Bedrohte Pressefreiheit in Griechenland

Mit Zensur und Wasserwerfern gegen unabhängige Journalist*innen

| Ralf Dreis, Thessaloníki

Die Diskussion um die immer eingeschränktere Pressefreiheit in Griechenland hat sich Ende des Jahres 2021 zugespitzt. Gründe dafür sind ein neues Zensurgesetz der neoliberal-rechten Néa-Dimokratía-Regierung, brutale Polizeigewalt gegen einen Fotoreporter am Rande einer Demonstration und die allzu direkte Frage einer niederländischen Journalistin an Ministerpräsident Kyriákos Mitsotákis. In der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ rutschte Griechenland auf Platz 70 von insgesamt 180 Ländern ab und ist somit das am schlechtesten bewertete EU-Land. Aus Thessaloníki berichtet für die Graswurzelrevolution Ralf Dreis. (GWR-Red.)

Kurz nach Regierungsantritt 2019 hatte Kyriákos Mitsotákis die Weichen zur Kontrolle der bis dahin parteiunabhängigen staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt ERT gestellt. Mit den Stimmen der Regierungspartei Néa Dimokratía (ND) genehmigte das Parlament „den beispiellosen Umzug von Konstantínos Zoúlas aus dem Mégaro Maxímou“, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten, „auf den Intendantensessel von ERT“, beschrieb am 17. September 2019 die Wochenzeitung Documento den Fall. „Beispiellos“, weil Zoúlas bis dahin Pressesprecher des Ministerpräsidenten und zuvor Presseverantwortlicher der Néa Dimokratía war. Auf Nachfrage des unabhängigen Internetportals The Press Project, wie dies mit Mitsotákisʼ Versprechen einer „überparteilichen Sendeanstalt ERT“ zusammenpasse, verwies Zoúlas auf seine 30-jährige Erfahrung als Journalist. Erfahrung, die er zur Umgestaltung des Senders einschließlich der Entlassung von Journalist*innen nutzte, um ERT auf Regierungslinie zu bringen.

Festnahmen, Klagen, Entzug von Werbeeinnahmen

Im Oktober 2019 sorgte die Wochenzeitung Documento mit einem internationalen Appell für Aufsehen, worin sie konkrete Vorwürfe gegen Premier Mitsotákis erhob. Dieser habe Unternehmer*innen persönlich per Anruf aufgefordert, Documento die Werbeanzeigen zu entziehen. Einige der Kontaktierten hätten ihm dies vertraulich mitgeteilt, sagte Herausgeber und Journalist Kóstas Vaxevánis. Grund seien Berichte über Offshore-Unternehmen der Ehefrau des Ministerpräsidenten, deren Name auch in den Paradise Papers (1) auftauche, und über die in Griechenland nur Documento berichte. Vaxevánis gilt als unbequemer Investigativ-Journalist und ist vielen Politiker*innen ein Dorn im Auge, da er seit Jahren über Korruption berichtet. Als er während der kapitalistischen Krise veröffentlichte, wer in Griechenland sein Geld auf Schweizer Konten hortete, wurde er kurzzeitig inhaftiert. „Es gibt hier Pressefreiheit nur auf dem Papier. Täglich wird die Presse bedroht. Wir sind mit über 80 Anzeigen von Politikern bombardiert worden. Statt dass sie auf die Enthüllungen antworten, verklagen sie uns“, so Vaxevánis. Documento, für die knapp 70 Mitarbeiter*innen tätig sind, verlor längere Zeit wöchentlich ca. 180.000 Euro Werbeeinnahmen.

