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Schauplatz Österreich

Innenpolitisches Erdbeben oder eine Farce?

| Rosalia Krenn

Fotos: Bundesministerium für Landesverteidigung, Public domain, via Wikimedia Commons; Tim Reckmann via flickr.com (CC BY 2.0) https://flic.kr/p/nG5ZZ1

Eine Woche lang sah es so aus, als würde in der österreichischen Innenpolitik kein Stein auf dem anderen bleiben. Zum zweiten Mal nach dem Skandal rund um das Ibiza-Video (1) sollte Bundeskanzler Sebastian Kurz das Misstrauen ausgesprochen werden. Die Grünen, der kleine Koalitionspartner, begannen, mit allen Oppositionsparteien eine neue Regierung jenseits der ÖVP, der Österreichischen Volkspartei, zu planen. Dann kam alles anders: Der ehemalige Bundeskanzler stellte seine Funktion zur Verfügung, und damit hat sich letztendlich nichts geändert. Nach einer stürmischen Woche blieb alles beim Alten, und Bundespräsident Alexander Van der Bellen beendete die Regierungskrise. Aber beginnen wir am Anfang ...

Rund um den Ibiza-Untersuchungsausschuss geriet die ÖVP immer stärker in den Mittelpunkt, der Verdacht lautet auf Korruption. Die Verdachtsmomente ließen sich erhärten, und am 6. Oktober 2021 fanden – in Österreich noch nie dagewesen – Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt, im Finanzministerium und in der ÖVP-Parteizentrale statt. Ein lustiges Detail am Rande ist dabei, dass die stellvertretende Generalsekretärin der ÖVP, Gabriele Schwarz, der Ermittlungsbehörde, der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), via Medien ausrichten ließ, dass sie sich die Hausdurchsuchung sparen könne, es sei „nichts mehr da“, also es würden keine Daten „mehr“ gefunden werden. Das war ein Irrtum, es wurden Berge von Daten gefunden, worauf sich folgende Anklage aufbauen ließ: Verdacht auf Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit.
Im Fokus der Ermittlungen befinden sich neben Sebastian Kurz auch die ehemalige Familienministerin Sophie Karmasin, Kanzlersprecher Johannes Frischmann, Medienbeauftragter Gerald Fleischmann, ÖVP-Berater Stefan Steiner, der bei der Zeitschrift „Österreich“ für kaufmännische Belange zuständige Bruder des Medienmanagers Wolfgang Fellner, Helmuth Fellner, ein Finanzministeriumssprecher sowie eine Meinungsforscherin. Kern der Vorwürfe ist das innenpolitisch als solches bezeichnete „Projekt Ballhausplatz“. Der Ballhausplatz ist die Adresse des Bundeskanzleramtes in der Wiener Innenstadt.

Projekt Ballhausplatz

Bis 2017 gab es eine in Österreich nicht unbeliebte so genannte große Koalition zwischen der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) und der ÖVP. Der Kanzler der SPÖ, Christian Kern, (2) ist über die Silberstein-Affäre (3) gestolpert. Der Vizekanzler hieß Reinhold Django Mitterlehner. Django ist sein Verbindungsname aus seiner Zeit bei der nichtschlagenden Studentenverbindung CV, dem christlichen Cartellverband; dazu muss man wissen, dass in der ÖVP die Zugehörigkeit zum CV eine lebenslange Parteikarriere und Karriere in der Wirtschaft garantiert.
Der aufstrebende Jungpolitiker Sebastian Kurz wollte mit seinem türkisen Netzwerk – benannt nach dem schwarz-türkisen ÖVP-Logo – die Parteispitze erobern, die Macht übernehmen, erst in der ÖVP, dann im Land. Django Mitterlehner wurde gestürzt. Mitterlehner wollte mit Kanzler Kern 1,2 Milliarden Euro für eine rechtsverbindliche Nachmittagsbetreuung für Kinder ausgeben. Aus den SMS-Protokollen zwischen Kurz und seinem damals im Finanzministerium beschäftigten Bussi-Bussi-Freund Thomas Schmid wurde veröffentlicht, dass Kurz das gar nicht gut fand; er fragte Schmid: „Können wir nicht ein Bundesland aufhetzen?“ Die Gelder für Kinderbetreuung aus dem Finanzministerium sind nicht geflossen.

