Heilkunst lebt von Begegnung

Gesundheitsbewegung als soziale Selbsthilfe und Risiken der Technologie

| Elisabeth Voß

In den 1980er-Jahren entwickelte sich mit der alternativen Gesundheitsbewegung nicht nur eine grundlegende Kritik an patriarchaler technik- und profitorientierter Medizin, sondern auch eine Vielzahl an praktischen selbstorganisierten Gegenmodellen. Elisabeth Voß gibt in ihrem Artikel für die Graswurzelrevolution einen kurzen Einblick und zeigt Kontinuitäten auf. (GWR-Red.)

Die fortschreitende Privatisierung des Gesundheitswesens ist eingebettet in eine weltweite Tendenz zur Übernahme der Macht durch Konzerne, deren Stiftungen und Verbände. Eng damit verbunden ist das Voranschreiten einer Ideologie von Effizienz und technologischer Machbarkeit (siehe dazu meine Rezension von Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind, GWR 463), die auch in der Medizin um sich greift. Mit zunehmender Irritation nehme ich wahr, wie wenig soziale Bewegungen dem entgegensetzen. Das war früher anders. Ein Blick zurück und nach vorn, wie immer aus subjektiver Perspektive.

Aufbruch mit umfassender Kritik

Eine der vielen emanzipatorischen Bewegungen der 1970er-/1980er-Jahre war die alternative Gesundheitsbewegung. Ein wichtiger Auftakt war der 1. Gesundheitstag im Mai 1980, zu dem der Berliner Gesundheitsladen eingeladen hatte. Dieser Kongress an der Technischen Universität war eine Gegenveranstaltung zum Ärztetag. Einer der Initiator*innen war der Arzt Ellis Huber, von 1987 bis 1999 Präsident der Berliner Ärztekammer, heute Vorstandsvorsitzender des „Berufsverband der Präventologen“. 2015 schreibt er rückblickend in der Zeitschrift „Gesundheit braucht Politik“ des „verein demokratischer ärztinnen und ärzte“ (vdää): „Konzentrierte Stille, aufmerksame Spannung, dichte Gemeinschaft und ernsthafte Nachdenklichkeit füllten den Raum. Dreitausend Menschen im Audimax der TU Berlin hörten zu und fühlten mit. Sie eröffneten den Gesundheitstag 1980 mit der Frage: ‚Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?‘“ Er berichtet, wie gleichzeitig im Internationalen Congress Centrum „ein ehemaliger SA-Standartenführer als Präsident der Berliner Ärztekammer den 83. Deutschen Ärztetag“ eröffnete und wie lange die Aufarbeitung durch die Ärzteschaft dauerte. Erst 2012 habe der 115. Deutsche Ärztetag in Nürnberg erklärt: „Wir erkennen die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und betrachten das Geschehene als Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft.“
Weit über 10.000 Teilnehmende diskutierten insgesamt auf dem 1. Gesundheitstag. Weitere Gesundheitstage folgten. Es war ein Aufbruch mit umfassender Kritik, nicht nur an nationalsozialistischen Kontinuitäten, sondern auch an karrieristischen, profitorientierten und patriarchalen Strukturen in der Medizin. Die Macht der „Götter in Weiß“ und ihrer Standesorganisationen wurde infrage gestellt. Immer mehr Patient*innen wollten die Ursachen ihrer Leiden verstehen und bei der Behandlung mitentscheiden. Krankheiten waren kein unentrinnbares Schicksal, sondern oft durch krankmachende Arbeits- und Lebensverhältnisse bedingt. Die übliche Apparatemedizin konnte bestenfalls diagnostizieren, aber keine Ursachen verstehen und beschreiben. Medikamentöse Behandlungen folgten oft den Profitinteressen der Pharmaindustrie. So wurde beispielsweise bekannt, dass selbst weit verbreitete Schmerzmittel wie Aspirin schwere Nebenwirkungen haben können. Schon 1970 war gerichtlich festgestellt worden, dass das Pharmaunternehmen Grünenthal die Schädigungen durch sein Medikament Contergan zu verantworten hat.