Die „Liste Pétsas“

Der Versuch, eine Zeitung in den Ruin zu treiben, kann im Falle des Scheiterns zur Stärkung ihres oppositionellen Charakters führen. Mehr Erfolg in Bezug auf regierungsfreundliche Berichterstattung kann daher die großzügige finanzielle Unterstützung der Presse zeitigen. Stélios Pétsas, Staatssekretär des Inneren und von 2019 bis Mitte 2021 Staatssekretär im Büro des Ministerpräsidenten, stellte zu Beginn der Covid-19-Pandemie eine Liste mit 1.232 griechischen Medien zusammen, die berühmte „Liste Pétsas“.
Zwei Worte, die für die meisten Griech*innen inzwischen als Synonym für das Parteiregime der ND und die herrschende Einstimmigkeit der großen Radio- und Fernsehsender stehen; und für das Verschweigen, das Verdrehen und Weglügen der für die Regierung schwierigen Themen. Insgesamt 22 Millionen Euro verteilte die ND-Regierung im ersten Quartal 2020 nach Gutdünken an Medien. Die sollten damit „verantwortungsbewusst“ die Regierungskampagne „Wir bleiben zu Hause – Wir bleiben sicher“ zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie unterstützen. Am 6. Juli 2020 meldete die genossenschaftliche Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón (EfSyn): „Der Verdacht, dass riesige Summen der Kampagne gegen die Covid-19-Pandemie an Unterstützer und Anhänger der ND-Regierung verteilt wurden, hat sich bestätigt.“ Eine Recherche von The Press Project hatte ergeben, dass nur 1 % der Gesamtsumme der 22 Millionen Euro an oppositionelle Medien ging. „Das krasseste Beispiel“ sei EfSyn, die 30.000 Euro für die gedruckte und 10.000 Euro für die Online-Ausgabe erhalten habe, während sehr viel kleinere, dafür aber regierungsfreundliche Organe wie die Wochenzeitung Fileléftheros 60.000 Euro und die Online-Zeitung liberal.gr 120.000 Euro bekamen. The Press Projekt, Documento und anarchistische Zeitungen wie Diadromí Eleftherías gingen leer aus (allerdings würde eine griechische anarchistische Zeitung niemals staatliche Gelder annehmen). Die großen sechs regierungsfreundlichen Fernsehsender erhielten zwischen 430.000 und 830.000 Euro. Um diese dubiose Finanzierung von Medien, einzig nach dem Kriterium der Regierungsfreundlichkeit, strafrechtlich zu klären, haben 48 Journalist*innen, Professor*innen, Künstler*innen und Abgeordnete der Oppositionspartei Syriza Anzeige erstattet. Am 19. Oktober 2021 meldete das Online-Portal capital.gr, die Staatsanwaltschaft am Áreios Págos, dem höchsten griechischen Gericht, ermittele seit September im Zusammenhang mit der „Liste Pétsas“. Es gehe um „die Verschwendung öffentlicher Gelder“, um „undurchsichtige und parteiische Geldvergabe“, um „Vorteilsnahme und Bestechung“ mit dem Ziel, bestellte Meinungsumfragen zu präsentieren und die Berichterstattung der Massenmedien zu beeinflussen. Am 11. November 2021 wurde die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses mit den Stimmen aller Oppositionsparteien gegen die Stimmen der ND durchgesetzt. Laut EfSyn vom 12. November 2021 beschuldigte Oppositionsführer Aléxis Tsípras die Regierung und Premier Mitsotákis persönlich des „beispiellosen Versuchs, die öffentliche Meinung zu gängeln“. Mit einem „Geflecht aus Beziehungen, Propaganda und Autoritarismus“ wolle die Regierung sich die „Wahrheit erkaufen“, statt die Pandemie zu bekämpfen, und die „Demokratie in ein Regime im Stil von Orbán oder Kurz“ verwandeln.

Massenmedien in Unternehmerhand

Aktuell gäbe es fast alle Formen der Missachtung der Pressefreiheit im Land. Zugangsverbote, Festnahmen, Polizeigewahrsam, Klagen vor Gericht und vieles mehr, meint Giórgos Pleíos, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Athen. Dazu kämen noch die Massenentlassungen während der kapitalistischen Krise 2010 – 2015 und der Fakt, dass Reeder, Fußballclub-Besitzer und Wirtschaftsbosse die meisten Radio- und Fernsehsender sowie Tageszeitungen besäßen. Pleíos betont: „Hier sind weder die staatlichen noch die privaten Medien unabhängig. Beide sind finanziell größtenteils von der politischen Macht abhängig.“ So wurden öffentliche Projekte oft an Firmen vergeben, die auch im Besitz eines Medienunternehmers waren. Die Syriza nahestehende Tageszeitung Avgí schrieb am 28. April 2021: „Die vierte Gewalt befindet sich inzwischen unter direkter Kontrolle der vier Reedereifamilien Vardinogiánnis, Alafoúzos, Kyriakoú und Marinákis, die fanatisch die Mitsotákis-Regierung beschützen.“

