stoppt die kriegsmaschinerie

Gegen das politische Gemetzel

Bakunins Anarchismuskonzepte als Alternative zum Krieg

| Johann Bauer

Fotos: Georges-Mathurin Legé, Public domain, via Wikimedia Commons, Government of Ukraine, Public domain, via Wikimedia Commons

Wie so oft bemüht die bürgerliche Presse auch bei ihrer Kritik an Wladimir Putins Politik das ultimative Feindbild des „Anarchisten“, um ihren Abscheu zum Ausdruck zu bringen. Dass der Anarchismus mit dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht nur nichts zu tun hat, sondern das genaue Gegenteil darstellt, zeigt Johann Bauer am Beispiel von Michail Bakunin. (GWR-Red.)

Der Anarchist Putin

„Er riss die Welt mit sich in ein von Angst geprägtes Zwischenreich, ein Nirgendwo zwischen Ordnung und Regellosigkeit. In der Nacht von Montag auf Dienstag dieser Woche hat Putin sich dann für einen Weltzustand entschieden: die Anarchie. Und er hat sich für eine Sprache entschieden: die der Gewalt.“

So springt uns auf Seite 1 der Zeit vom 24. Februar 2022 die Schlagzeile „Der Anarchist“ ins Auge! Der maximale Schrecken, Chaos, Gewalt, einmal mehr aufgerufen mit der Chiffre „Anarchie“. Und gleichzeitig ist nun eine „ausgewiesene Expertin“ für Anarchismus entstanden, a star is born, so wie es seit Längerem in Zeiten von Krieg und Terror „Expert*innen“ hagelt. Und wer bei der Zeit „außenpolitische Koordinatorin“ ist, ist ja „keine Geringere als …“, wie eine andere autoritäre Phrase lautet, man braucht ja schon nicht mehr wahrzunehmen, was gesagt wird, wer es sagt, ist vielmehr entscheidend.
Schauen wir uns an, was Putin zum „Anarchisten“ qualifiziert. Er „erteilte […] einen Marschbefehl“ (wer Anarchist*innen kennt, weiß, dass das eine typische Handbewegung im heiteren Beruferaten ist); „bei der Zerstörung internationaler Verträge hat Putin ganze Arbeit geleistet“ (ganze Arbeit ist bei den Chaot*innen sonst nicht ganz so verbreitet) …
Das Motiv „Anarchie“ wird auch so erläutert: „In jener Anarchie, die Putin dem Rest Europas aufzwingen will, hätten das Selbstbestimmungsrecht von Staaten und ihre Souveränität keine Gültigkeit mehr. Es wäre eine andere Welt. In seiner autoritären Anarchie ist der russische Präsident noch nicht ganz angekommen.“
Ich gehöre nicht zu denen, die aufschreien, wenn in irgendeiner Schlagzeile behauptet wird, dass wieder einmal irgendwo „Anarchie herrscht“. Man kann eben eine uralte Wort-Bedeutung nicht so festlegen, wie wir es gerne hätten: Anarchie als Herrschaftslosigkeit, Gewaltlosigkeit. Mit solchen Ambivalenzen muss man leben, auch wenn es manchmal wehtut.
Ich würde sogar zugestehen, dass gute Absichten – auch von Anarchist*innen – nicht schreckliche Wirkungen ausschließen. Wenn dagegen nicht bewusst gehandelt wird, kann auch aus „Anarchie“ im Sinn von beabsichtigter Herrschafts- und Gewaltlosigkeit „Anarchie“ im Sinn von Terror und Unterdrückung hervorgehen (etwa durch lang dauernden Bürgerkrieg, durch Bürokratisierung politisch-sozialer Strukturen, gegen die beispielsweise auch „Räte“ nicht gefeit sind).

Oder der Anarchist Bakunin?

