Wohlstand für alle!

Eine Wiederaneignung von Peter Kropotkins Theorie des kommunistischen Anarchismus

| Jonathan Eibisch

Welchen Themengebieten und Disziplinen widmete sich Kropotkin? Welche Rolle spielte Wirtschaftstheorie in seinem Gedankengut? Und welche Ethik? Wie hat er seine Theorie des kommunistischen Anarchismus mit praxisorientierten Ansätzen verknüpft? Jonathan Eibisch versucht sich an einem knappen Überblick über das Gesamtwerk des anarchistischen Denkers Peter Kropotkin, um zu einer neuen Beschäftigung mit seinen Grundgedanken und seiner Perspektive anzuregen. (GWR-Red.)

Ein bewegtes Leben, der Sache gewidmet

Am 8. Februar 1921, also vor inzwischen über 100 Jahren, starb Peter Kropotkin, einer der wichtigsten Denker der anarchistischen Bewegung. Auch wenn anarchistische Geschichten und Personen im deutschsprachigen Raum leider weniger bekannt sind als etwa in Großbritannien, Spanien, Italien oder Frankreich, haben sicherlich die meisten irgendwie Linken auch hierzulande schon mal von Kropotkin gehört. Nun ist es gerade unter Anarchist*innen teilweise verpönt, an vermeintlich wichtige Personen zu erinnern oder gar Kulte um sie zu errichten. Dies bezieht sich auch auf den „anarchistischen Prinzen“, der zwar sehr bescheiden auftrat, aber dennoch so stark von seinen eigenen Ansichten überzeugt war, dass es offenbar nicht so einfach war, mit ihm zu kooperieren, wie etwa seine Zeitgenossen Max Nettlau oder Errico Malatesta anmerkten.

Dennoch kann das historische Datum Anlass für eine Wiederaneignung von Kropotkins Theorie sein. Zunächst ist da seine recht eindrucksvolle Biographie. Angewidert vom Autoritarismus des Zarenreiches verließ er seine soziale Klasse, den russischen Hochadel, um ein anerkannter Geograph zu werden und sich dann sozialrevolutionären Bewegungen anzuschließen. Dies brachte ihm fünf Jahre Haft erst in Petersburg und dann bei Lyon ein. Aus dem ersteren Gefängnis gelang ihm 1876 eine spektakuläre Flucht nach Westeuropa, wo er 40 Lebensjahre im Exil verbrachte. Zu letzterer Haftstrafe wurde er als prominente Figur der anarchistischen Bewegung für militante Akte während eines französischen Bergarbeiterstreiks 1882 verurteilt, mit denen er nichts zu tun hatte. Nur auf internationalen politischen Druck hin wurde er schließlich vorzeitig entlassen. Er lebte und wirkte in der Schweiz, in England und Frankreich. Im hohen Alter kehrte er während der Revolution 1917 nach Russland zurück und wurde dort mit begeisterten Demonstrationen von Genoss*innen empfangen. Kein Wunder, denn Kropotkins Schriften wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und fanden vor allem in Form von Broschüren weite Verbreitung unter Anhänger*innen des libertären Sozialismus, vorrangig in der Arbeiter*innenbewegung. Seine Auseinandersetzung mit Lenin ist eine Wegmarke bei den grundlegenden Differenzen zwischen Anarchist*innen und autoritären Parteikommunist*innen.

An dieser Stelle möchte ich allerdings vor allem einen knappen Eindruck von Kropotkins Gesamtwerk vermitteln, um deutlich zu machen, warum dieses auch heute noch interessant ist und einer Wiederaneignung lohnt. Zunächst ist dabei zu bemerken, dass Kropotkin den kommunistischen Anarchismus zwar als „linken Flügel“ der Arbeiter*innenbewegung verstand, dieser aber nicht einfach als Bindeglied oder Mischform zwischen Kommunismus und Anarchismus angesehen werden kann, sondern als eigenständige Strömung begriffen werden muss. Mit dieser wird der Fokus auf eine selbstorganisierte und autonome sozial-revolutionäre Bewegung gelegt, welche in ihren Auseinandersetzungen, Praktiken und Organisationsformen die erstrebenswerte libertär-sozialistische Gesellschaftsform bereits vorwegnimmt. Dabei geht es um eine Ermächtigung der unterschiedlichen ausgebeuteten und unterdrückten sozialen Klassen, die sich in ihrem gemeinsamen Interesse zusammenschließen, um die Herrschaftsordnung zu überwinden und an ihrer Stelle die Anarchie zu verwirklichen. Staatlichkeit wird von Kropotkin nicht allein als Reihe von Institutionen verstanden, sondern als Prinzip von („angemaßter“) Autorität, Hierarchie und Zentralismus. Demgegenüber sollen mit dem kommunistischen Anarchismus Freiwilligkeit, soziale Gleichheit und Föderalismus verwirklicht werden.

