Dystopien & Utopien

Und wozu wir sie brauchen

| Kerstin Wilhelms

Foto: wwwuppertal via flickrcom (https://flic.kr/p/jbzE6n), (CC BY 2.0)

Was Utopien und Dystopien sind, ist nicht so leicht zu klären. Viele verschiedene Begriffsbestimmungen konkurrieren, verschiedene Konzepte werden diskutiert und sind nützlich, um unterschiedliche Aspekte des Utopischen zu beleuchten. Man muss sich unter ‚Utopie‘ und ‚Dystopie‘ also eher einen Diskurs, eine dauerhafte Diskussion um das, was die beiden Konzepte ausmacht, vorstellen denn feststehende Begriffe. Dass sie aber immer wieder diskutiert werden, zeigt auch, dass die beiden Konzepte wichtig sind. Es geht hier also darum, in Kürze den historischen Diskurs des Utopischen und Dystopischen nachzuzeichnen und zu zeigen, was ihn so relevant macht und relevant hält.

Das ideale Leben im ‚Anderswo‘

Vorstellungen vom idealen, schwer zu erreichenden, aber wünschenswerten Leben hat es schon immer gegeben. In der westlichen Kultur war hierfür lange Zeit das Christentum zuständig, das das ideale Leben aber als Verlust des Paradieses entwarf und nur im Nachleben, also nach dem Tod im Himmelreich Gottes, die Heimkehr ins Paradies versprach – vorausgesetzt man führte ein gottgefälliges Leben. Damit war das Ideale zu einem mächtigen Instrument geworden, das den Menschen eine bestimmte Lebensführung abzwang, die allein dazu führen sollte, den Zugang zum Paradies zu gewähren.
Mit der Utopie änderte sich das, und es ist kein Zufall, dass Thomas Morus den Begriff 1516 mit seinem Roman De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia) prägte, zu einer Zeit also, als die Macht des Christentums zu bröckeln begann und die wir heute als Ende des Mittelalters und als Beginn der Frühen Neuzeit verstehen. Diese Zeitenwende ist bei Morus dadurch angelegt, dass das paradiesische Utopia nicht mehr im göttlichen Reich, sondern innerweltlich angelegt ist, also kein Versprechen auf Erlösung bei konformer Lebensführung mehr beinhaltet. Morus entwirft stattdessen einen idealen, quasi-kommunistischen Staat auf der Insel Utopia und setzt damit die Maßstäbe für das Utopische, die zum Teil bis heute gelten: Zum einen ist die Utopie an einen anderen Raum gekoppelt, ein Anderswo, das sich zum zweiten natürlich dadurch auszeichnet, dass es fiktiv, also erdacht, ist. Der Begriff ‚Utopie‘ bezeichnet genau dies: griechisch οὐ und τόπος, ‚nicht‘ und ‚Ort‘, Nicht-Ort, ein Ort also, der nicht existiert. Das Fiktive der Utopie ist zwar grundlegend für den Begriff, bedeutet aber nicht, dass die Utopie nichts mit der Realität zu tun hat. Schon Thomas Morus nutzt die Utopie zur kritischen Spiegelung der realen gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit, und so ist die Utopie von Beginn an eng mit dem Politischen, dem Kritischen und dem Wunsch nach realer Veränderung verbunden.

‚Anderswo‘ und ‚Anderswann‘

Mit dem 1771 erschienenen Roman L’An deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut jamais (Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume) von Louis-Sébastien Mercier verschiebt sich das Utopische von einer räumlichen zu einer zeitlichen Vision und wird dadurch noch stärker als etwas entworfen, das es in der Zukunft und für die Zukunft zu realisieren gilt. Damit ist das Utopische endgültig im Raum des Politischen angekommen, indem es nun als Navigationsinstrument für gegenwärtige Zukunftsgestaltung dient. Schnell entstehen politische Strömungen, die sich der Verwirklichung von Utopien widmen, z. B. die Frühsozialist:innen, die in England im frühen 19. Jahrhundert die ersten Gewerkschaften gründeten.
Zur gleichen Zeit etwa wurde der Begriff des Utopischen zum politischen Vorwurf, man könnte sagen zum Schimpfwort, indem er das Unrealistische, Unrealisierbare des politischen Entwurfs brandmarkte. Dieser Trend setzte schon früh auch innerhalb der sozialistischen Bewegungen ein und wurde spätestens mit Friedrich Engels’ Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880) zementiert. Damit wurde das Utopische dem Wissenschaftlichen gegenübergestellt, als unvereinbare Kategorien, die die Vertreter:innen der ersteren zu unrealistischen Träumenden, die der letzteren zu realistischen Zukunftsforschenden und -gestaltenden macht. Bis heute wird der Begriff der ‚Utopie‘ von selbsternannten Realpolitiker:innen ins Feld geführt, um Vorstellungen von einer besseren Zukunft (wie auch immer diese dann konkret aussehen) den Wind aus den Segeln zu nehmen.

