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Ein Votum gegen steigende Mieten

Der Berliner Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen

| Sebastian Gerhardt

Parallel zur Bundestagswahl und den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus wurde in der Hauptstadt am 26. September 2021 in einem Volksentscheid abgestimmt. Es ging um den „Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs durch den Senat zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen“ der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Das amtliche Endergebnis lautet: 1.035.950 Ja-Stimmen, 715.698 Nein-Stimmen, 46.660 Stimmen waren ungültig. Mit 57,6 Prozent der Teilnehmenden und 42,3 Prozent der Abstimmungsberechtigen war der Volksentscheid erfolgreich. (1) Die offene Ablehnung des Volksentscheids durch die Wirtschaftsverbände hat der Initiative offenbar nicht geschadet. Gleichzeitig allerdings wählten die Berliner*innen ein Landesparlament, in dem die Befürworter*innen einer Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen keine Mehrheit haben.
Wohnungspolitisch ist Berlin ein Sonderfall. Etwa 85 Prozent der Menschen in der Hauptstadt wohnen zur Miete. Vor dem Hintergrund massiv steigender Angebotsmieten ist die Suche nach einer neuen Bleibe in Berlin selbst für Normalverdiener*innen wenig aussichtsreich, auf jeden Fall dauert sie lange. Auch im Bestand sind die Mieten im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegen. Schon die Sammlung von Unterstützungsunterschriften zum Volksbegehren zeigte mit etwa 350.000 Unterschriften den breiten Protest gegen die soziale Krise auf dem Wohnungsmarkt.
Unterstützt wurde die Vergesellschaftungsinitiative dabei durch das Bundesverfassungsgericht. Ende März 2021 hatte es das Berliner Landesgesetz über einen Mietendeckel für nichtig erklärt; dem Land Berlin fehle schlicht die Gesetzgebungskompetenz. Die Entscheidung wurde Mitte April veröffentlicht und gab der Unterschriftensammlung einen deutlichen Schubs.
Auf der anderen Seite fühlten sich die Eigentümer*innen großer Wohnungsunternehmen durch die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts wohl eher bestätigt. Vonovia, der größte deutsche Wohnungskonzern, startete im Frühjahr einen neuen Versuch zur Übernahme des Konkurrenten Deutsche Wohnen (DW). Allein für die Berliner Bestände von Deutsche Wohnen legte der Branchenprimus dabei etwa 12 Milliarden Euro auf den Tisch. Offensichtlich hat Vonovia vor einer Enteignung keine Angst. Die öffentliche Kritik an zu hohen Mieten nahm Konzernchef Rolf Buch mit einem Angebot zur Sozialpartnerschaft auf: Nicht im Konflikt, sondern in der Kooperation mit dem Kapital könne die Wohnungskrise bewältigt werden. Gewisse Beschränkungen für Mietsteigerungen, Ankündigung von Neubau und ein Angebot über den Verkauf von Wohnungen an das Land Berlin sollten die Übernahme begleiten. Die realen Schwierigkeiten für die Vergrößerung des größten Wohnungskonzerns kamen denn auch nicht aus der Politik. Erst nach Nachbesserungen für die Aktionär*innen erreichte Vonovia die Mehrheit bei Deutsche Wohnen, Ende Oktober kontrollierte sie fast 90 Prozent. (2) Die Bewertung der Berliner Wohnungsbestände zeigte sich beim Verkauf von knapp 15.000 Wohnungen aus dem Bestand von Vonovia und DW an drei landeseigene Unternehmen. Mit 2.300 Euro pro Quadratmeter wurden den Konzernen ihre Buchwerte gezahlt.
Auch für eine Umsetzung des Volksentscheids ist die Bewertungsfrage zentral. Denn die breite Unterstützung für die Sozialisierungsforderung speist sich nicht zuletzt aus dem Versprechen der Machbarkeit. Mit dem Verweis auf Artikel 15 Grundgesetz wird die Berechtigung des Vorhabens gesichert. Zugleich hängt die Legalität der Vergesellschaftung an der Zahlung einer angemessenen Entschädigung. Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ kommt durch die Annahme fiktiver niedriger Mieten zu einem niedrigen, doch eben fiktiven Ertragswert. (3) Vor Gericht würde ein solcher Vorschlag schwerlich als die geforderte „gerechte Abwägung der Interessen“ durchkommen. Unter den verschiedenen möglichen Modellen ist die Orientierung an der Kreditbelastung der Berliner Wohnungsbestände von Deutsche Wohnen und Co. am ehesten realistisch. Damit wären Entschädigungszahlungen von knapp 23 Milliarden Euro fällig – gut 1.500 Euro pro Quadratmeter. Das wären nur etwa zwei Drittel des Marktwertes, aber deutlich mehr als die ungefähr 17 Milliarden Euro, die sich bei einer nachhaltigen Bewirtschaftung zu den derzeitigen Mieten refinanzieren lassen. (4)
Solche Fragen könnten im Verlauf des nächsten Jahres in einer Kommission erörtert werden, die von SPD, Grünen und LINKEN in ihren laufenden Koalitionsverhandlungen auf Landesebene erwogen wird. Denn entschieden wurde am 26. September ja nicht über ein Gesetz oder ein konkretes Vorhaben, sondern über einen Auftrag an den Senat. Offen ist, ob und wie dieser Auftrag umgesetzt wird. Die Initiative hat kein Copyright auf ihren Vorschlag oder eine Interpretationshoheit über die Umsetzung. Nur wenn Senat und Parlament sie einladen, hat sie eine Stimme in den weiteren Verhandlungen. Auch ein erfolgreicher Volksentscheid kann an den Mehrheitsverhältnissen der Landespolitik scheitern. 2017 war parallel zur Bundestagswahl ein Volksentscheid zum Weiterbetrieb des Flughafens Tegel erfolgreich (994.916 Ja-Stimmen, 56,4 Prozent der Teilnehmenden, 40,1 Prozent der Abstimmungsberechtigten). Im Juni 2018 aber lehnte das Landesparlament mit der Mehrheit von SPD, LINKEN und Grünen den Vorschlag als nicht umsetzbar ab.
Mit dem Volksentscheid hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ einen großen symbolischen Erfolg erreicht. Die Kräfteverhältnisse in der Wohnungspolitik und auf dem Wohnungsmarkt haben sich jedoch nicht verändert – wie die Ergebnisse bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus zeigen. Der soziale Konflikt über alle Fragen des Wohnens – Mieten, Neubau, Eigentum – ist kein Sprint, sondern ein Ultramarathon.