Kein utopischer Reißbrett-Entwurf, sondern rationale Begründung der machbaren Alternative

Im Unterschied etwa zu Bakunin, der es nicht als Aufgabe der Revolutionär*innen ansah, sich Vorstellungen von einer erstrebenswerten Gesellschaft zu machen, weil diese nur aus der Negation des Bestehenden hervorgehen könne, skizzierte Kropotkin einen solchen positiven Gesellschaftsentwurf. Viel mehr als unvermeidliche Aufstände und revolutionäre Umbrüche sei interessant, was vor diesen und was nach diesen geschehe. Mit einer Revolution werde also nicht von sich aus sozialer Fortschritt oder Freiheit ermöglicht, weswegen es umso mehr darauf ankomme, wie sich die sozialen Bewegungen organisieren, wie sie kämpfen und woraufhin sie sich orientieren würden. Dabei betonte Kropotkin vehement, dass es sich bei seinen Überlegungen nicht um „utopische“ Konzeptionen, sondern um eine prinzipiell erkämpfbare, realistische und vor allem rational begründete gesamtgesellschaftliche Alternative handle. Über die Details hinaus ist es meines Erachtens insbesondere jenes Anliegen, weswegen Kropotkins Herangehensweise für uns heute interessant ist. Einerseits besteht heute eine gut begründete Kritik an verschiedenen Aspekten des kapitalistischen Staates und den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen, andererseits finden sich in sozialen Bewegungen jahrzehntelange Erfahrungen mit alternativen emanzipatorischen Strukturen, Lebensstilen und „radikalen“ Politikformen. Was jedoch nur in Ansätzen und teilweise vorhanden und teilweise leider nicht ernst zu nehmen ist, sind geteilte Visionen, wie es grundlegend anders werden und wo es hingehen kann.

Kropotkin war sich darüber bewusst, dass der Entwurf einer alternativen Moderne nicht am Schreibtisch eines Intellektuellen erarbeitet werden kann. Daher mischte er sich immer wieder mit Beiträgen in aktuelle Debatten ein, bezog sich sowohl auf tagesaktuelle politische Entwicklungen und Diskussionen in der anarchistischen Szene als auch auf wissenschaftliche Forschungen verschiedener Disziplinen, mit denen er analog zu Marx’ „wissenschaftlichem“ Sozialismus einen „wissenschaftlichen“ Anarchismus begründen wollte. Die in seinen Schriften ausformulierten Darstellungen und Vorschläge sind daher keine bloßen Kopfgeburten, sondern akribische Auseinandersetzungen mit den Bedingungen seiner Epoche. Aber – und das macht sie einerseits problematisch, andererseits zugleich paradoxerweise aktuell – Kropotkin ist in seinem gesamten theoretischen Werk angetrieben von einem ausgeprägten Begriff sozialer Gerechtigkeit und der unkritischen Begeisterung für die Möglichkeit der „wissenschaftlichen“ Erarbeitung einer den „natürlichen“ Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen am besten entsprechenden Gesellschaftsform. Darüber hinaus ist er der absoluten Überzeugung, dass gesellschaftliche Ordnung weit besser ohne Staat und Kapitalismus eingerichtet werden kann und jene Herrschaftsverhältnisse keineswegs die Vorbedingungen für den libertären Sozialismus seien.

Damit komme ich zu einem Überblick über seine Schriften, die teilweise erst später in Büchern zusammengefasst wurden. Bei der Darstellung ergibt es Sinn, chronologisch vorzugehen, um Kropotkins Entwicklung aufzuzeigen. Seine anerkannten geographischen Beiträge blende ich dabei aus und konzentriere mich auf jene, die für die politische Theorie des kommunistischen Anarchismus relevant sind. Erstere waren allerdings insofern prägend für Kropotkins Perspektive und Persönlichkeit, als dass er durch seine geographische Forschung eine Begeisterung für Naturwissenschaften generell entdeckte und ein tiefgreifendes Verständnis für die Einbettung von Menschen in ihre Lebenswelten entwickelte. Schließlich stieß er bei seinen Forschungen in Ostsibirien auf indigene Gruppen, die in ihrem ganzen Leben noch nie etwas vom Staat gehört hatten – und damit ganz gut zurechtkamen.

