Interview

Die Eroberung des Brotes

Stephanie Wild vom Netzwerk Solidarische Landwirtschaft über die Covid-Auswirkungen auf die Solawi, Vorteile regionaler Lebensmittelproduktion und einen Topf, der die Runde macht

| Interview: Daniel Korth

Fotos: © Solidarische Landwirtschaft e.V.

Covid-19 offenbart die Zerbrechlichkeit unserer auf Profit und Wirtschaftswachstum basierenden Gesellschaft. Sechs Wochen Stillstand und die Weltwirtschaft taumelt in eine Rezession, so bedrohlich, dass die Bundesregierung der Schwarzen Null abschwört und ein Vorstandsmitglied von Black Rock das Wort „Schuldenschnitt“ in den Mund nimmt.

Wie aber bewähren sich solidarische Strukturen in der Krise? Bieten Solidarität und gegenseitige Hilfe ein Mittel gegen die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie oder scheitern sie genauso kläglich wie die „freie Marktwirtschaft“? Das folgende Gespräch zwischen GWR-Mitherausgeber Daniel Korth und Stephanie Wild vom Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V. untersucht diese Frage am Beispiel der Solidarischen Landwirtschaft, einer weltweiten Bewegung, die die Produktion von Nahrungsmitteln der Logik des Marktes entzieht. (GWR-Red.)

GWR: Hallo Stephanie! Bitte erklär uns zuerst, was Solidarische Landwirtschaft (Solawi) ist, wie sie funktioniert und was der Unterschied von Solawi z.B. zu einem normalen Biobauernhof ist.

Stephanie Wild: Das grundlegende Element der solidarischen Landwirtschaft ist, dass es keine Preise im herkömmlichen Sinne und auch keinen Verkauf von Waren gibt, sondern eine Solidargemeinschaft, die gemeinsam die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebes oder einer Gärtnerei auf Grund einer vorausschauenden Jahresplanung finanziert. Wichtig ist auch, dass der Verbraucher, die Verbraucherin aufgerufen ist zu partizipieren und aus einer reinen Konsumhaltung oder Konsument*innenhaltung heraustritt und mitgestaltet.

GWR: Das heißt, es gibt einen Bauernhof und ein Netzwerk von Leuten, die die Produkte abnehmen?

S.W.: Genau. Wir sprechen immer von Erzeugern oder Erzeugerinnen. Das kann eine Gärtnerei sein oder ein landwirtschaftlicher Betrieb, irgendwo wo Lebensmittel hergestellt werden und es ein Umfeld von Menschen gibt, die von diesem Betrieb versorgt werden. So was kann nicht nur von Erzeugerseite initiiert werden, sondern normale Verbraucher*innen können sagen: „Ich möchte so was initiieren und mich dafür einsetzen“ und sich dann Mitstreiter*innen suchen. Wer das will, kann sich dann bei uns, dem Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V., melden und wir helfen Verbraucher*innen wie Erzeuger*innen dieses Konzept umzusetzen.

GWR: Und was sind die Vorzüge dieses Konzepts für die Produzent*innen und Konsument*innen?

S.W.: Grundsätzlich ist Solawi eine bedürfnisorientierte Wirtschaftsweise. Das heißt, die Erzeuger*innen wissen, für wen sie produzieren und auch, dass sie ein gesichertes Einkommen haben. Dadurch haben sie Planungssicherheit und es gibt eine Risikoteilung. Gerade in der Landwirtschaft sind die Menschen sehr von äußeren Umständen wie dem Wetter, dem Schädlingsdruck oder den Bodenverhältnissen abhängig. Das sind Faktoren auf die sie keinen starken Einfluss haben. Deshalb können Sachen auch einfach schief gehen, ohne dass jemand etwas dafür kann. In der Solidarischen Landwirtschaft müssen sie dieses wirtschaftliche Risiko nicht allein tragen, sondern die Verbrauchergemeinschaft ist bereit, in so einem Fall dafür einzustehen, so dass der Betrieb auch im kommendem Jahr weiter lebt und nicht in seiner Existenz bedroht ist.

GWR: Das heißt, in schlechten Jahren gibt es ein bisschen weniger und in guten Jahren ein bisschen mehr?