An dieser sehr kurzen Geschichte des utopischen bzw. dystopischen Denkens kann gesehen werden, dass das Utopische und Dystopische Formen der kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart sind, Tätigkeiten, die auf die Verbesserung der Realität ausgerichtet sind und damit gerade nicht ‚utopisch‘ im negativen Sinne als Ausdruck von grundsätzlicher Unrealisierbarkeit.

Das Ausflaggen des Marxismus als ‚wissenschaftliche‘ Theorie war eine Reaktion auf diesen Vorwurf, diskreditierte das Utopische aber zusätzlich. Doch der Erfolg gab seinen Anhänger:innen Recht. Der Marxismus setzte sich als einflussreichste ‚linke‘ Ideologie durch und verdrängte damit den ebenfalls als ‚idealistisch‘ oder ‚utopistisch‘ gebrandmarkten Anarchismus um Michail Bakunin. Das Utopische war damit erst einmal vom Tisch.

Dystopische Schreckensvisionen

Stattdessen erhielten zwei andere Formen des Zukünftigen Aufwind: das Szenario und die Dystopie. Während das Szenario auf der Basis realer Daten Trends berechnet und bestimmte Eventualitäten durchspielt und so mit dem Realen, weniger mit dem Idealen im Bunde steht, ist die Dystopie der Gegenbegriff zur Utopie: ein Schreckensentwurf, eine negative Utopie. Doch schon der Begriff Dystopie macht deutlich, dass sich Dystopie und Utopie eher wie zwei Seiten einer Medaille zueinander verhalten. Die griechische Vorsilbe δυς bedeutet nämlich ‚un-‘. Wenn aus dem Nicht-Ort ein Un-Ort wird, zeigt das an, dass es sich zwar nicht mehr um ein Ideal, nicht mehr um etwas Wünschenswertes handelt, aber doch bestimmte Aspekte zutreffen, die vom Utopischen schon bekannt sind: Vor allem das Fiktive und die örtliche Lokalisierung bleiben im Begriff bestehen. Ebenso teilen sich Utopie und Dystopie die Funktion, gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse kritisch zu spiegeln. So lässt sich die vermutlich bekannteste Dystopie, George Orwells Nineteen Eighty-Four (dt. 1984, im Jahr 1949 erschienen), als düstere Prognose der sozialistischen Staatsüberwachung ‚hinter‘ (aus Orwells Perspektive) dem Eisernen Vorhang lesen. Die prophetische Kraft dieses Romans ist im Nachhinein erschreckend, zumal Orwell nicht nur die repressive Gewalt von sich als ‚sozialistisch‘ bezeichnenden Diktaturen sehr früh erkannte, sondern auch schon den Einsatz von Technologien zur Überwachung von Einzelpersonen in ihrer privaten Umgebung vorhersah. Dystopien dienen also einem ähnlichen Zweck wie Utopien, indem sie kritisch Bezug auf als negativ wahrgenommene Vorgänge in der Gegenwart nehmen. Dabei entwirft die Utopie eine positive Alternative, während die Dystopie gegenwärtige Prozesse weiterdenkt und als Warnung fungiert.
Es ist nicht unbedingt erstaunlich, dass die Utopie mit den 1968ern wieder an Prominenz gewann. Mit den Studierendenbewegungen und der zunehmenden Politisierung der Post-Adenauer-Gesellschaft wurden alternative Lebensentwürfe diskutiert, die den Kapitalismus, das Patriarchat und das spießbürgerliche Leben infrage stellten. Da fiel Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung (1954 in der DDR, ab 1959 in der BRD erschienen) wie warmer Regen auf trockenen Boden. Bloch verlagert die Utopie in die Gegenwart – als Vorschein, als konkrete Utopie, die der aufmerksame Geist, das ‚utopische Bewußtsein‘, wie es bei ihm heißt, aus dem Gegenwärtigen herauslesen und produktiv machen kann. Hier sieht er vor allem das Feld der Künste als Labor des Zukünftigen am Werk, das künstlerische Genie, vor allem in der Musik, aber auch die Zuhörenden und Zuschauenden, die in der Kunst auf den Vorschein des Idealen stoßen, als wirkmächtige Akteur:innen. Wichtig ist, dass bei Bloch das Utopische kein Un-Ort oder Nicht-Ort, keine unrealisierbare Zukunftsvision mehr ist, sondern eine Tätigkeit kritisch denkender Menschen im Hier und Jetzt – und zwar aller Menschen, nicht nur der Philosoph:innen und Literat:innen. Das ist eine so fundamentale Verschiebung des Utopischen, dass Blochs Werk als Meilenstein des Diskurses ums Utopische zu verstehen ist. Dabei greift schon Bloch auf einen wirkmächtigen Vorgänger zurück, Karl Mannheim, der den berühmten Satz formulierte: „Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ‚Sein‘ nicht in Deckung befindet”. (1) Dieser Satz ist zentral für das Verständnis vom Utopischen als denkender Tätigkeit und unterstreicht noch einmal die politische Ausrichtung des Utopischen (und auch Dystopischen) als Einspruch gegen die Wirklichkeit der Gegenwart.

