“ 2015 zusammengefunden. Diverse Menschen aus Lübeck haben damals mit vielen anderen entweder das Ankommen in Deutschland oder wenn gewünscht auch die Weiterreise von Geflüchteten in Richtung Skandinavien organisiert. Aus diesen Zusammenhängen ist das Kollektiv entstanden. Manche der Kollektivistas* kannten sich aus politischen Zusammenhängen, andere haben sich beim Bettenmachen für die sich auf der Flucht befindenden Menschen kennengelernt.

Als es losging…

Viele von uns wollten – aus unterschiedlichsten Gründen – nicht mehr den alten Job weitermachen, oder sich neu orientieren. Die Übung in politischer Selbstorganisation und die Erfahrungen des Sommers / Herbstes 2015, wo wir über 15.000 Menschen versorgt haben, gaben uns die Gewissheit, dass Arbeit auch anders geht – nämlich selbstverwaltet.
So haben sich dann erst mal vier Leute getroffen und erste Überlegungen zum Projekt schickSAAL* angestellt: „Wir haben in einem kleinen Programm Kino in Lübeck den Film Projekt A gezeigt und dann anschließend über unser Vorhaben berichtet – darüber sind ein paar neuen Leute dazugekommen.“ Zahlreiche Stunden haben die Kollektivistas* mit leidenschaftlichem Diskutieren und Streiten verbracht, aber auch Häuser besichtigt, gezeichnet und geplant. Mit viel Brainwork wurde ein Konzept und ein Binnenvertrag, das Statut der Gruppe, geschrieben, und dann irgendwann endlich das richtige Haus gefunden.
Das Haus war stark runtergekommen und verwahrlost. Sofort aber gab es Ideen, wie es mal aussehen könnte Die Kneipe in dem Haus, in der einschlägige Leute aus der rechten Szene verkehrten, musste weg! Das machte Mut, und viele Freund*innen und Genoss*innen sprachen ihre Solidarität mit dem Kollektiv aus. Dann am 10. Mai 2017 betraten die inzwischen 10 Kollektivistas* das erste mal das Haus in der Clemensstraße 7 mit dem eigenen Schlüssel. „Noch in der selben Woche haben wir angefangen Tapeten herunterzureißen und die abgeranzte Kneipen-Einrichtung auf‘n Container zu hauen! Das war ein geiles Gefühl!“
Gekauft hat die Gruppe das Haus als GmbH zusammen mit dem Mietshäuser Syndikat (siehe GWR 458). Das Kollektiv wollte auch hier keine Kompromisse eingehen und hatte von Anfang an klar, dass der Betrieb nicht aufgrund des Mietverhältnisses, der Willkür irgendeiner Person ausgesetzt sein sollte. Das Mietshäuser Syndikat war die einzig logische Möglichkeit. Einige waren schon mit ihrem Wohnprojekt Teil des bundesweiten Verbunds. Falls der Betrieb scheitert, erlaubt es die Struktur mit zwei GmbHs, das Haus in ein Wohnprojekt umwandeln. Finanziert wurde alles „auf Pump“ entweder durch Bankkredite, die getilgt werden müssen, oder Direktkredite von Privatpersonen, die immer wieder umgeschuldet werden. Das ist eine „Dauerbaustelle“ für das Kollektiv: „…das macht nichts – das gehört zu unserem Konzept und ist ein Teil der vielfältigen Arbeit, die wir haben“.