S.W.: Ja, oft hängt dies auch mit dem Sortiment zusammen. Meistens ist es ja nicht so, dass alles schief geht und z.B. ein Hagelschaden, die ganze Ernte zerstört. Je mehr verschiedene Produkte es gibt, umso mehr können Dinge ausgeglichen werden und dann gibt es vielleicht mal von einer Sache ein bisschen weniger aber dafür kann es sein, dass z.B. die Gewächshauskulturen auf einmal besonders viel Ertrag geben. Das gehört ja auch zum Risiko, dass man auch die guten Ernten nicht planen kann. Unter Umständen hat man dann große Mengen, die verarbeitet werden müssen. Oder man macht sich Gedanken, wer diese verwenden kann, so dass eben nichts weggeworfen oder verschwendet wird.

GWR: Helfen die solidarischen Unterstützer*innen oder Konsument*innen auch bei der Arbeit mit?

S.W.: Ja, wir sprechen immer von Mitgliedern oder Ernteteiler*innen, um auszudrücken, dass wir das reine Konsumverhalten und die Passivität überwinden wollen. „Sich die Ernte teilen“ ist ein aktiver Begriff, und bei den allermeisten Solawis ist es so, dass die Mitglieder für die Verteilung der Ernte verantwortlich sind. Man kann natürlich überlegen, für wen es mehr Sinn macht mit dem Lieferwagen Depots anzufahren, aber es gibt keine abgepackten Gemüsekisten, die dann zur Haustür gebracht werden. Meistens gibt es Abholstationen an Orten, an denen mehrere Mitglieder die Möglichkeit haben sich z.B. mit dem Fahrrad ein- oder zweimal die Woche die Produkte abzuholen. Diese Depots sind in der Regel selbst organisiert, die Betreuung wird von den Mitgliedern selbst gestaltet.

 

GWR: Wie groß muss ich mir eine Solawi vorstellen? Wie viele Ernteteiler*innen gibt es, die einen Hof unterstützen, bzw. von ihm versorgt werden?

S.W.: Wenn man von Solawi spricht, gibt eine riesengroße Spannbreite. Eine Solawi ist nicht notwendig nur ein Hof oder ein Betrieb. Es gibt auch Betriebskooperationen, wo sich verschiedene Betriebe spezialisiert haben, was in vielen Bereichen durchaus Sinn macht. Auch die Weiterverarbeitung, z.B. eine Bäckerei, Käserei oder was man sich noch so vorstellen kann, kann mit angeschlossen sein. Die Bandbreite reicht von Verbraucher*innen, die einen Acker pachten und Gärtner*innen finden, die ihnen dort das Gemüse anbauen, bis hin zu Höfen, die bis zu 700 Mitglieder versorgen. Wir haben das Kartoffelkombinat in München, das über tausend Mitglieder hat. Dann gibt es Betriebskooperationen, bei denen mehrere Betriebe eine Verbraucher*innengemeinschaft versorgen. Die meisten Solawis haben zwischen 100 und 200 Mitgliedern. Aber es gibt auch welche, die haben nur 40. Das ist ganz verschieden.

GWR: Solawi ist eine weltweite Bewegung. Kannst Du etwas über die Solidarische Landwirtschaft in anderen Ländern sagen und wie weit sie in Deutschland verbreitet ist?

S.W.: Wir sind in Deutschland Nachzügler mit diesem Konzept. Die Ursprünge finden sich in den Siebzigern in Japan. Dort existiert bis heute die Teikei Bewegung (deutsch „Partnerschaft“) mit über zwei Millionen Haushalten, die daran beteiligt sind. Das hat sich damals auf die USA ausgebreitet und auch in Europa gab es Einzelprojekte, aber nicht organisiert und unter unterschiedlichen Bezeichnungen. Der internationale Begriff ist Community Supported Agriculture (CSA), also gemeinschaftsgetragene Landwirtschaft, oft abgekürzt CSA und seit Anfang der Nuller Jahre gibt es eine internationale Organisation mit dem Namen „Urgency“. Dort sind Projekte aus 40 Ländern angeschlossen, die diese Art von Partizipation in der Lebensmittelversorgung umsetzten.

