Volkszählung heißt jetzt Zensus

Interview mit freiheitsfoo zum Zensus 2022

| Interview: Gaston Kirsche

Foto: Marcos Gasparutti via flickr. com (https://flic.kr/p/zh7ZMB, (CC BY-SA 2.0))

Ab Mitte Mai finden drei Monate lang die Befragungen für den Zensus 2022 statt, durchgeführt von 100.000 Interviewenden und per Online-Befragung. Der Zensus 2022 ist eine Bevölkerungszählung, die aus der Zusammenführung von staatlichen Registern besteht. Zur Korrektur von Fehlern werden 10 % der Bevölkerung um Auskunft gebeten – die ist verpflichtend, bei Verweigerung drohen Bußgelder bis zu 5.000 Euro. Ungefähr 10,3 Millionen Personen werden in einem kurzen persönlichen Interview befragt. Zensus-Stichtag ist der 15. Mai 2022 – alle Angaben zu Wohnort, Beruf, Alter, Bildung oder Familienstand beziehen sich auf diesen Tag. Neben den Bevölkerungsdaten wird beim Zensus auch die Zahl der Wohnungen und Wohngebäude in Deutschland ermittelt. Dazu werden deren etwa 23 Millionen Eigentümer:innen online befragt.

Gaston Kirsche hat für die GWR dazu ein Interview mit Michael Ebeling und ulif, aktiv in der Redaktionsgruppe freiheitsfoo geführt. Beide setzen sich seit vielen Jahren kritisch mit Volkszählungen, Datenschutz und Persönlichkeitsrechten auseinander. Sie wollen für alle Antworten gemeinsam einstehen.

GWR: Was hat der Zensus mit dem Volkszählungsboykott 1987 zu tun?

freiheitsfoo: Der Zensus ist die Wiederholung der Volkszählung 1987 mit anderen Mitteln. Andere Mittel sind etwa der Namenswechsel von Volkszählung zu Zensus, was den für die Politik angenehmen Nebeneffekt hat, dass der Name nicht sofort an die Boykotte und Protestbewegungen der 1980er erinnert, sondern wie etwas Neues und Sauberes wirkt. Das Lateinische suggeriert eine Wissenschaftlichkeit, die sich für uns etwa bei den Testmethoden der Zensus-Software nicht wirklich erschließt. Und der Rückgriff auf die Register, also Datenbanken der Behörden: mehr Daten, mehr Vernetzung.

Das Grundproblem von damals war: Warum muss der Staat diese ganzen Daten von mir sammeln und an einer zentralen Stelle speichern? Warum darf ich das nicht selbst bestimmen und verhindern? Dahinter steckt die Frage nach der Macht über die Daten und damit auch über die je eigene Selbstbestimmung: Kann ich selbst entscheiden, wann wo welche Daten von mir verarbeitet werden? Oder kann der Staat damit machen, was er will?

Die Proteste von 1983 und 1987 haben gezeigt, dass hier ein Schutzbedürfnis entstand, einfach schon deshalb, weil Daten zunehmend leichter auszutauschen waren.

Inzwischen gibt es viele rechtliche und technische Regeln, die versuchen, diesem Schutzanspruch der Menschen gerecht zu werden. Ein Ausdruck davon ist etwa die DSGVO, die Datenschutzgrundverordnung.

Dennoch ist das Grundproblem geblieben und angesichts der enorm wachsenden technischen Möglichkeiten dringlicher als je zuvor. Und deshalb muss die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, Angemessenheit, aber auch Fehlerhaftigkeit der technischen und rechtlichen Regeln des Zensus jedes Mal erneut gestellt werden.

Die Datenschutzgrundverordnung ist doch auch ein Erfolg von Bewegungen wie dem Volkszählungsboykott?

