„Die spezifischen Auswirkungen von Kriegen auf Frauen werden in der Regel ignoriert“

Beratung und praktische Unterstützung für Frauen in der Ukraine

| Interview: Silke

Beratungsgespräch mit einer Frau im Osten der Ukraine, (2021) - Foto: AMICA

Kriege und ihre Folgen treffen Frauen* in besonderem Maß. An genau diesem Punkt setzt der Verein AMICA an, der Frauen in Krisengebieten unterstützt und schon seit mehreren Jahren mit einer lokalen Initiative in der Ostukraine zusammenarbeitet. Im Interview mit der Graswurzelrevolution gibt Cornelia Grothe von AMICA Einblicke in das Engagement in der Ukraine und in die prekäre Situation von Frauen. (GWR-Red.)

GWR: AMICA e. V. existiert seit fast 30 Jahren. Was ist euer Ansatz, und in welchen Ländern seid ihr vor allem aktiv?

Cornelia Grothe: AMICA ist aus einer Graswurzelbewegung entstanden, bei der sich Menschen aus dem Umfeld des soziokulturellen Zentrums Fabrik in Freiburg angesichts des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zusammengetan haben, um Hilfsgüter zu sammeln und nach Bosnien zu bringen. Die Situation dort war entsetzlich – die Menschen berichteten von Angriffen auf Zivilist*innen und strategischen Massenvergewaltigungen. Unzählige Menschen mussten ihr Zuhause zurücklassen und fliehen. Unter den Binnenvertriebenen war der Anteil an Frauen und Kindern besonders hoch. Verletzt und traumatisiert erreichten sie Tuzla. AMICA unterstützte Aktivist*innen vor Ort darin, geschützte Räume, medizinische Versorgung und psychologische Hilfe zur Verfügung zu stellen.
Aus diesem gemeinsamen Engagement entstand der Verein AMICA, der Frauen in Kriegs- und Krisenregionen unterstützt. Bis heute arbeiten wir mit Partnerorganisationen in Bosnien zusammen und sind aktuell außerdem in Libyen, im Libanon und in der Ukraine tätig.

Was waren vor dem jetzigen Krieg eure Arbeitsschwerpunkte in der Ukraine?

Der Rückblick auf die Zeit vor dem Krieg ist schmerzhaft. Unsere Partnerorganisation ist aus einer Initiative entstanden, die 2014 beim Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine binnenvertriebene Frauen unterstützt hat – seit 2018 in Kooperation mit AMICA. Gemeinsam konnte ein Beratungszentrum in Mariupol aufgebaut und betrieben werden, das allerdings Mitte März 2022 im Rahmen der Belagerung der Stadt abgebrannt ist. Vom Zentrum aus sind die Partnerinnen mit mobilen Teams in die regierungskontrollierten Teile der Pufferzone gefahren und haben dort Frauen und auch Kinder medizinisch, psychosozial und juristisch unterstützt.

Gerade für diese Frauen verschränkte sich ihre ohnehin sehr schwierige Lebenssituation mit den gesundheitlichen Gefahren, aber auch den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie.

Die Lage in der Pufferzone, dem Gebiet zwischen den Konfliktparteien, war sehr instabil, es gab kaum funktionierende Infrastruktur. Es fehlte an medizinischer und psychologischer Versorgung, an Lebensmitteln, Erwerbsmöglichkeiten und Anlaufstellen für Frauen bei Gewalterfahrung. Viele der Frauen sind Binnenvertriebene, die sehr isoliert in dieser Pufferzone leben. Gemeinsam mit AMICA hat die Partnerorganisation die Frauen dabei unterstützt, sich in Initiativgruppen zu organisieren, die wir auch mit Räumen und finanziellen Mitteln ausstatten konnten. Dort haben die Frauen einen sicheren Rückzugsort, können sich gegenseitig unterstützen und austauschen und an Angeboten wie einer Nähwerkstatt, Kunsttherapie und Beratungsgruppen teilnehmen. Ergänzt wurde die Beratungsarbeit durch einkommensschaffende Maßnahmen, Gründungsberatung und politische Lobby-Arbeit zur Reduzierung von Gewalt gegen Frauen.

Wie sah eure Beteiligung vor Ort aus?

Für uns ist es wichtig, unseren Partnerinnen soweit wie möglich auf Augenhöhe zu begegnen. Die Menschen vor Ort wissen am besten, welche Unterstützung gebraucht wird. Da es im Osten der Ukraine nur sehr rudimentäre zivilgesellschaftliche Strukturen gibt, ist es schwierig, sich als Organisation zu etablieren und Geldgeber*innen zu finden. Wir begleiten die Partnerorganisation bei der Organisationsentwicklung und stellen gemeinsam Finanzierungsanträge. Das sind im Wesentlichen öffentliche Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit, die dann aus privaten Quellen wie Stiftungen und Spenden kofinanziert werden. Gemeinsam formulieren wir aus dem aktuellen Bedarf heraus Projektanträge und unterstützen beim Projektmanagement. Unser Ziel ist es, dass die Organisationen so aufgestellt sind, dass sie sich eigenständig finanzieren und damit nachhaltige Strukturen für Frauen vor Ort schaffen können.
Es ist eine komplexe Aufgabe, zumal unsere Arbeit hier in Deutschland nur zu einem geringen Teil durch Verwaltungsanteile aus Projektförderungen finanziert werden kann und wir als Verein zur Finanzierung unserer Geschäftsstelle, des Teams und der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit auf private Spenden angewiesen sind.