Aber ausgerechnet Putin als „Der Anarchist“ vorzustellen, ist schon ein starkes Stück, weil man die anarchistische Theorie und Polemik letztlich so lesen muss, als hätte sie einen Putin schon geahnt.
Dass einer der wirklichen Anarchist*innen – Michail Bakunin! – gerade als Gegenpol zur russischen Autokratie und allen autoritären, zentralistischen Bewegungen angesehen wurde, ist durch viele Beispiele aus sozialen und intellektuellen Bewegungen gut belegt.
Als Rudolf Bahro eine Alternative zum „real existierenden Sozialismus“ vorschlagen wollte, kam er auf Bakunins Marx-Kritik zurück: „Man mußte wahrscheinlich Anarchist und Russe (!?) sein, um hinter der Autorität Marxens und seiner Lehre im Jahre 1873 den Schatten Stalins zu gewahren.“ (1)
Als Lew Kopelew und Raissa Orlowa 1981 aus der Sowjetunion ausgebürgert wurden und im Sommersemester 1981 in Göttingen lebten, liehen sie aus der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek sofort Bakunins Werke aus.
Auch wenn man die Details von Putins Ideologie sowie seine soziale Basis betrachtet, kann Bakunins „Gott und der Staat“ durchaus als Wegweiser dienen – man denke an die Rolle der Orthodoxie, an den Nationalismus, die große Bedeutung der Staatsräson, kurz: autoritär-zentralistische Strukturen und krassester vulgärster Materialismus, der sich hinter Ideen von Tradition, Größe, Heroismus versteckt.

Keine andere politische Strömung und soziale Bewegung hat die Kritik der Gewaltformen und die Suche nach Alternativen so weit getrieben wie bestimmte anarchistische Bewegungen, (10) gegen den Staat, oft auch gegen andere politische und auch anarchistische Strömungen.

„Wenn Sie wollen, dass die Menschen nicht andere Menschen unterdrücken, so geben Sie ihnen nie die Macht in die Hände. Wenn Sie wollen, dass sie die Freiheit, die Rechte, den menschlichen Charakter ihrer Mitmenschen achten, dann sorgen Sie dafür, dass sie gezwungen sind, sie zu achten: gezwungen nicht durch den Willen oder die bedrückende Aktion anderer Menschen, noch durch den Zwang des Staates und der Gesetze, die notwendigerweise von Menschen vertreten und angewendet werden müssen (…), sondern durch die Organisation der Gesellschaft, die so eingerichtet ist, dass sie jedem den vollsten Genuß seiner Freiheit läßt, aber keinem die Möglichkeit gibt, sich über die anderen zu erheben …“ (2)

Freiheit und Gleichheit zusammendenken

In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde Bakunin vor allem als Gegenspieler von Marx gelesen, aus guten Gründen. Aber er ist auch der Theoretiker einer drohenden neuen Klassenherrschaft, die aus oppositionellen Bewegungen entstehen kann, wenn diese Tendenz nicht bewusst bekämpft wird. (3) Bakunin hat immer Freiheit und Gleichheit zusammengedacht, nicht die liberalistische Theorie vertreten, man müsse entweder für mehr Freiheit (Markt) oder mehr Gerechtigkeit (Staat) plädieren. Das ewige Hin und Her zwischen diesen falschen und bis heute und in alle Ewigkeit einander entgegengestellten „Alternativen“ sichert nur, dass weder Freiheit noch Gerechtigkeit dabei möglich sind.
Es geht darum, eine ganz andere Perspektive als die konformistische einzunehmen: „Ich meine die Freiheit eines jeden, die weit entfernt ist, vor der Freiheit anderer wie vor einem Grenzpfahl haltzumachen, in derselben im Gegenteil ihre Bekräftigung und unendliche Ausdehnung findet …“ (4)
Auch das macht ihn aktuell! In meiner Kritik an Axel Honneths Sozialismus-Konzeption habe ich das so gesagt: „Den Schritt, den Honneth bei Pierre-Joseph Proudhon vermisst, ‚die Erlangung von individueller Freiheit direkt an die Voraussetzung eines solidarischen Zusammenlebens zu binden‘ (S. 35), hat gerade der ungenannte, ‚nicht zitierfähige‘ Bakunin vollzogen.“ (5)
Er hat auch den Zusammenhang von zentralistischer Diktatur und Paranoia gesehen, vielleicht durch seine Erfahrungen mit der Autokratie sensibilisiert. Zentralistische Herrschaft scheidet alle Korrektive aus, wird durch eine Einengung der Perspektive und die unablässige Selbstbestätigung durch Lobhudelei, Reklame und Propaganda blind für die Realität, aber auch für die Schrift an der Wand, die ihr das nahende Ende verkündet. Ständig bedroht fühlt eine solche Herrschaft sich aber doch, und so wird sie immer repressiver, sieht überall „Agenten“, „Terroristen“ und „Verrat“. (6)
Bakunin war keineswegs ein solcher Gewaltanhänger, wie er heute gerne – etwa im Leitartikel der Zeit – dargestellt wird.