Retrotopie und Katastrophe

Der Diskurs um das Utopische, den ich hier versucht habe in aller Kürze und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu skizzieren, ist mit Blochs wirkmächtigem Prinzip Hoffnung noch längst nicht beendet. Erst kürzlich entwarf Zygmunt Bauman einen neuen Begriff, die ‚Retrotopie‘, die er gegenwärtig als Prinzip der Zukunftsmodellierung beobachtet – problematischerweise. Denn in Retrotopien, so Bauman, ist eine Nostalgie am Werk, die eine so nie vorhanden gewesene Vergangenheit als Ideal in die Zukunft projiziert. Diese rückwärtsgerichtete Utopie, die in der Illusion einer idealen Vergangenheit ein Versprechen von Gemeinschaft, Halt und Sicherheit für eine immer unsicherer werdende Zukunft sucht, fungiert vor allem als Triebfeder ‚rechter‘ Ideologien. Die Unsicherheit unserer Zukunft, das beobachtet auch Eva Horn, führt dazu, dass in Romanen, Filmen etc. das Zukünftige als Katastrophe modelliert wird, was sie – traurigerweise wohl zu Recht – als Szenarien, nicht als Dystopien, deutet.
An dieser sehr kurzen Geschichte des utopischen bzw. dystopischen Denkens kann gesehen werden, dass das Utopische und Dystopische Formen der kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart sind, Tätigkeiten, die auf die Verbesserung der Realität ausgerichtet sind und damit gerade nicht ‚utopisch‘ im negativen Sinne als Ausdruck von grundsätzlicher Unrealisierbarkeit. Was utopisch, also wünschenswert, oder dystopisch ist, ist dabei abhängig von den Akteur:innen, die diese Vorstellungen entwerfen. Wir brauchen also unsere Utopien und Dystopien, damit wir denen von anderen, z. B. den Retrotopien, etwas entgegenhalten können. Diese Notwendigkeit zum utopischen Denken erklärt die anhaltende Diskussion um dessen Ausprägungen und Formen.

(1) Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 7. Auflage, Frankfurt a. Main: Klostermann 1985, S. 169.

Literatur:
Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 7. Auflage, Frankfurt a. Main: Klostermann 1985.
Thomas Morus, Utopia, übers. v. Hermann Kothe, Köln: Anaconda 2009.
Louis-Sébastian Mercier, Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume, übers. v. Christian Felix Weiße, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982.
Friedrich Engels, Socialisme utopie et socialisme scientifique. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin: Dietz 1980.
George Orwell, Nineteen Eighty-Four, London: Penguin 2021. / 1984, übers. v. Simone Fischer, Hamburg: Nikol 2021.
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980.
Zygmunt Bauman, Retrotopia, Cambridge: Polity Press 2017 / Retrotopia, übers. v. Frank Jakubzik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017.
Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M.: Fischer 2014.

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