Sebastian Kurz und sein türkises Netzwerk verschärfen die Gangart. An ein Meinungsforschungsinstitut wird eine Umfrage in Auftrag gegeben, die die ÖVP nur noch bei 18 Prozent Zustimmung sieht. Wie wir heute wissen, waren die aus Steuergeldern finanzierten Umfragen frisiert. Die Umfragen wurden aus dem Topf für Korruptionsbekämpfung bezahlt. Die für die ÖVP schlechten Umfragewerte wurden der Zeitschrift „Österreich“ zugespielt, die diese auch prompt veröffentlichte. Später fiel dieses Blatt mit einer übertrieben positiven Berichterstattung über Sebastian Kurz auf. Django Mitterlehner wirft das Handtuch, die Landeshauptleute befördern Sebastian Kurz, den Heilsbringer, an die Spitze. Der mächtigste Förderer von Kurz, der ohnehin mächtigste Landeshauptmann der ÖVP Erwin Pröll, rechnet sich deutliche Zugewinne für die ÖVP aus. Kurzʼ Freund und Pröll-Vertrauter Wolfgang Sobotka, seines Zeichens Parlamentspräsident und Vorsitzender des Ibiza-Untersuchungsausschusses (deshalb kann man ihn nicht als Beschuldigten führen), zieht im Hintergrund die Fäden. Dazu ein schäbiges Detail am Rande: Mitterlehner war persönlich in einer schwierigen Situation, seine Tochter war schwer krank, dann sterbenskrank, in die Phase des Todes und der Trauer fiel die von langer Hand geplante Machtübernahme durch das Netzwerk Kurz.
Mit Kurz gewinnt die ÖVP zwei Nationalratswahlen, das Projekt Ballhausplatz ist gelungen. Nach Ibiza sprengt Kurz die schwarz-blaue Koalition mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), und die Phase schwarz-türkis-grün kann beginnen. Der Ibiza-Untersuchungsausschuss arbeitet und tagt während dieser Turbulenzen weiter, geht in aller Ruhe seiner Arbeit nach und wird Anfang Oktober 2021 fündig. Viele SMS-Protokolldaten werden gesichtet und ausgewertet; es steht fest: Die ÖVP steckt im Korruptionssumpf.

Nach der Bekanntgabe einiger SMS-Protokolle aus dem Jahre 2016 zeigen sich die mächtigen ÖVP-Landeshauptleute nun im Jahre 2021 irritiert, werden sie doch dort als „alte Deppen“ bezeichnet. Die Grünen gehen in die Offensive. Es gehe nicht darum, dass Kurz als Beschuldigter wegen Untreue, Bestechlichkeit und Bestechung geführt wird, sondern um das „Sittenbild“, das durch die SMS zum Vorschein gekommen sei. Die Grünen bauen der ÖVP eine Brücke. Sie sprechen mit allen anderen Parteien und richten der ÖVP aus, dass, wenn sie den Kanzler austauscht, dem Fortsetzen der Koalition nichts im Wege stünde. Die Grünen fordern eine „untadelige Person“ anstelle von Sebastian Kurz. Die Grünen bekommen eine adelige Person, den Grafen Alexander Schallenberg, vormals Außenminister.

Das Netzwerk Kurz bleibt an der Macht

Sebastian Kurz wird mit 100-prozentiger Zustimmung ÖVP-Parteichef und Klubobmann der ÖVP. Das ist nicht nur innerhalb der ÖVP, sondern auch im Parlament eine mächtige Position. Sämtliche von Kurz ausgewählten Regierungsmitglieder und Kabinettsmitarbeiter:innen bleiben im Amt, einige werden als Beschuldigte geführt. Das System bleibt, und die Grünen stimmen dem zu.
Im Übrigen hat sich der so genannte Diplomat Graf Schallenberg schon einiges geleistet. Bei seiner Antrittsrede lässt er der Justiz ausrichten, dass die Vorwürfe gegen den Ex-Kanzler falsch sind. Aha. So viel scheint der Herr Graf von der unabhängigen Justiz nicht zu halten. Die Chefin der Oppositionspartei NEOS, (4) Beate Meinl-Reisinger, übergibt dem Grafen das 104 Seiten schwere Dokument der WKStA, das die Vorwürfe gegen Sebastian Kurz und andere untermauert. Der Herr Graf wirft die Akte auf den Boden, das heißt, er fegt das Dokument einfach vom Tisch, danach senkt er den Kopf und spielt mit seinem Handy. Beate Meinl-Reisinger spricht ihn direkt an, sagt: „Werfen Sie das nicht einfach weg“, aber der Herr Graf blickt nicht auf, spielt mit dem Handy. Diplomatie sieht anders aus.
Wie hält es der künftige Bundeskanzler mit dem Parlamentarismus? Den empfindet er als bestenfalls lästig. Das kennen wir von Kurz aber auch schon. Vom Misstrauensantrag gegen Finanzminister Gernot Blümel, der in die Ibiza-Causa tief verstrickt ist, hält Schallenberg nichts; er sagt den Abgeordneten des Parlaments bereits in der Antrittsrede, aus seiner Sicht sei das Verhalten der Abgeordneten „mutwillig“. In adeliger Manier spricht er dem Parlament das Recht ab, auf das Instrumentarium des Misstrauensantrages zurückzugreifen, stellt dabei gleichsam die Kontrollrechte des Parlaments in Frage. Er beschwört seine Treue zu Sebastian Kurz, mit dem er sich eng abstimmen möchte. Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) merkte an, der Graf verwechsle in seiner Antrittsrede die Rolle eines Bundeskanzlers mit der eines Fürsprechers für den ehemaligen Heilsbringer Kurz, dessen enger Freund und Vertrauter er ist. Der nachfolgende Außenminister Michael Linhart, aus dem Außenministerium kommend, ist ebenfalls ein langjähriger Freund von Kurz und so wie Graf Schallenberg Transatlantiker (5). Die Grünen schweigen und schauen zu. Sie wollen weiterregieren. Aber die Maske ist gefallen. Ob ihnen je noch mal wer abkaufen wird, die Antikorruptionspartei zu sein, die für „saubere“ Politik einsteht, werden die nächsten Wahlen zeigen. Naja, um es mit Helmut Qualtinger zu sagen: „Aber die wählen ja nicht zum ersten Mal“.