Überblick über Kropotkins Gesamtwerk

Kropotkins politisch-agitatorische Frühschriften sind in Worte eines Rebellen (1885) gesammelt, in denen er für die soziale Revolution plädiert und diese in Abgrenzung zur Sozialdemokratie und dem Staatskommunismus begründet. Er fasst die Grundaspekte der anarchistischen Staatskritik zusammen und befürwortet revolutionäre Minderheiten, die aber keine Avantgarde bilden sollen. Dies bedeutet vor allem, das Klassenbewusstsein, die Organisation und Motivation der Aktiven in den sozialen Bewegungen zu fördern. Darüber hinaus verdeutlicht er, dass soziale und politische Rechte und Freiheiten nichts gelten, wenn sie lediglich formal durch Staaten gewährt werden, sondern erst dann Bedeutung haben, wenn sie zu Gewohnheitsrechten werden und in Alltagspraktiken verankert sind. Nach seiner Freilassung aus französischer Haft schrieb er mit In Russian and French Prisons (1887) eine umfassende Kritik an Gefängnissen und Strafen.
Die Eroberung des Brotes (1892), aus welchem die bekannte Parole „Wohlstand für Alle“ stammt, ist eines meiner persönlichen Lieblingswerke Kropotkins. Anders als Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie widmet sich Kropotkin der Ausarbeitung einer politischen Wirtschaftstheorie für eine Gesellschaft auf Grundlage anarchistischer und kommunistischer Vorstellungen. Damit will er nachweisen, dass Wohlstand für alle gewährleistet werden kann, wenn die bestehende Gesellschaft grundlegend reorganisiert wird. Fünf Stunden gesellschaftlich notwendige Tätigkeit pro fünfköpfigem Haushalt täglich würden völlig ausreichen, um allen Menschen gleichermaßen ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Dazu wären selbstredend die Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel, aber auch eine kollektive Organisation des Konsums notwendig.
Das Buch Die große französische Revolution 1789-1793 (1893) stellt eine Geschichtsschreibung „von unten“ dar, in welcher Kropotkin der bürgerlichen Geschichte jene der Volksklassen entgegensetzt, die über Jahrzehnte hinweg selbstständig direkte Aktionen ausgeübt hätten und dann vom Bürger*innentum verraten worden seien, welches eine neue Herrschaftsordnung errichtet habe.

Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1896) ist ein Beitrag, in welchem der Theoretiker den bereits erwähnten „wissenschaftlichen Anarchismus“ zu begründen versucht, wobei dieser kein „philosophisches System“, sondern eine reale Strömung in der Arbeiter*innenbewegung sei. Mit Die historische Rolle des Staates (1898) versucht sich Kropotkin – wie der Titel schon sagt – an einer historisch-kritischen Analyse der Entstehung des modernen Staates, wobei er eine Idealisierung der mittelalterlichen Städte und Dorfgemeinden des 12. Jahrhunderts betreibt, was ihm den Vorwurf einbrachte, anti-modern zu denken. Meiner Ansicht nach ist dieser Vorwurf nicht berechtigt, wenn man Kropotkins Gesamtwerk betrachtet. Auch seine Behauptung, dass das „anarchistische“ Modell einer Föderation dezentraler, autonomer Kommunen durch die Geschichte hindurch immer wieder aufkomme und umgesetzt werde, halte ich für plausibel. Dagegen ist Kropotkin vorzuwerfen, dass er die repressiven Aspekte nicht-staatlicher Herrschaft im Feudalismus – wie etwa persönliche Abhängigkeiten und Fronarbeit – weitgehend ausblendet.
In seiner Schrift Landwirtschaft, Industrie und Handwerk (1898) legt er den Fokus dagegen wieder auf die Konzeption einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform. Er fordert darin eine Dezentralisierung der Industrie, die aufgrund der Arbeitsteilung in vielen Bereichen möglich sei, und eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe, um koloniale Abhängigkeiten und internationale Konkurrenz zu verringern. Statt für eine Verstädterung tritt er für eine Dezentralisierung urbaner Lebensräume ein. Weiterhin brauche der einzelne Mensch eine gleichmäßige Tätigkeit in industriellen, handwerklichen, landwirtschaftlichen und intellektuellen Bereichen. Zu diesem Zweck müsse eine umfassende „integrale“ Bildung für alle gewährleistet werden.
Mit 55 Jahren schreibt er seine Memoiren eines Revolutionärs (1899) und beschäftigt sich mit Idealen und Wirklichkeit in der russischen Literatur (1901). Sowohl das Schreiben seiner eigene Biographie als auch jenes über Literatur entspricht allerdings keineswegs einer schriftstellerischen Leidenschaft, sondern er stellt es in den Dienst von Propaganda durch das Aufzeigen emanzipatorischer Alternativen.