Kollektivistas*

Die Gestaltung des Hauses soll allen Menschen Lust machen sich mit Ihrem eigenen Verständnis für Schönheit und Ästhetik auseinanderzusetzen. Kein Zimmer gleicht dem anderen. Schon in der Sanierungsphase haben die Kollektivistas* Sperrmüll und Flohmärkte abgefahren und Möbel und Geschirr gesammelt. Dann wurde alles in einem Lagerraum gehortet, bis nach zwei Jahren Kernsanierung das Haus soweit war, dass die Zimmer eingerichtet werden konnten. Geplant war es die Sanierung so nebenbei zu erledigen. Das hat nicht geklappt. Noch während der Sanierungsphase entschied das Kollektiv, über die GmbH Menschen aus dem Kollektiv anzustellen und diese für die Arbeit zu bezahlen. Ohne Lohn, nur mit Eigenarbeit wäre der Ausbau nicht zu stemmen gewesen, da hatte sich die Gruppe verschätzt. Kollektivistas* hätten nebenbei irgendwelche Nebenjobs machen oder sich mit der ARGE rumschlagen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Da hätte die Sanierung viel länger gedauert. Schließlich wurden drei Personen eingestellt, die dann mit 30 Stunden pro Woche und mit viel zusätzlicher, solidarischer Unterstützung das Haus in zwei Jahren saniert haben. Die anderen aus der Gruppe haben neben ihren Jobs auch mit angepackt. Parallel wurden die notwendigen bürokratischen Hürden überwunden und viele Stunden am Computer verbracht.
„Gleich zu Beginn war klar, dass es darum gehen soll, einen Ort zu schaffen, wo wir gerne arbeiten wollen, wo wir keine*n Chef*in brauchen, sondern selbst entscheiden was, wie und warum getan oder nicht getan wird. Vor allem die Frage: „Warum tun oder lassen wir etwas?“, war und ist wichtig.“ Ein „das macht man so“ gab und gibt es im schickSAAL* Kollektiv nicht. Die Gedanken, Diskussionen und Aufgaben haben Hintergrund und Sinn. „Was wir tun ist weniger wichtig als wie wir was tun.“ Manche von uns haben negative Erfahrungen mit Jobs gemacht: „Ich habe als junge Frau als Zimmermädchen gearbeitet. Fiese Ausbeute und absolut kein erfüllender Job. Das würde ich nie wieder machen!“ Im Kollektiv aber bekommt die Arbeit einen anderen Sinn. „Wir entscheiden, wie die Betten gemacht werden und wie oft wir putzen und wie wir putzen. Es ist nicht wichtig, dass jeder Arbeitsschritt Spaß macht und mich erfüllt, sondern dass das ganze Ding Spaß macht und mich zufrieden macht. Ich gehe (meistens) echt gerne zur Arbeit.“

Jenseits gesellschaftlicher Stigmatisierung

Wichtig war es auch einen Ort zu schaffen, an dem gesellschaftliche „Etiketten“ keinerlei Bedeutung haben. „Unsere Gesellschaft ist voll von Orten, wo Diskriminierung an der Tagesordnung ist, wo Äußerlichkeiten hoch bewertet werden. Zum Beispiel wenn Mensch nicht in die bürgerlichen Kategorien von Geschlechterbildern reinpasst, oder einfach kein Bock oder keine Mittel auf Mainstream-Aussehen hat. Das reicht schon, um an vielen Orten, auch auf Reisen, anders behandelt zu werden – meist mit weniger Respekt. Noch krasser wird es dann, wenn mensch scheinbar einen Migrationshintergrund oder eine sichtbare Behinderung hat.“ Das schickSAAL* Kollektiv will hier ein anderer Ort sein. Ein Ort, der sich ganz bewusst Diversitäten wünscht und alle Menschen, die dies respektieren und leben wollen, einlädt, sich wohl zu fühlen und in Austausch zu kommen. Ob nun als Hostelgast oder Café/Kneipenbesucher*in. „(…) Der verbreitete Grundsatz ‚Kunde ist König‘ gilt für uns nicht. Ein wertschätzendes und sich selbst reflektierendes Verhalten, egal zwischen wem, halten wir für unentbehrlich – auch mehrere Jahrtausende Patriarchat sind mehr als genug! (…)“ (Auszug aus dem Konzept des Kollektiv schickSAAL*) Die Kollektivistas* hinter dem Tresen mischen sich ein, wenn jemand sich nicht respektvoll verhält. Manche Leute kommen auch nicht rein oder müssen wieder raus.

Aus dem Gästebuch…

Wir haben ein kleines Gästebuch. Gäste, die schon mal im schickSAAL* genächtigt haben, sagen z. B.:

  • „Dieses Haus macht einfach nur glücklich – Cristian und Barbara“
  • „Tolle Atmosphäre, alles sauber, glückliche authentische Mit-arbeiter*innen. Wir haben uns hier sehr wohl und sicher aufgehoben gefühlt. Hier hat jeder ein Auge auf die anderen, falls sich mal wer nicht zu benehmen weiß. Vielen Dank für die tollen Zimmer und eine Reise in eine andere Welt, in der man so sein kann, wie man will und die Probleme der Welt für einen Moment vergessen kann. – Daria“
  • „Es ist schön hier bei euch! DANKE, dass ihr das mit viel Liebe fürs Detail erschafft! Alles Gute für die Zukunft ich komme wieder… Steffi“
  • „Die Welt sollte sich bunt gestalten – Schön, dass es euch gibt“
Kapitalismuskritisches Projekt