„Triumphierende Beweisführung mit dem Gewehr“

„Der Staat ist die Gewalt und hat vor allem das Recht der Gewalt für sich, die triumphierende Beweisführung mit dem Zündnadelgewehr und dem Chassepot. Aber der Mensch ist so sonderbar beschaffen, dass ihm diese Art der Beweisführung, so beredt sie scheint, auf die Dauer nicht genügt … “ (7) Das wird sich auch in Russland bald zeigen.
Bei allen Widersprüchen seiner Positionen, die ja oft nur aus ihren zeitlichen, regionalen und politischen Bezügen zu verstehen sind, wusste Bakunin, „dass politisches Gemetzel nie Parteien getötet hat und sich vor allem gegen die privilegierten Klassen als ohnmächtig erwiesen hat“. (8) Wir haben die GWR 125 (Juni 1988) mit einem Zitat aus dem gleichen Zusammenhang eröffnet: „Um eine radikale Revolution zu machen, muß man also die Stellungen und Dinge angreifen, das Eigentum und den Staat zerstören, dann wird man nicht nötig haben, Menschen zu zerstören und sich zu der unfehlbaren, unvermeidlichen Reaktion zu verurteilen, die in jeder Gesellschaft das Massakre von Menschen stets herbeiführte und stets herbeiführen muß.“
Das ist auch eine Begründung für Gewaltlosigkeit, mindestens gegen verselbstständigte Gewalteskalation, bei der die Mittel die Ziele deformieren. Ziele und Mittel aufeinander zu beziehen, im Mittel das Ziel aufscheinen zu sehen, war für Bakunins föderalistische Konzeption zentral; und es begründete seine Kritik der autoritären Programme.
„Sobald die Revolution sozialistischen Charakter angenommen hatte, hörte sie auf, blutdürstig und grausam zu sein.“ (9)
Kurz: Alles, wogegen der wirkliche Anarchist schrieb und lebte, wird von Putin und der russischen Oligarchie verkörpert. Und nicht wenig davon auch von den Liberalen, die in der Verteidigung ihrer Interessen und der Wahrnehmung von Chancen, andere zu zwingen, auch nie besonders zurückhaltend waren.

