Überwacht, durchsucht, angeklagt

Die Graswurzelrevolution als Ziel staatlicher Repressalien

| Silke

50 Jahre Graswurzelrevolution, das bedeutet 50 Jahre kontinuierliche Verbreitung der Ideen des gewaltfreien Anarchismus und des zivilen Ungehorsams, 50 Jahre Begleitung von Kampagnen und sozialen Bewegungen, 50 Jahre Sand im Getriebe von Staat und Kapitalismus – und folglich auch 50 Jahre im Visier von Polizei, Justiz und Inlandsgeheimdienst. Anlässlich des GWR-Jubiläums ist es an der Zeit, einen Blick auf die vielen Repressalien gegen die Graswurzelrevolution zu werfen.

Seit ihrer Gründung im Sommer 1972 wurde die Graswurzelrevolution – genau wie die gewaltfreien Aktionsgruppen und sozialen Bewegungen, die ihr nahestanden – von den staatlichen Behörden kritisch beäugt und immer wieder auch offen verfolgt. Die große Spannbreite reicht von Überwachung über massive Verunglimpfung bis hin zu Hausdurchsuchungen und Ermittlungsverfahren mit grotesken Vorwürfen.
Einen ersten Höhepunkt erreichten die staatlichen Angriffe im Zuge des „Deutschen Herbsts“, als die RAF-Paranoia der Repressionsorgane außer Rand und Band geriet und 1977 auch die Redaktion der Graswurzelrevolution bei einer Durchsuchungswelle getroffen wurde. Gegen einen ehemaligen Göttinger GWR-Redakteur wurde wegen seiner journalistischen Tätigkeit Anklage erhoben. Als Reaktion erschien die Broschüre „Feldzüge für ein sauberes Deutschland. Politische Erklärung gewaltfreier Aktionsgruppen in der BRD zu Terrorismus und Repression am Beispiel der Mescalero-Affäre“ als Beilage der GWR 34/35 im Februar 1978. Darin analysierten die Graswurzelrevolutionär*innen die staatliche Terrorist*innen-hatz, die sich gegen sämtliche emanzipatorischen Bewegungen richtete.

„Aufforderung zu Straftaten“

Mehrfach bemühten Polizei und Justiz bei ihren Kriminalisierungsversuchen den Vorwurf der „öffentlichen Aufforderung zu Straftaten“ nach § 111 StGB – erstmalig zur Jahreswende 1986/87: Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl waren bundesweit „Sägefisch“-Gruppen entstanden, die Sabotage-Aktionen gegen die Energiekonzerne durchführten und innerhalb weniger Monate mehr als 100 Strommasten fällten.
Selbstverständlich beschäftigte sich auch die Graswurzelrevolution mit dieser Bewegung, die den Atomausstieg selbst in die Hand nahm. Unter der Überschrift „Wenn der Strommast fällt … – Überlegungen zu Sabotage als direkte gewaltfreie Aktion“ hatte „G. Waltfrei“ in der GWR 110 (Dezember 1986) seine*ihre Erfahrungen beschrieben: „Wir haben einen Hochspannungsmasten umgesägt. Ich verstehe diese Aktion als gewaltfrei und will von meiner Erfahrung ausgehend eine Einschätzung des Verhältnisses von persönlichem Risiko zum Nutzen geben.“
Der Artikel problematisierte zwar auch kritische Aspekte, befürwortete aber prinzipiell Sabotage als begleitendes Element von gewaltfreien Kampagnen und Aktionen zivilen Ungehorsams. Das rief die staatlichen Organe auf den Plan, die wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ gegen die GWR ermittelten, allerdings ohne Erfolg: Bereits im Juli 1987 wurde das Verfahren eingestellt.