Der Boykott zu den Volkszählungen 1983 und 1987 im damaligen Westdeutschland war aus unserer Sicht das Ergebnis einer Bürger:innenbewegung. Er hat die Volkszählung 1987 zwar nicht verhindert, aber ein Bewusstsein für die Machtproblematik geweckt, die mit Daten verbunden sein kann. Ein bis heute nicht zu unterschätzendes Ergebnis war das so genannte Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes, das zum ersten Mal das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ aus der Verfassung ableitete und formulierte – und die Volkszählung 1983 tatsächlich auf den letzten Metern stoppte. Dieses Recht wurde später ein zentraler Baustein des Daten- und Persönlichkeitsrechtsschutzes in Europa schlechthin. Eins könnte auch sagen, das Urteil ist eine der Wiegen des Datenschutzes überhaupt.

Ihr habt gegen den Probelauf für den Zensus Verfassungsbeschwerde eingelegt?

Haben wir nicht. Das waren die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der AK Zensus. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte und die Klagenden vermuten, dass eben das oben erwähnte Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch den Probelauf, bei dem sämtliche Melderegisterdaten der Menschen in Deutschland ohne Anonymisierung oder Pseudonymisierung ans Bundesamt für Statistik gesendet wurden, verletzt wurde. Das BVerfG hat den Eilantrag abgelehnt und die Klage zur Hauptsache aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen nicht zur Entscheidung angenommen.

Wir unterstützten und unterstützen die Klage von GFF und AK Zensus inhaltlich ohne Wenn und Aber. Einer der Beschwerdeführer ist sogar vom freiheitsfoo. Der Probelauf sollte dem Test von Softwaresystemen dienen, so die Gesetzesbegründung. Das ist in etwa so, als würde die Feuerwehr, um ihre neuen Schläuche zu testen, eine ganze Stadt anzünden.

Der Probelauf, gegen den die GFF und AK Zensus Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten, betraf die Übertragung der Melderegisterdaten. Dabei wurden keine Menschen angeschrieben. Alles ging automatisch und ohne dass es die Betroffenen – fast alle bei Meldebehörden in Deutschland Gemeldeten – überhaupt mitbekommen haben.

Steht die Datenschutzgrundverordnung der EU nicht im Widerspruch zum Zensus?

Wir sind kein Gericht, finden es aber bedenklich, dass erstens Teile der in der DSGVO verankerten Datengrundrechte – hauptsächlich die Auskunftsrechte – temporär einfach abgeschaltet werden. Ein mögliches weiteres rechtliches Problem ist zweitens die nicht anonymisierte Weitergabe von Meldedaten zu Testzwecken. Die scheint uns sowohl schwer vereinbar mit dem Volkszählungsurteil als auch mit dem Artikel 89 der DSGVO. Zumindest hätte diese Übertragung nicht alle Daten und dies auch noch ohne jede Pseudonymisierung umfassen dürfen. Die technische Begründung, warum das notwendig sein soll, erscheint dünn. Drittens ist in den letzten Tagen bekannt geworden, dass Webseiten des Zensus beim US-amerikanischen Dienstleister Cloudflare gehostet wurden. Das ist ein DSGVO-relevantes Problem.

Es gab aber auch vor der DSGVO bereits Datenschutzprobleme, auch bei der vom Bundesverfassungsgericht abgenickten letzten Volkszählung, dem Zensus von 2011. Nachdem dieser beendet war, hatte der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar eine Art Checkliste Datenschutz erstellt, deren Punkte er damals, 2013, nicht erfüllt sah. Von diesen Punkten sind, soweit wir das ersehen können, bei der Volkszählung 2022 höchstens anderthalb Punkte abgearbeitet worden. Die Checkliste stammt wohlgemerkt aus der Zeit vor der DSGVO.

Insgesamt zielt die Frage nach einem Widerspruch zwischen DSGVO und Volkszählung etwas am eigentlichen Problem vorbei. Die DSGVO ist in Teilen ein Ergebnis zivilen Widerstands gegen die Volkszählung, nicht seine Voraussetzung. Dass es die DSGVO gibt, ist ein Zeichen dafür, dass sich gesellschaftliche Kritik und politisches Engagement lohnen können.

Berücksichtigt der Zensus den Datenschutz?