Selbstorganisierte Gegenmodelle

Die Gesundheitsbewegung orientierte sich stattdessen an den Bedürfnissen der Menschen und bemühte sich um eine ganzheitliche Perspektive auf die Einheit von Körper, Geist und Seele und nahm die Einbindung jeder*jedes Einzelnen in gesellschaftliche Zusammenhänge in den Blick. Es war eine Zeit, in der – zumindest in sozialen Bewegungen – Macht- und Herrschaftskritik selbstverständlich war.
Aus dieser Kritik am Bestehenden gründeten sich gesundheitliche Selbsthilfegruppen und Projekte, in Berlin zum Beispiel 1981 das HeileHaus in der Kreuzberger Waldemarstraße. Bis heute gibt es dort erfahrungs- und naturheilkundliche Angebote für die Nachbarschaft sowie ein Badehaus. Von Anfang an war das Projekt als Angebot für Benachteiligte angelegt. Als Geflüchtete nach ihrem Marsch von Würzburg 2012 den Oranienplatz besetzten, „wurden wir an den für Männer reservierten Badetagen nahezu zwei Jahre lang mit durchschnittlich 120 Badegästen konfrontiert“ (Website HeileHaus). Bis zum Umzug 2009 ins nahe gelegene Bethanien am Mariannenplatz war auch die selbstverwaltete Heilpraktikschule im HeileHaus ansässig.
Der bürgerlichen Medizin galt seit jeher der Mann als das Maß aller Dinge, an ihm orientierte (und orientiert sich großteils bis heute) die Diagnostik und Behandlung, mit oft fatalen Folgen für Frauen. Erst seit 2018 gelten Transpersonen laut Weltgesundheitsorganisation nicht mehr als psychisch krank, und bis es einen angemessenen Umgang in der Medizin mit Menschen gibt, die sich nicht in die Männlich-Weiblich-Binarität einpassen, wird es wohl noch eine Weile dauern.

Frauengesundheitsbewegung und Selbsthilfe

Vom Beginn der Gesundheitsbewegung an organisierten sich Frauen, gründeten Frauengesundheitszentren – von denen viele bis heute bestehen – und Selbsthilfegruppen. Zwar wurden Frauenkörper auch schon damals in der Werbung auf oft sexistische Weise eingesetzt, aber der weibliche Körper als solcher war tabuisiert. So kamen Frauen zusammen, um das unbekannte, meist auch unbenannte „Da unten“ zu erforschen, kollektiv und unter Anleitung mit Spekulum und Spiegel.
In ihrem „Handbuch Selbsthilfe“ schrieben Brigitte Runge und Fritz Vilmar 1988: „Mit etwa 6-10.000 Sozialen Selbsthilfegruppen ist der Selbsthilfe-Aktionsbereich Gesundheit einer der größten Teilbereiche“ (S. 144). Dazu zählten sie auch Initiativen und Organisationen von Menschen mit Behinderungen und die vielen Selbsthilfegruppen, die sich um einzelne Krankheitsbilder zusammenfanden. Sie verstanden die gesundheitliche Selbsthilfe im weitesten Sinne als Teil einer umfassenden Bewegung der Aneignung der eigenen Lebensverhältnisse durch Selbstorganisation.
Dazu gehörten sowohl die Alltagskämpfe gegen ausgrenzende und repressive Zumutungen als auch der Aufbau eigener Alternativen. Weitere Aktionsbereiche waren Wohnen und Umwelt, Arbeitswelt, Kultur, Benachteiligte und Diskriminierte. All dies gibt es bis heute, wenn auch mitunter in veränderter Form und Ausrichtung. Kollektive Selbsthilfe ermöglicht Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, die sich grundlegend von der von neoliberaler Seite geforderten Eigenverantwortung unterscheidet, die eine Kehrseite entwürdigender Sparprogramme ist. Allerdings hat sich die gesundheitliche Selbsthilfe schon seit einiger Zeit deutlich entpolitisiert. Immer wieder gibt es auch Versuche von Pharmaunternehmen, Einfluss zu gewinnen, um ihre Produkte dort abzusetzen.