Wer über Pushbacks spricht, beleidigt das griechische Volk

Wie groß das Problem inzwischen ist, wurde auf einer Pressekonferenz am 9. November 2021 in Athen deutlich. Die niederländische Journalistin Ingeborg Beugel hatte beim gemeinsamen Pressetermin von Premier Mitsotákis und seines niederländischen Amtskollegen Mark Rutte die Praxis der Pushbacks, der illegalen Abwehr von Geflüchteten, zur Sprache gebracht. Mitsotákis, offensichtlich nicht an kritische Fragen gewöhnt, antwortete wütend und entzog Beugel im Stil eines Donald Trump das Wort.
Statt Beugel zu unterstützen, beteiligten sich viele ihrer griechischen Kolleg*innen in der Folge an einer regelrechten Verleumdungskampagne einschließlich sexistischem Shitstorm gegen die Niederländerin. In regierungsnahen Medien wurde sie als „türkische Agentin“ gebrandmarkt, im Internet und auf der Straße als „türkische Hure“ beschimpft und auch körperlich angegriffen. Das International Press Institute verurteilte den Versuch, „eine niederländische Journalistin zu beleidigen und ihre Arbeit zu diskreditieren“. Auf Rat des niederländischen Außenministeriums und des Journalist*innenverbandes war Beugel gezwungen, „Griechenland vorläufig zu verlassen, da ihr Leben in Gefahr ist“, meldete EfSyn am 17. November 2021.
Was war geschehen? Beugel, die seit 30 Jahren im Land lebt und als Journalistin arbeitet, war über die niederländische Botschaft akkreditiert und dem Berater*innenteam von Mitsotákis wohl nicht bekannt. „Hätte das Pressebüro von Mitsotákis seine Arbeit gemacht, wäre mir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erlaubt worden, eine Frage zu stellen“, so Beugel im Interview mit EfSyn am 11. November 2021. Auf der Pressekonferenz, die live übertragen und auf den Kanälen des Premierministers im Internet geteilt wurde, tritt Beugel überzeugend und angriffslustig auf. Sie fordert die Regierungschefs auf, nicht mehr über die Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze und die verheerenden Zustände in den griechischen Lagern zu lügen: „Wann hören Sie endlich auf zu lügen?“ Ihre gestaffelte Frage enthält einige Vorwürfe, die Lügen der Politiker bezeichnet sie als „narzisstisch“. Beugel fragt auch, warum Griechenland die EU nicht zu mehr Solidarität dränge und die Umverteilung der Geflüchteten verlange. Rutte fragt sie, warum er sich weigere, niederländischen Gemeinden, die Menschen aufnehmen wollen, die Erlaubnis zu erteilen. Mitsotákis reagiert sofort gereizt. Er sagt, er „respektiere die in den Niederlanden verbreitete Praxis der direkten Frage, akzeptiere aber nicht, dass Sie mich und das griechische Volk in diesem Amtssitz beleidigen“. Die „Anschuldigungen“ seien „nicht mit Fakten belegbar”. Danach fährt er die Journalistin heftig an: „Waren Sie auf Sámos?“ Beugel: „Ja, ich war auf Sámos.“ Mitsotákis schreit: „Nein, Sie waren nicht auf Sámos!“ Nach kurzem, scharfem Disput entzieht Mitsotákis ihr das Wort.
Mitsotákisʼ Aussagen widersprachen mehrfach den Fakten. So bestritt er, dass die griechische Wasserschutzpolizei je an Pushbacks beteiligt gewesen sei. Dies ist jedoch vielfach dokumentiert und wird sogar durch die EU-Kommission untersucht. Weiterhin war Beugel eine der ersten Journalist*innen, die das neue gefängnisartige Lager auf Sámos besuchten, und sie veröffentlichte dazu im Mai 2021 einen kritischen Artikel.
All das hinderte regierungsfreundliche Medien nicht, Beugel wegen der Frage nach den Pushbacks „türkische Propaganda“ vorzuwerfen. So Níkos Chatzinikoláou, Star-Sprecher des Fernsehsenders ANT1, der zugleich Herausgeber der Zeitung Real News und Leiter des Radiosenders Real News ist und bis Januar 2021 Vorsitzender des Verleger*innenverbands war. Er riet Beugel, „noch mal Journalismus zu studieren“. Oder Sía Kosióni, nebenbei mit dem Neffen des Premiers und Bürgermeister von Athen, Kóstas Bakogiánnis, verheiratet, die im Kommentar der Hauptnachrichtensendung von SKI TV meinte, Mitsotákis habe „zu sanft“ reagiert. Oder Giánnis Pretendéris, der als Kommentator der Nachrichten von MegaTV Beugel das Recht absprach, sich Journalistin zu nennen. Die Sender bezichtigten sie auch, einen „illegalen Migranten“ zu beherbergen, die Boulevardpresse dichtete ihr eine Liebesbeziehung mit dem „viel jüngeren Asylbewerber“ an, angebliche Nachbar*innen behaupteten, Asylbewerber führten ihre Hunde aus, und der Bürgermeister der Insel Hydra, wo Beugel eine Zweitwohnung besitzt, zeigte sie wegen Beleidigung an, da sie in einem Interview die „Hälfte der Bewohner“ der Insel als „Anhänger von Chrysí Avgí“ bezeichnet hatte.
Mit der Hetzjagd versuchten regierungsfreundliche Medien, Beugel als Journalistin, als Frau und als Mensch zu diskreditieren – und trieben sie letztendlich außer Landes. Linke Griech*innen und unabhängige Zeitungen machten dagegen auf das eigentliche Problem aufmerksam. Dass nämlich Mitsotákis keine „direkten Fragen“ von griechischen Journalist*innen gewohnt ist und die sich dafür nicht einmal schämen.