Der Zensus 2022 trägt eine große Zahl von sehr sensiblen personenbezogenen Daten jedes:jeder Einwohner:in in Deutschland zentral zusammen. Die dann versprochene Anonymisierung, soweit es gar nicht nur eine Pseudonymisierung ist, hält nicht immer das, was sie verspricht. Tatsächlich ist eine echte Anonymisierung personenbezogener Daten in diesem Umfang und Zusammenhang sehr schwierig bis gar nicht 100%ig realisierbar, mindestens aber hochkomplex und praktisch kaum oder gar nicht bewältigbar.

Dazu kommt, dass die Sicherheit der Daten fraglich ist. Das soll nicht heißen, dass wir den statistischen Behörden eine schlechte Arbeitsweise oder mangelndes Bewusstsein vorwerfen würden. Aber ganz grundsätzlich gibt es keine praktisch sicheren Daten oder Datensysteme. Unter diesem Gesichtspunkt muss abgewogen werden, ob das Risiko, das man mittels der Erfassung und Zusammenziehung umfangreicher Daten der gesamten Bevölkerung eingeht, mit dem Zweck der Volkszählung im gesunden Verhältnis steht. Dazu ist unsere Antwort ein klares Nein.

Übrigens gab es 2021 bereits einen erfolgreichen Angriff auf die IT-Infrastruktur des laufenden Zensus, den das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) selbst als schwerwiegendes Sicherheitsereignis eingestuft hat. Ein solches Urteil fällt das BSI nicht ohne guten Grund. Ebenfalls gibt es aktuell eine heftige Kritik zur Nutzung des US-heimischen Dienstes Cloudflare im Zusammenhang mit der Homepage des Zensus 2022, mittels deren auch die Online-Beantwortung der Fragen erfolgen soll.

Warum ist es um den Zensus trotz dieser ganzen Kritikpunkte so still?

Das liegt unserer Ansicht nach zum Teil daran, weil die Aufmerksamkeit vieler Menschen durch andere gewichtige Probleme und aktuelle Zeitläufte gebunden ist.

Aber auch ohne Corona, Ukraine-Krieg und sonstige persönliche Belastungen der Menschen ist das Interesse am Zensus gering. Den Menschen ist meistens nicht klar, was sich dahinter verbirgt, dass die Datenzusammenziehungen und -verarbeitungen bereits Jahre vor dem Stichtag angelaufen sind, und es fehlen griffige Konzepte, sich gegen die Volkszählung zu wehren. Da haben die staatlichen Stellen aus den Boykottwellen 1983 und 1987 viel gelernt und zahlreiche Gelegenheiten möglichen Widerstands gesetzestechnisch geschlossen. Die Sensibilität für die große verfassungsrechtliche Bedeutung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung hat unter den Hype der Anti-Social Media sehr gelitten. Manchmal macht sich die fatale Einstellung breit, dass bezüglich der Hoheit über die eigenen Daten eh alles verloren sei. Das ist aber falsch und kurzsichtig.

Nicht zuletzt – das ist wichtig – haben es die Verantwortlichen zum Zensus, seien es Parteipolitiker:innen der Parlamente, seien es Vertreter:innen und Leitende der Ämter der Behörden, gut hinbekommen, das Thema Zensus bis kurz vorm Stichtag kleinzuhalten. Eine ernsthafte und sachbetonte, nüchterne Diskussion um Sinn und Verhältnismäßigkeit der Volkszählung konnte so gar nicht entstehen und wurde durch Schweigen und Aussitzen quasi im Keim erstickt.

Rechnet ihr noch damit, dass sich noch Protest entwickelt?

Schwer zu sagen. Vermutlich nicht oder in nicht sehr bedeutsamen Umfang. Aber das ist in diesen Zeiten gar nicht vorhersehbar. Bedrückend wird es dann, wenn der Protest mit hanebüchenen und unsinnigen „Argumenten“ daherkommt. Dabei gibt es gute und zahlreiche Gründe, mit der 1,5 Milliarden Euro teuren Volkszählung nicht einverstanden zu sein.

Vielen Dank!

Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion. Schnupperabos zum Kennenlernen der Druckausgabe gibt es hier.