Logiken der Gewalt überleben

Auch den Zusammenhang von Staat und Krieg hat Bakunin gesehen, von seiner Teilnahme am Kongress der Friedens- und Freiheitsliga bis zur Kritik des „knutogermanischen Kaiserreichs“, auch wenn er in einer Zeit lebte, in der bewaffnete Expeditionen Teil der nationalen Einigungskriege wie sozialrevolutionärer Erhebungen waren. Er hatte viele Nachfolger*innen, die „Die Waffen nieder!“ oder „Krieg dem Kriege“ forderten, die Verweigerung der Rüstungsproduktion, Verweigerung der Zwangsdienste, gewaltlosen Widerstand, sogar gegen Putsche und bewaffnete Interventionen. Keine andere politische Strömung und soziale Bewegung hat die Kritik der Gewaltformen und die Suche nach Alternativen so weit getrieben wie bestimmte anarchistische Bewegungen, (10) gegen den Staat, oft auch gegen andere politische und auch anarchistische Strömungen. Dazu gehören Versuche, die Legitimation der Gewalt im Bewusstsein der Soldaten zu zerstören, antimilitaristische Agitation, direkte Aktionen der Behinderung, ziviler Ungehorsam. Eine Eskalation bewaffneter Gewalt bedroht heute wieder die Welt mit atomarer, chemischer, biologischer Vernichtung und mit neuartigen Formen von hybrider und Cyber-Kriegführung. Kämpfe für Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung brauchen dagegen unbewaffnete soziale Verteidigung mit ökonomischen und zivilen Mitteln.
Das sind keine Allheilmittel, vielmehr „Experimente mit der Wahrheit“ und immer gefährdete Ansätze von Minderheiten. Auch Mahatma Gandhi meinte, es könne Situationen geben, in denen gewaltsamer Widerstand besser sei, als sich geschlagen zu geben, er hoffte aber, eine Methode zu entwickeln, die jenseits von Gegenterror und Selbstaufgabe einen Weg aus der Gewalt zeigen werde. Manchmal muss Gewalt, die sozial und kulturell tief verankert ist, versagen, zu allem anderen als den versprochenen „Lösungen“ führen, damit sie als das eingeübte, bekannte, naheliegende Verteidigungsmittel durch Überlegungen abgelöst wird, wie ziviler Widerstand gelingen könnte.
Da sind wir immer wieder, mit vielen offenen Fragen, alten und neuen.
Und da ist eine Hoffnung auf Auswege, jenseits von Nationalismus, Brutalität, Diktatur und Militarismus. Die Soldatenmütter, transnationale Überzeugungen und Gemeinschaften, die große Weigerung. Auch wenn das heute unwahrscheinlich ist: Die transnationale Verbindung „von unten“ gegen den Krieg und Diktatur kann aus der „Anarchie“ brutaler Vernichtung herausführen:
„… Gerade diesem antiken System der Organisation durch Gewalt muß die soziale Revolution ein Ende machen, indem sie den Massen, den Gruppen, Communen, Assoziationen, selbst den Einzelpersonen, ihre volle Freiheit wiedergibt und ein für allemal die geschichtliche Ursache aller Gewalttätigkeiten, die Macht und selbst die Existenz des Staates zerstört.“ (11)

(1) Bahro, Rudolf: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 37
(2) Bakunin, Michael: Gesammelte Werke, West-Berlin 1975, Bd. 1, S. 214f
(3) Münster, S.: Michail Bakunin – im Kampf gegen die herrschende Klasse den Sieg einer neuen Klasse verhindern! In: Graswurzelkalender 1990, S. 212–233
(4) Bakunin, Michael: Gesammelte Werke, West-Berlin 1975, Bd. 2, S. 268. Freiheit findet eben nicht nur und in erster Linie eine „Grenze“ in der Freiheit anderer, sondern mindestens ebenso ihre Absicherung, Anerkennung, Bewusstwerdung. Sieht man das nicht jetzt auch in den internationalen Protesten gegen kriegerische Intervention?!
(5) Bauer, Johann: Probleme des Sozialismus. Eine Diskussion zu Axel Honneth „Die Idee des Sozialismus“ in: CuS Christin und Sozialistin, 71. 2018, H. 2/3, S. 34–47, hier S. 37
(6) Solche Prozesse sind oft beschrieben worden; dass sie schon früh kennzeichnend für „Zivilisationen“ wurden und es blieben, hat etwa beschrieben: Mumford, Lewis: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt/M. 1977
(7) Bakunin, Michael: Gesammelte Werke, West-Berlin 1975, Bd. 1, S. 146
(8) Bakunin, Michael: Gesammelte Werke, West-Berlin 1975, Bd. 3, S. 86
(9) Bakunin, Michael: Gesammelte Werke, West-Berlin 1975, Bd. 1, S. 201
(10) vgl. etwa Kalicha, Sebastian: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus. Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Heidelberg 2017
(11) Bakunin, Michael: Gesammelte Werke, West-Berlin 1975, Bd. 2, S. 274; das Zitat stammt aus seiner Schrift über die Pariser Commune, gerade gefeiert und erinnert.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.