GWR: Wie groß ist Euer Netzwerk? Wie viel Projekte gibt es in Deutschland?

S.W.: Es gibt eine Liste auf unserer Webseite. Die Betriebe, die gefunden werden möchten, können sich dort eintragen. Das ist die einzige ‚Registrierungsmöglichkeit‘. Es gibt ja keine Pflicht dazu. Zurzeit sind bei uns 281 Betriebe verzeichnet. In Frankreich sind es über 2000, die dieses System praktizieren.

GWR: Wie war die Entwicklung in den letzten Jahren? Ist Solawi etwas, das sich auch in Deutschland ausbreitet?

S.W.: Als wir dieses Netzwerk 2011 gegründet haben, gab es zwölf Betriebe. Jetzt können wir ein kontinuierliches Wachstum beobachten. Fast jede Woche kommt eine Solawi dazu, und es wird – glaube ich – bekannter und einfacher auf dieses System umzusteigen. Am Anfang war das für viele fremd und vielleicht für viele Erzeuger gar nicht vorstellbar. Jetzt gibt es zahlreiche Beispiele, die über Jahre dieses System anwenden, Mut machen und Vertrauen wecken, dass es auch wirklich funktioniert. Daher ist die Hemmschwelle für neue Solawis nicht mehr so groß.

GWR: In den letzten anderthalb Monaten haben viele Unternehmen auf Grund des teilweisen Shutdowns wirtschaftliche Probleme bekommen. Wie hat sich der Shutdown auf die Solidarische Landwirtschaft ausgewirkt? Was für Probleme hattet ihr dadurch?

S.W.: Ich kenne natürlich nicht jede einzelne Solawi. Wir haben aber über unsere Verteiler mehrfach aufgerufen, uns zurückzumelden, ob es auf Grund dieser Situation Schwierigkeiten gibt. Bisher haben wir in dieser Hinsicht nur wenig gehört, höchstens dass es Schwierigkeiten gibt, die große Nachfrage und Anfrage zu managen, die entstanden sind. Das ist das, was eigentlich alle durch die Bank sagen.

Video: Was ist Solidarische Landwirtschaft – Quelle: Youtube

GWR: Die „große Nachfrage“? Das habe ich nicht verstanden.

S.W.: Die erhöhte Nachfrage von Menschen, die in Solawis Mitglied werden möchten. Das spüren alle. Aber das sagen ja auch andere Direktvermarkter. Schwierig war es für einige Solawis innerhalb des Shutdowns die Beteiligung der Mitglieder zu gewährleisten. Also, dass diese vor Ort Aufgaben übernehmen. Beispielsweise musste sich die Verteilung in den Depots auf die Hygienemaßnahmen einstellen und teilweise umstrukturiert werden. Ich hab aber von keinem gehört, dass dadurch eine Solawi ernsthaft in Gefahr geraten wäre.

GWR: Ja, das lässt sich vorstellen, dass jetzt nicht die Möglichkeit besteht, viele Leute auf den Hof zu holen und dann z.B. gemeinsam zu sähen o.ä.

S.W.: Ein anderer Hinweis darauf, dass die Solawis durch die Corona-Krise zurzeit keine wirtschaftlichen Probleme haben, sind die Beiträge für unser Netzwerk, die genau in diesen Wochen fällig geworden sind. Denn wir sind als gemeinnütziger Verein ja über unsere Mitglieder finanziert. Sowohl ganze Solawis können Mitglied im Netzwerk werden, als auch Einzelpersonen, die die Sache an sich unterstützenswert finden. Wir hatten schon gedacht, dass die eine oder andere Solawi jetzt sagt: „Wir sind gerade so unsicher, was unsere Zukunft betrifft. Wir können jetzt nichts mehr zahlen oder wir müssen unseren Beitrag reduzieren.“ Denn die Mitglieder in unserem Netzwerk zahlen ihre Beiträge nach Selbsteinschätzung und da war eher das Gegenteil der Fall. Wir hatten Solawis, die gesagt haben: „Wir haben jetzt mehr Mitglieder, wir können auch mehr zahlen!“ – und wir hatten keinen einzigen Austritt einer Solawi aus diesem Grund.