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902) ist vermutlich Kropotkins bekannteste Aufsatzsammlung, die zunächst im englischen Naturwissenschaftsmagazin Nineteenth Century publiziert wurde. Darin wendet er sich in Anschluss an die Evolutionstheorie von Darwin gegen den so genannten Sozialdarwinismus, mit welchem in einer Krise des Kapitalismus begründet werden sollte, warum jener eine „naturgemäße“ Gesellschaftsform sei. Ohne Konkurrenz zu leugnen, weist Kropotkin ausführlich nach, dass ganz im Gegenteil Kooperation der entscheidende Faktor der Evolution sei. Sein Rückschluss von den natürlichen Instinkten nicht-menschlicher Tiere auf Menschen hinkt dabei, da das Leben in Gesellschaft andere Dynamiken aufweist als die Geselligkeit bei Tieren. „Solidarität“ ist kein Naturgesetz, sondern ein ethisch-politischer Standpunkt, welcher dementsprechend eine bewusste Entscheidung verlangt. Dennoch lassen sich aus der von Kropotkin angelegten Perspektive viele Einsichten und Erkenntnisse ableiten, die heute teilweise auch evolutionsbiologisch begründbar sind.
Den Abschluss seines Werkes bildet seine Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten (1923), von welcher er vor seinem Tod nur den ersten Band fertigstellen konnte. Darin entwickelt er die Grundlagen einer materialistischen Ethik, welche die Bedürfnisse von Menschen in ihrem jeweiligen geschichtlichen und sozialen Kontext, anstatt etwa religiöse oder philosophische Moralsysteme, zum Ausgangspunkt nimmt. Eine moderne und rationale Ethik müsse dabei eine Synthese zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bestrebungen der Einzelnen zum Ziel haben.

Schlussfolgerungen

Betrachten wir Kropotkins Werk in seiner Gesamtheit, zeigt sich, dass dieser sich verschiedenen Themengebieten und Disziplinen widmete. Von der Geographie gelangte er zur politischen Anthropologie und Geschichte sozialer Bewegungen. Daran schließt er eine anarchistische Wissenschaftstheorie an. Seine Staatstheorie und -kritik ist mit einer Wirtschaftstheorie des anarchistischen Kommunismus verknüpft. Geschichtsphilosophie und Menschheitsgeschichte bilden den großen Hintergrund seiner Überlegungen. Letztendlich ist es aber die Ethik, welche Kropotkins ganzes Denken, Forschen und Schreiben motiviert und die gewissermaßen seinen Ausgangs- und Schlusspunkt bildet. Dieses ethische Leben ist ebenso wie die Gesellschaftsform, die es ermöglicht, nicht einfach gegeben, sondern muss durch autonome und emanzipatorische soziale Bewegungen erkämpft und verwirklicht werden. Wenngleich Kropotkin der Frauenbewegung seiner Zeit bedauerlicherweise nicht den ihr gebührenden Stellenwert einräumte, so weisen seine Überlegungen doch äußerst progressive ökologische und anti-koloniale Aspekte auf. Statt „Antikapitalismus“ oder „Antistaatlichkeit“ als leere linksradikale Phrasen zu verwenden, skizzierte er Bedingungen und Formen eines dezentralen Sozialismus, föderativer und autonomer Kommunen. Damit zeigte er Fluchtlinien zu einer erstrebenswerten Gesellschaftsform auf, die aus vernünftigen Gründen verwirklicht werden kann.

Ein Vortrag von Jonathan Eibisch über Kropotkins Theorie des kommunistischen Anarchismus steht unter https://vimeo.com/522368590 zur Verfügung.
Andere Texte des Autors finden sich auf 
www.paradox-a.de