Gegen Kriegspropaganda

Nur vier Jahre später versuchten Polizei und Justiz erneut, den § 111 StGB gegen die antimilitaristische Monatszeitung in Stellung zu bringen. Diesmal wollten sie widerständige Stimmen gegen den Golfkrieg zum Verstummen zu bringen, die die allgemeine Kriegsbegeisterung zu stören drohten: Zwei Staatsanwälte und vier Beamt*innen der Staatsschutzabteilung durchwühlten am 17. Juli 1991 in Heidelberg die Redaktionsräume und die Privatwohnung des GWR-Redakteurs. Als Vorwand für die Durchsuchungen dienten ein Artikel in der GWR 154 (März 1991) und das in dieser Nummer beigelegte Flugblatt des Aktionsbündnisses „Kein Krieg am Golf“. Die Texte thematisierten direkte gewaltfreie Aktionen gegen Bundeswehr und Rekrutenzüge und zeigten damit eine kollektive Handlungsoption gegen den staatlich organisierten Massenmord im Irak auf. Die Beamt*innen beschlagnahmten verschiedene Veröffentlichungen zum 2. Golfkrieg und zu Kriegsdienstverweigerung sowie Aufrufe zur Blockade von Rekrutenzügen oder zur Desertion. Auch dieses Verfahren wegen „öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ wurde nach einigen Monaten ergebnislos eingestellt.
Die Anzeige eines ehemaligen Kriegsberichterstatters der Wehrmacht, Lothar-Günther Buchheim, wegen Beleidigung und übler Nachrede diente den Ermittlungsbehörden 1997 als Anlass für erneute Repressalien. Im Sinn von Klaus-Jürgen Theweleits „Männerphantasien“ hatte der Artikel „Die Weltliteratur des faschistischen Mannes“ in der GWR 216 (Februar 1997) Buchheims militaristisches Machwerk „Jäger im Weltmeer“ analysiert und dessen innige Verbundenheit zur NS-Ideologie des soldatischen Heldentums aufgezeigt. Das Erscheinen des 1943 verfassten Romans war in den letzten Kriegsjahren gescheitert – unter anderem dank einer Sabotageaktion der französischen Résistance. Inzwischen versuchte der Autor, sich als widerständig zu verkaufen, und hatte „Jäger im Weltmeer“ bei Hoffmann & Campe herausgebracht. Von dem GWR-Artikel fühlte sich der Militarist beleidigt, weshalb fünf Staatsschutz-Beamt*innen am 23. Juli 1997 die Redaktion und Privatwohnung des GWR-Redakteurs in Heidelberg durchsuchten und zahlreiche Unterlagen beschlagnahmten.

„Entfernen Sie sich von der Truppe!“

Das publizistische Engagement gegen die neuen Kriege der BRD und vor allem der Aufruf an die Soldat*innen, sich dem Töten zu verweigern, standen im Mittelpunkt der nächsten Ermittlungen nach § 111 StGB in den Jahren 1999/2000. Auslöser war diesmal die GWR-Massenzeitung 2/1999 mit dem Titel „Stoppt den Krieg! Nein zu Bomben, Krieg, Vertreibung!“, die in einer Auflage von rund 30.000 Exemplaren erschienen war. Ebenfalls kriminalisiert wurde der „Aufruf an alle Soldaten: Verweigern Sie Ihre Beteiligung an diesem Krieg!“, den zahlreiche Prominente und Aktivist*innen unterzeichnet hatten und der in der GWR 239 (Mai 1999) abgedruckt wurde. Die zentralen Forderungen – „Eine Beteiligung an diesem Krieg ist nicht zu rechtfertigen. Verweigern Sie deshalb Ihre Einsatzbefehle! Entfernen Sie sich von der Truppe! Lehnen Sie sich auf gegen diesen Krieg!“ – waren aus Sicht der Staatsanwaltschaft ein Aufruf zur (bis heute strafbaren) „Fahnenflucht“.
Unter den über 90 Verfahren, die gegen Unterzeichner*innen des Appells eingeleitet wurden und zum Teil in hohen Geldstrafen endeten, spielte der Fall des GWR-Koordinationsredakteurs aus Münster eine besondere Rolle, weil gegen ihn zusätzlich als presserechtlich Verantwortlichen Ermittlungen liefen. Damit wurde erstmalig seit 1945 ein Redakteur wegen Aufrufs zur Desertion kriminalisiert. Zugleich endeten die Bemühungen der Staatsanwaltschaft mit einer Blamage: Weil die Beamt*innen mit der dezentralen Organisierung überfordert waren und die verschiedenen Redaktionsstandorte sowie den GWR-Verlag miteinander verwechselten, benötigten sie sechs Monate und zwei Tage, um gegen den presserechtlich Verantwortlichen ein Verfahren einzuleiten – und damit zwei Tage länger als die zulässige Frist.
In späteren Jahren kam es immer wieder zu medialen Hetzkampagnen gegen unbequeme soziale Bewegungen und einzelne Aktivist*innen, die der Graswurzelrevolution nahestanden. Dabei wurde regelmäßig auch die GWR selbst verunglimpft, beispielsweise in der Berichterstattung über die Massenblockaden der Castor-Transporte und Graswurzel-Organisationsformen der Anti-AKW-Bewegung. Vor allem aber forcierte der Inlandsgeheimdienst die Diffamierung: 1999 schreckte das Bundesamt für Verfassungsschutz (VS) nicht einmal davor zurück, auf dem Titel der Broschüre „Extremistische Bestrebungen im Internet“ die GWR-Homepage neben Nazi-Webseiten abzubilden und damit den gewaltfreien Anarchismus mit menschenverachtenden faschistischen Ideologien gleichzusetzen. Auch in den VS-Berichten der Folgejahre wurden immer wieder absurde Verdrehungen über die gewaltfrei-anarchistische Presse und Praxis verbreitet.
Doch die Graswurzelrevolution lässt sich nicht kleinkriegen: Wir sind und bleiben widerständig und unbequem!