GWR: Das freut mich zu hören. Als ich mir das Thema für dieses Interview überlegt habe, hatte ich die Hoffnung, dass solidarische Strukturen mit so einer Situation besser zu Recht kommen als andere, weil sie eben keine Waren produzieren, die verkauft werden müssen.

S.W.: Es gibt zwei Sachen, die ich dazu sagen möchte. Das eine ist, dass die meisten Solawis Grundnahrungsmittel produzieren. Wenn ich schauen muss, wie ich über die Runden komme, essen müssen wir alle. Da verzichte ich vielleicht eher mal auf dieses oder jenes und bleibe lieber meiner Solawi treu. Da weiß ich vielleicht nicht ganz genau, was nächste Woche geerntet wird und was ich dann zum Essen bekomme, aber ich weiß ziemlich genau, dass ich was bekomme. Das gibt ein gutes Gefühl in einer Zeit, in der soviel Unsicherheit herrscht. Diesen Effekt spiegeln mir auch viele Mitglieder, dass man nämlich nicht gleich überlegt: „Oh Gott, ich spare jetzt hier an der Solawi“, sondern im Gegenteil. Aber wenn wir wirklich längerfristige Folgen wie Rezession, Inflation, Arbeitslosigkeit etc. zu spüren bekommen, muss es sich noch beweisen, in wie fern die Solidargemeinschaften in der Solidarischen Landwirtschaft das untereinander ausgleichen können.

GWR: Ich habe zur Vorbereitung auf dieses Gespräch einen kurzen Dokumentarfilm gesehen. (2) Da erzählte jemand von einer Solawi aus Freiburg, dass nicht alle Ernteteiler*innen bei ihnen dasselbe zahlen würden, sondern alle ihren Beitrag selbst festlegen.

S.W.: Das ist auch etwas, was sich immer mehr durchsetzt. Es findet ein solidarischer Ausgleich innerhalb der Mitgliederschaft statt, also nicht nur zwischen den Verbraucher*innen und den Erzeuger*innen, sondern auch zwischen den Ernteteiler*innen selbst, bei denen ja auch unterschiedliche Bedürfnisse und Möglichkeiten vorherrschen. Man sagt ja immer, dass dieses System eine sehr große Ungleichheit und Unfairness in den finanziellen Ressourcen der Menschen geschaffen hat. Wir versuchen das dadurch abzufangen, dass wir die Gesamtkosten der Solawi gemeinsam aufbringen. Es gibt da das System der Bieter-Runde, das immer mehr Solawis anwenden. Die Mitglieder bieten sozusagen auf den Gesamtbetrag, den die Solawi in einem Zeitraum braucht. Sie sagen: „Wir geben das, was es uns wert ist oder was wir können, tun unseren Beitrag in einen Topf und nach der ersten Runde gucken wir, ob wir die Summe zusammen bekommen haben, die wir für die Gesamtkosten der Unternehmung brauchen und wenn nicht, machen wir noch eine zweite Runde.“ Meistens brauchen die Solawis dazu nicht mehr als zwei oder drei Runden.

GWR: Das gefällt mir. Ich wohne nämlich in einem Projekt des Mietshäusersyndikats und wir bestimmen unsere Mietanteile genauso. Das funktioniert vorzüglich. Nur dass wir keinen Topf, sondern einen Hut verwenden.

S.W.: Das Schöne ist, dass in den Solawis auch Menschen sind, die in erster Linie wegen der Lebensmittel dabei sind und sich nicht aus politischen oder idealistischen Gedanken angeschlossen haben. Auf einmal werden sie mit so etwas konfrontiert. Das ist spannend.

GWR: Ich könnte mir auch vorstellen, dass aus den Ernteteiler*innen eine Gemeinschaft wird. Man hat einen Hof, von dem man versorgt wird und um den man sich gemeinsam sorgt. Also ein Gemeinschaftsobjekt, über das auch eine Verbindung zwischen den Leuten entsteht.