Durch die Corona-Pandemie hatte sich die Situation von Frauen* bereits deutlich verschlechtert. Kannst du einen Überblick über die wichtigsten Probleme geben?

Unsere Partnerorganisation arbeitet vor allem mit Binnenvertriebenen, also mit Frauen, die schon vor 2022 vor dem Krieg fliehen mussten. Gerade für diese Frauen verschränkte sich ihre ohnehin sehr schwierige Lebenssituation mit den gesundheitlichen Gefahren, aber auch den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. Besonders in der Pufferzone gibt es keinen verlässlichen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die mit den Ausgangssperren verbundene Isolation war für viele Familien sehr schwer auszuhalten; auch in der Ostukraine kam es zu einem massiven Anstieg der Fallzahlen häuslicher Gewalt, und das in Verbindung mit sehr eingeschränkten Unterstützungsmöglichkeiten.
Mit Beratungsangeboten durch Messenger-Dienste und soziale Medien sowie der Weiterführung von Hausbesuchen haben unsere Partnerinnen den Kontakt gehalten und z. B. neue Online-Beratungsformate entwickelt. Zentral dabei waren auch Informationsgespräche, denn wie überall auf der Welt machten zahlreiche falsche Nachrichten die Runde, sodass es für die Frauen extrem schwer war, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Obwohl sie so flexibel reagierten, mussten die Partnerinnen einen Teil der Aktivitäten aussetzen. Für uns wurde deutlich, dass auch diese Krise Frauen* in besonderem Maße trifft und wie wahnsinnig kreativ sie darin sind, sich auf immer wechselnde Gegebenheiten einzustellen.

Ihr wart hauptsächlich in der Ostukraine aktiv. Welche Folgen hatte der Krieg von 2014 für die Lage der Frauen* dort?

Frauen haben in der Ostukraine seit Jahren besonders unter den kriegerischen Auseinandersetzungen gelitten und waren verschiedenen geschlechtsspezifischen Folgen des Konflikts ausgesetzt: Durch fehlende Anlaufstellen, rechtsfreie Räume, Verrohung der Gesellschaft und Perspektiv- und Arbeitslosigkeit der Männer nahm häusliche, innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen zu. Zudem haben Frauen konfliktbezogene sexualisierte Gewalt erlebt. Insbesondere in den von Separatisten kontrollierten Gebieten erreichten uns Berichte über sexualisierte Gewalt als Druckmittel gegen „den Gegner“ und zur Terrorisierung der Zivilgesellschaft. Sexualisierte Gewalt wird so seit jeher als strategische Kriegswaffe eingesetzt. Auch an den Checkpoints, die die unkontrollierten von den regierungskontrollierten Gebieten in der Ostukraine trennten und über die Menschen versuchten zu fliehen, kam es zu sexueller Ausbeutung durch Soldaten im Austausch gegen „Sicherheit“, also für die Möglichkeit, das Gebiet mit der Familie zu verlassen.
Hinzu kommt, dass Frauen in bewaffneten Konflikten überproportional stark von Armut und humanitärer Not betroffen sind. Sie sind meist für das Überleben und die Ernährung der Familien verantwortlich. Schon in den letzten Jahren war die Versorgungslage in der Pufferzone für Frauen sehr prekär: Es kam zu Lebensmittelengpässen und Mangel an medizinischer Versorgung. Unter anderem berichtete unsere Partnerorganisation in diesem Zusammenhang von sexueller Ausbeutung und Überlebensprostitution. Diese spezifischen Auswirkungen von Kriegen auf Frauen werden in der Regel ignoriert, auch im Nachgang eines Konflikts. Konfliktlösungsstrategien, Hilfsangebote und Wiederaufbauprogramme sind häufig „gender-blind“ und beziehen diese spezifischen Erfahrungen und Bedarfe von Frauen nicht mit ein.

Durch den jetzigen Krieg ist die Situation von Frauen* katastrophal geworden, und Gewalterfahrungen sind allgegenwärtig. Bekommt ihr Berichte von dort oder von Frauen*, die hierher geflohen sind?