Heilkunst braucht körperliche Begegnung

Eine Heilkunst, die diesen Namen verdient, scheint vom Verschwinden bedroht zu sein. Das ärztliche Gespräch wird kaum noch finanziell honoriert und ist doch so entscheidend für eine fundierte Diagnostik, die nie durch digitale Hilfsmittel und Künstliche „Intelligenz“ ersetzt werden kann. Sicher können Geräte einiges herausfinden, aber sie folgen einer sezierenden Logik, schauen aufs Detail und nicht auf den ganzen Menschen. Wenn Ärzt*innen nur noch auf den Bildschirm starren, statt ihren Patient*innen in die Augen zu sehen, dann läuft etwas grundlegend falsch.
Heilkunst beruht auf Erfahrungen und Beziehung, sie nimmt den ganzen Menschen wahr mit allen körperlichen Signalen des Ausdrucks, der Mimik und Gestik, ist aufmerksam für Blickkontakte und Sprache. Erfahrene Heilkundige berühren den Körper ihrer Patient*innen, riechen ihren Atem und ihre Ausdünstungen, und mitunter kommt in dieser Resonanzbeziehung aus dem Vorbewussten eine Idee, die für die weitere Diagnostik hilfreich ist. Laboruntersuchungen und technische Untersuchungsverfahren sind wichtig, aber schon ihre Auswahl erfolgt aufgrund einer ärztlichen Entscheidung. Die kann zwar auch durch Vorurteile geprägt und verengt sein, aber Beziehungen zu wohlwollenden und erfahrenen Behandler*innen lassen sich nicht technisch nachbilden.
Die Technikfixierung hat lange vor der Pandemie begonnen, aber mit Corona einen Schub bekommen. Die Entkörperlichung vieler Lebensbereiche schreitet voran. Noch ist offen, wie es ausgehen wird. Ob der patriarchale Glaube an die fast unbeschränkte technologische Machbarkeit hegemonial werden wird? Machtvolle Akteure aus Wirtschaft und Politik zielen nicht nur auf die Bekämpfung von Krankheiten, sondern möchten nahezu jedes Problem technisch angehen. Mit profitablen Scheinlösungen soll das Fortschreiten der Klimakatastrophe verhindert werden (mehr bei www.klimascheinloesungen.de), mit digitaler Aufrüstung bedrohliche Hackerangriffe (dazu Manfred Kriener in verdi.publik 01/2022).
Oder ob vielleicht doch, endlich, gesellschaftliche Mehrheiten verstehen, dass weder Technik noch Kapitalismus die Welt retten werden? Vielen ist schon seit Jahrzehnten klar, dass ein paar Reformen nicht reichen, sondern dass für das Überleben der Menschheit ein Systemwechsel notwendig ist. Selbstverwaltete Strukturen „von unten“ sind dafür ebenso wichtig wie die Abwehr der „von oben“ drohenden Gefahren.
Der aufstrebende Geschäftszweig der Telemedizin ignoriert nicht nur das Wissen um die Bedeutung von Begegnung in der Medizin, sondern droht damit auch das Erfahrungswissen in der Heilkunst zu verdrängen. Diese Entwicklungen hin zu totalitären transhumanistischen Bestrebungen halte ich für sehr gefährlich.

Die Autorin hat in den 1970er-/1980er-Jahren selbst eine Ausbildung als Heilpraktikerin gemacht und im HeileHaus erste Behandlungserfahrungen gesammelt. Nach einigen Monaten Mitarbeit in einer Praxis für Biologische Krebstherapie hat sie zwei Kinder großgezogen und sich dann anderen Berufsfeldern zugewandt. Das Interesse an Medizin hat sie sich aber erhalten.