Dem Kollektiv ist es wichtig den Gästen zu vermitteln, was das schickSAAL* besonders macht und von anderen Läden unterscheidet. Dabei geht es auch um Vertrauen und Mitverantwortung aller derjenigen, die das schickSAAL* nutzen und mitgestalten. Jede*r Gast ist eingeladen an dem wöchentlichen Plenum teilzunehmen. Transparenz und die Weitergabe von Erfahrung und angeeignetem Wissen sind ein wichtiger Baustein für eine besser Welt.
„(…) Dass wir im Kollektiv arbeiten, ist eine politische Entscheidung, um mit den herrschenden Normen von Leistung und Zwang zu brechen. Das schickSAAL* ist nicht gewinnorientiert und versteht sich als kapitalismuskritisches Projekt und Teil eines Transformationsprozesses für eine solidarisch-libertäre Gesellschaft. Wir sind überzeugt, dass ein Großteil gesellschaftlicher Probleme direkt durch kapitalistische Zwänge verschuldet wird, bzw. mit diesen zusammenhängt. Wir unterstützen kollektive Strukturen und möchten dazu anregen, über innere und äußere Wertesysteme nachzudenken. (…)“ (Auszug aus dem Statut des Kollektiv schickSAAL*)
Wenn der Kapitalismus mal überwunden ist, braucht es Menschen die bereits kollektive Strukturen leben und geübt haben. Unsere gesellschaftliche Sozialisation fördert Werte wie Kollektivismus, Solidarität, Menschlichkeit, Achtsamkeit und Respekt nicht besonders stark. Das schickSAAL* versucht diese für kollektives Arbeiten wichtigen Werte zu vermitteln. Auch durch Veranstaltungen, die – wenn keine Corona-Pandemie am Toben ist – regelmäßig im Café/Kneipe stattfinden: Filme, Konzerte, Lesungen, Diskussionsveranstal-tungen, Ausstellungen. Auch Gruppen, die dem Kollektiv nahe stehen, können im Laden Veranstaltungen durchführen. „Wir wollen nicht nur ein Konsumladen sein. Klar ist es okay, einfach entspannt ein Bier zu trinken, aber es ist mega okay, dabei noch was anderes mitzunehmen. Vielleicht was zum Nachdenken…“

Erholungsangebot

Die Clemensstraße ist einen kleine, nur 90 Meter lange Straße mitten in der Lübecker Innenstadt. Dort sind fünf Kneipen zu Hause. Es handelt sich um die „Szenestraße“ Lübecks. An einem normalen Samstag Abend bewegen sich etwa 300-500 Menschen durch die Straße. Es wird bis früh morgens gefeiert.
Damit Menschen trotzdem schlafen können, wenn sie es wollen, haben die Kollektivistas* gut vorgesorgt. Es gibt super Schallschutzfenster, die ruhige Nächte versprechen. Wer nicht gerne mit anderen in einem Zimmer schläft – wie in Hostels üblich – kann sich ein Privatzimmer mit Doppelbett buchen. Sonst übernachtet Mensch in fünf bis zehn Bett Zimmern. Die All-Gender-Sanitärräume sind – wie das ganze Haus – kreativ und mit viel Liebe gestaltet und auch hier gleicht kein Klo dem anderen. Zwei gemütliche Selbstkochküchen stehen den Gästen zur Verfügung.
Die Leute des Kollektivs kennen sich in Lübeck und Umgebung aus und können Tipps geben, wohin es sich zu radeln lohnt, wo sich Boot fahren lässt, oder was es sonst so zu tun gibt, wenn Du Urlaub bei uns machen willst. Lübeck ist ein bisschen piefigbürgerlich, aber auch charmant und hübsch. Die Stadt hat viel Wasser und Grün drumherum und die Ostsee ist nah.
Das erste Jahr hat das Kollektiv versucht ohne Buchungsportale auszukommen, hat Flyer verschickt und viel Werbung gemacht. Nach einem Jahr ging den Kollektivistas* – auch Corona bedingt – die Puste aus, und sie beschlossen doch ein Buchungsportal hinzu zuschalten. Sofort schnellten die Buchungen in die Höhe und im Sommer 2020 war das Haus an einigen Wochenende voll belegt. Für dieses Jahr gibt es aber noch Plätze. Die Hoffnung vielleicht in zwei/drei Jahren aus dem Vertrag wieder rauszugehen bleibt bestehen: „Ich fände es toll, wenn wir ein echter (linker) Geheimtipp werden und uns keine Sorgen über genügend Gäste machen müssen“.“

Kollektiv schickSAAL*
Clemensstraße 7,
23552 Lübeck
Tel: 0451-30808310
https://schicksaal.net/