Graf Schallenberg wird neuer Bundeskanzler in Österreich

Zur Person des Grafen: adelig ist er, untadelig ist er nicht. Die bürgerlichen Massenmedien sprechen von einem Diplomaten, einem Mann, der sich in der internationalen Politik zu bewegen weiß, die im Parlament vertretenen Parteien schließen sich dieser Meinung an. Man spricht von einem Diplomaten höchsten Ranges. Da kann ich nur lachen. Der Graf orientierte sich während seiner Zeit im Außenministerium an transatlantischer Politik und ist bekennender NATO-Befürworter. Davon wollen die Grünen aber nichts wissen.

Das türkise Netzwerk bleibt. Sebastian Kurz zieht im Hintergrund weiterhin die Fäden. Ein Teil dieses Netzwerkes sitzt auf der Regierungsbank. Der Bundeskanzler gehört zum innersten Kreis dieses Netzwerkes, dessen handelnde Personen Justiz und Parlament als unbequem empfinden. Dank der Steigbügelhalterei der Grünen wird in Österreich eiskalt eine neoliberale Politik fortgesetzt werden, die die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lassen wird.

(1) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2021/06/oesterreich-das-wunderschoene-urlaubsland/

(2) ehemaliger Österreichischer Bundeskanzler (2016–2017)

(3) Die Silberstein-Affäre war eine politische Affäre in der Schlussphase des Wahlkampfes zur Nationalratswahl in Österreich 2017. Der von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) engagierte Politikberater Tal Silberstein hatte mit einem Team des Wahlkampfbüros „Dirty Campaigning“ betrieben, was zwei Wochen vor dem Wahltermin durch Berichte in der Tageszeitung Die Presse und dem Wochenmagazin profil bekannt wurde. Die Kampagne richtete sich im Wesentlichen gegen Sebastian Kurz, der am 14. Mai 2017 die Parteiführung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) übernommen hatte. Quelle: Wikipedia.

(4) NEOS – Das Neue Österreich und Liberales Forum ist eine liberale Partei in Österreich. Sie wurde im Oktober 2012 unter dem Parteinamen NEOS – Das Neue Österreich gegründet und trat zur Nationalratswahl in Österreich 2013 in einem Wahlbündnis mit dem Liberalen Forum an, mit welchem sie im Januar 2014 fusionierte. Bei der Nationalratswahl im Jahr 2013 erreichte die Partei 5 % und zog in den Nationalrat ein, was ihr bei den Nationalratswahlen 2017 mit 5,3 % und 2019 mit 8,1 % der Stimmen jeweils abermals gelang. Quelle: Wikipedia.

(5) Als Transatlantiker werden Personen bezeichnet, die sich in ihrer Identitätsfindung nicht an einem einzelnen europäischen oder nordamerikanischen Nationalstaat orientieren, sondern stattdessen eine Definition über bestimmte empfundene Werte in den Vordergrund stellen. Dazu zählen Wertschätzung für Marktwirtschaft, Liberalismus und Demokratie sowie eine Identifikation mit den nach ihrer Sicht diese Werte repräsentierenden Staaten, insbesondere die Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Deutschland und anderen Staaten in (West-)Europa. Quelle: Wikipedia.