Die fürchterlichen Erfahrungen von Mädchen und Frauen in Kriegen und Konflikten sind uns wie oben beschrieben wohlbekannt. Einen „menschlichen Krieg“ gibt es nicht und hat es auch noch nie gegeben. Trotzdem ist es erschreckend zu sehen, mit welcher entfesselten Brutalität militärische Streitkräfte derzeit gegen die Zivilgesellschaft vorgehen. Aus den Gesprächen mit unseren Partnerinnen können wir alle gängigen Berichte über Vergewaltigungen, Verschleppungen und weitere Verbrechen an der Menschlichkeit bestätigen.
Wir werden unsere ukrainische Partnerorganisation mit den bosnischen Partnerinnen zusammenbringen, um sich in dieser akuten Ausnahmesituation über Dokumentationsmöglichkeiten zu einer späteren juristischen Verfolgbarkeit von Kriegsverbrechen auszutauschen. In Bosnien sehen wir, wie schwierig diese Kriegsverbrechensprozesse sind. Der größte Teil der Täter lebt unbehelligt oft Haus an Haus mit den Opfern ihrer Gewalttaten – geschützt von gesellschaftlicher Sprachlosigkeit, von Scham und vom fehlenden politischen Willen zur Aufklärung.

Können eure ukrainischen Partnerprojekte überhaupt noch arbeiten? Was sind ihre jetzigen Schwerpunkte?

Im Katastrophenfall zeigt sich, wie wichtig eine funktionierende Zivilgesellschaft vor Ort ist. Internationale Hilfen starten immer zeitverzögert, eine gut aufgestellte Organisation wiederum kann vor Ort sofort aktiv werden. So haben sich unsere Partnerinnen schon vor dem Angriff durch russische Truppen auf den schlimmsten Fall eingestellt; sie haben in der Pufferzone und in Mariupol Evakuierungsorte geschaffen und diese mit Notstromgeneratoren, Satellitentelefonen und den notwendigsten Vorräten ausgestattet. Die Frauen wurden von den mobilen Teams darüber informiert, wo sie Zuflucht finden können, wenn sie zuhause nicht mehr sicher sind. Neben diesen organisatorischen Aspekten war es wichtig, die Frauen und Kinder, die bereits traumatische Kriegserfahrungen gemacht haben, psychologisch zu begleiten und mit Retraumatisierungen umzugehen. Mit Notfallinterventionen und Medikamenten mussten sie die erneute Flucht vorbereiten.
Durch die gute und schnelle Organisation konnten nach dem Angriff auf die Ukraine zahlreiche Menschen evakuiert werden, bevor Mariupol eingeschlossen wurde. Mitte März konnten alle Mitarbeiterinnen unserer Partnerorganisation die Stadt verlassen und organisieren seitdem von Dnipro aus weitere Evakuierungen, Notunterkünfte und die dringend notwendige psychologische Betreuung. Aktuell sind sie dabei, in Ivano Frankiwsk eine weitere Notunterkunft mit Beratungsstelle aufzubauen. Dank der großen Spendenbereitschaft in der Bevölkerung und der Flexibilität einzelner Geldgeber*innen können wir unsere Partnerinnen weiterhin nachhaltig unterstützen.
Unser Fazit aus der aktuellen Situation lautet: Starke zivilgesellschaftliche Organisationen stabilisieren eine Gesellschaft und sind die ersten Akteur*innen im Notfall. Während der Großteil internationaler Hilfen kurzzeitig und je nach öffentlichem Interesse vergeben wird, hat sich der Ansatz von AMICA, vertrauensvolle, stabile und nachhaltige Partnerschaften mit lokalen Expert*innen im betroffenen Gebiet aufzubauen und diese zu unterstützen, als sehr erfolgreich erwiesen.

Ihr beteiligt euch jetzt auch an der praktischen Hilfe für ukrainische Geflüchtete. Worin besteht eure Arbeit? Bringt ihr dabei feministische Schwerpunkte mit ein?

Schwerpunkt unserer Arbeit ist weiterhin die Zusammenarbeit mit den lokalen Partnerinnen in der Ukraine bzw. an ihren Zufluchtsorten in Polen. Hier in Deutschland bringen wir unsere Expertise zur Situation von Frauen* im Krieg und auf der Flucht ein. Zu den Narrativen des Krieges gehört immer auch eine Reduzierung von Vielfalt auf traditionelle Geschlechterrollen, die Frauen als hilflose Opfer beschreibt. Wir erleben das Gegenteil: Frauen, die lange und gefährliche Fluchtwege bewältigen, die unter Einsatz ihres Lebens Evakuierungsfahrten organisieren und die nach Wochen ohne Schlaf weiterhin ein offenes Ohr und eine helfende Hand für Menschen in Not haben. Aktivistinnen, die mitten im Krieg erste Zukunftsperspektiven entwickeln. Wir können hier in Deutschland aktuell nicht viel mehr tun, als ihre Arbeit mit finanziellen Mitteln zu ermöglichen, ihnen zuzuhören und unsere unbedingte Solidarität und uneingeschränkte Anerkennung ihres Engagements zu vermitteln.

Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen euch weiterhin viel Energie für eure wichtige Arbeit!

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.