S.W.: Ja, das ist vielen noch mehr Wert als die Produkte, die hinterher dabei herauskommen. Weil es dieses Gemeinschaftsgefühl, dieses Zugehörigkeitsgefühl eben nicht im Supermarkt zu kaufen gibt und auch nicht im Bioladen.

GWR: Jetzt würde ich gerne über die nähere Zukunft reden. Wahrscheinlich kommt es aufgrund des Lockdowns zu einer weltweiten Wirtschaftskrise, wohl möglich schlimmer als die Finanzkrise 2008. Solawi ist trotz seiner solidarischen Struktur Teil eines unsolidarischen Wirtschaftssystem. Was für Probleme kommen auf Euch zu, wenn es zu einer Rezession kommt?

S.W.: Die Solawi-Projekte sind unterschiedlich stark mit dem bestehenden System vernetzt und abhängig, ob das jetzt Treibstoffe, Rohstoffe oder Reparaturkosten für Maschinen sind. Eine Wirtschaftskrise wird den Blick schärfen, wie man das minimieren kann, bzw. wo man andere alternative Strukturen aufbauen kann. Die ersten Schritte in diese Richtung existieren bei Saatgut, wobei Solawis sich zusammentun und gemeinsam Saatgut züchten und verbreiten. Grundsätzlich streben Solawi-Projekte eine Kreislaufwirtschaft an, d.h. sie versuchen das Unternehmen mit relativ wenigen, externen Dingen am Laufen zu halten. Im Vergleich zu anderen Produkten ist das bei Grundnahrungsmitteln einfacher, weil wir mit der Natur arbeiten. Der Boden ist da, es sollte irgendeine Art Bewässerung geben, entweder es regnet oder man hat eine Bewässerung installiert. Natürlich haben alle, die mit Maschinen arbeiten, ganz andere Abhängigkeiten. Wenn wir den Ackerbau, den Getreideanbau und zum Teil auch die Tierhaltung betrachten. Aber letztere kann man auch relativ nachhaltig und in Kreislaufwirtschaft gestalten.

Wir beobachten auch, dass es für Solawis, die noch nicht gegründet sind, oder zu Beginn der Corona-Krise gerade in der Gründungsphase waren, schwerer wird, weil in so einer Situation viele Menschen nichts Neues beginnen, von dem sie nicht wissen, ob es funktioniert oder ob es für sie passt und dann auf alte Verhaltensmuster, die sie kennen, zurückfallen. So habe ich von ein paar Initiativen gehört, die im Moment zum Stillstand gekommen sind, weil sie eben noch nicht beweisen konnten, dass sie funktionieren. Das ist etwas, was die Solawibewegung bremsen kann.

GWR: Wie sieht die Hilfe oder Unterstützung zwischen den einzelnen Projekten aus?

S.W.: Im Rahmen unseres Netzwerks kann man sich über gemeinsame Verteiler und Plattformen austauschen. Wenn es möglich ist, werden wir auch wieder zu großen Vernetzungstreffen einladen, weil es wichtig ist, dass Wissen, das in der einen Solawi entsteht, schnell zu den anderen kommt. Die Solidarische Landwirtschaft ist ein neues System. Darum gibt es keinen großen Wissensvorrat, den man abgreifen könnte, sondern der entsteht in der Praxis täglich neu. Ein Teil unserer Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass dieses Wissen so schnell wie möglich weiter gegeben wird.

Zur Kultur von Solidarischer Landwirtschaft gehört auch die Kooperation außerhalb von Solawis. Man tritt dann vielleicht auf Nachbarbetriebe, Verarbeitungsbetriebe oder Gruppen in seiner unmittelbaren Umgebung zu und sagt: „He, können wir nicht irgendwas zusammen machen?“ Das kann auch ein Keim sein, um in einer Region eine regionale Versorgung anzustreben. Ich denke, da ist das Bewusstsein jetzt besonders geschärft. Den Leuten wird klar: „Das mit den langen Lieferketten ist vielleicht doch nicht so eine schlaue Idee und besser wäre es, wenn wir hier vor Ort Menschen hätten, die wüssten wie man Lebensmittel herstellt und diese vor Ort verarbeiten können, damit man die hergestellten Lebensmittel nicht noch mal wieder hunderte von Kilometern durchs Land fahren muss, z.B. um aus Mehl Brot zu machen“

GWR: Meiner Meinung nach ist das Problem der Wirtschaftskrise nicht, dass wir nicht genug produzieren könnten. Probleme entstehen nur, weil das alles über Geld und Wert vermittelt wird und wir nicht für den Gebrauch produzieren, sondern für den Profit.