Mit Zensur und Polizeigewalt

Reicht all das nicht aus, um oppositionelle Pressestimmen zum Schweigen zu bringen, wird das Strafrecht verschärft. Weil sie aufgrund der Pandemie härter gegen Fake News vorgehen wolle, behauptet die Regierung. Da dies jedoch auch zuvor möglich war, protestieren der Journalist*innenverband Esiea und die Oppositionsparteien. Sie fordern die Streichung des bei der jüngsten Strafrechtsverschärfung geänderten Zusatzes zu Artikel 191, da dieser die Pressefreiheit endgültig gefährde. Er lautet: „Wer (…) Falschmeldungen veröffentlicht oder verbreitet, die (…) die Allgemeinheit beunruhigen oder verängstigen oder das Vertrauen (…) in die Volkswirtschaft, die Verteidigungsfähigkeit oder die öffentliche Gesundheit des Landes erschüttern, wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten und einer Geldstrafe bestraft.“
Esiea greift die schwammige Formulierung an, da unklar sei, was eine Falschmeldung ist und ob bereits kritische Meinungen und Kommentare strafbar seien. Sie betont, dass eine Regierung, die das will, damit ein Instrument zur Zensur der Presse in der Hand habe.
Derweil hat Amnesty International eine Kampagne gegen die überaus brutale und fast immer straffreie Polizeigewalt gestartet. Diese bedrohe „den Kern der Demokratie“. Außer den üblichen Opfern polizeilicher Gewalt wie linken oder anarchistischen Aktivist*innen, Migrant*innen, Roma oder einfach jungen Menschen sind häufig Journalist*innen betroffen. So Oréstis Panagiótou, der seit 30 Jahren als Pressefotograf arbeitet und aktuell für die Athener Presseagentur APE fotografiert. Am 5. November 2021 verfolgte er die absolut friedliche Kundgebung der im Sommer von der Regierung als „Helden“ gefeierten saisonalen Feuerwehrleute, die für ihre Festanstellung demonstrierten. Ähnlich wie schon bei den „Helden und Heldinnen des Gesundheitswesens“ wurde auch ihre Kundgebung grundlos mit Knüppeln, Tränengas, Blendschock-Granaten und Wasserwerfereinsatz zerschlagen. Ein Feuerwehrmann wurde von einer explodierenden Granate schwer verletzt. Panagiótou stand seitlich auf dem Bürger*innensteig, gut als Pressefotograf erkennbar, und fotografierte, als ihn der Wasserwerfer gezielt unter Beschuss nahm, wie er im Interview mit EfSyn vom 20. November erzählt: „Der zweite Strahl ging mit voller Wucht direkt auf meine Beine und schleuderte mich einen Meter in die Luft. Doppelter Beinbruch und dazu Bänder, Nerven und Weichteile verletzt. Als ich dann recherchierte, was anderen Menschen weltweit von Wasserwerfern angetan wurde, sah ich, dass ich Glück hatte. Einige wurden tödlich verletzt, andere sind für ihr Leben behindert.“ Auf die polizeiinterne Ermittlung gibt er nichts, und er will sich nicht einschüchtern lassen: „Als Fotograf bin ich das Auge und das Ohr der Gesellschaft, die in diesem Moment nicht vor Ort sein kann.“
Ein anderes Beispiel, wie Fotoreporter von der Polizei behindert werden, ist Aléxandros Stamatíou. Als er im September 2019 für EfSyn die Räumung einer von Geflüchteten besetzten leeren Schule in Athen dokumentieren wollte, wurde er schlicht verhaftet. „Die wollen eine Botschaft senden. Von hier an, egal was ihr macht, wir werden euch im Blick behalten. Wir können euch festnehmen unter jeglichem Vorwand, wie bei mir wegen Hausfriedensbruchs, was absurd ist.“ Im Schnellverfahren wurde er vor Gericht gestellt, obwohl klar war, dass er als Fotojournalist freigesprochen werden würde. Stamatíou macht weiter: „Sollen sie mich verhaften, sooft sie wollen, ich werde meinen Job machen.“

(1) Die Paradise Papers sind eine 2016 geleakte Sammlung von Unterlagen, die Geldwäsche von Großkonzernen, Milliardär*innen und Politiker*innen in tausenden Fällen offenlegen.