S.W.: Ja, und weil durch die Auslagerung in billigere Produktionsstandorte lange Lieferketten entstanden sind, die abhängiger von einer funktionierenden, globalen Wirtschaft sind als eine Region. Wenn die Dinge vor Ort geschehen, hat man den Transport nicht, man hat die Kommunikationsprobleme nicht und man kann auf eine spezielle Situation auch unmittelbar reagieren.

GWR: Wenn man wenig Geld hat und im Bioladen einkaufen will, merkt man, das ist alles ziemlich teuer. Ich vermute, dass auch für Solawi-Produkte letztendlich ein Preis bezahlt werden muss, der über dem im Supermarkt liegt. Kann es nicht sein, dass sich die Ernteteiler*innen das ab einem bestimmten Punkt nicht mehr leisten können, wenn wir in eine Wirtschaftskrise schlittern?

S.W.: Ja, natürlich kann das auch hier und da geschehen. Je nachdem wie die Zusammensetzung der Menschen ist, die an einer Solawi teilnehmen, und wie flexibel das Unternehmen auf so etwas reagieren kann: Wo können z.B. Menschen mitarbeiten, um statt Geld ihre Arbeitsleistung einzubringen? Wie kann man die Verwendung von Geld soweit wie möglich reduzieren und in wie fern kann es solidarische Ausgleichsmechanismen unter den Mitgliedern geben? Das sind die Fragen, die sich jede Solawi stellen muss.

Sich austauschen und gemeinsam neue Lösungen finden, ist auch ein ganz wertvolles Element in der solidarischen Landwirtschaft, so dass, wenn ein Problem oder eine Veränderung auftritt, nicht nur ein, zwei Personen sich hinsetzen und überlegen: „Oh, wie kann ich das lösen?“, sondern dass viele Köpfe zusammen kommen und gemeinsam überlegen: „Wie können wir zusammen eine Lösung für dieses Thema finden“. Da können auf einmal ganz andere Dinge entstehen, ganz andere Lösungswege auftauchen, als sich vorher jemand allein hätte ausdenken können.

GWR: Ich hab bei der Umsetzung unseres Mietshäusersyndikat-Projekts, die gleiche Erfahrung gemacht. Nämlich, dass man als Gruppe sehr viel mehr Ressourcen hat und viel mehr Sachen hinkriegt, als als Einzelner.

S.W.: Ja, ich glaube, das muss man auch Erzeuger*innen sagen, die vielleicht erst mal skeptisch sind, sich auf so eine Verbrauchergemeinschaft einzulassen: „Oh, da muss ich soviel kommunizieren, die wollen soviel wissen. Dann hab ich dauernd Leute, die hier rumlaufen…“ oder wie auch immer. Das Geschenk ist, dass man nicht alleine ist und auch nicht alleine gelassen wird. Das muss man sehen, pflegen und kultivieren.

GWR: Möchtest Du zum Abschluss noch etwas sagen?

S.W.: Ich kann alle GWR-Leserinnen und -Leser nur ermuntern, sich zu erkundigen, ob es in ihrer Nähe eine Solidarische Landwirtschaft gibt und sich diese Projekte anzuschauen. Da gibt es immer Möglichkeiten für einen Besuch. Und auch zu überlegen, wenn es in der Nähe keine Solawi gibt, in wie fern man selbst eine gründen kann; und dann kann man sich gerne bei uns, beim Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V., melden.

GWR Vielen Dank. Ich hoffe, dass noch viele Solawis mehr entstehen werden.

Dieses Interview wurde im Mai 2020 von Daniel Korth als Radio Graswurzelrevolution-Sendung produziert und für die GWR überarbeitet. Die Bürgerfunksendung wird am 19. Juni um 20.04 Uhr im Livestream von Antenne Münster gesendet und steht danach in der Mediathek zur Verfügung.